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m
Russische Literaturgeschichte
I
Russische
Literaturgeschichte
Von
Dr. Ernst Friedrichs
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha 1921
V
Copyright 192 1 by Friedrich Andreas Perthes A.-G» Gotha
Alle Rechte, einschließlich des Über^etzungsrechtes , yorbehalten'
Russische Literaturgeschichte
YI Vorwort
diese oder jene Anregung empfangen hat , und so führt der Weg
ganz von selbst weiter in andere Länder, zu andern Völkern. Da ge-
nügt dann aber nicht mehr ein allgemeiner Hinweis mit allgemeinen
Redensarten auf das andere Land, sondern man muß wirklich tiefer
in die Werkstatt, in die Arbeitsstube des Dichters eindringen. Das
Interesse hierfür wird sich speziell in unserem Fall noch steigern,
wenn man sieht, welchen außerordentlichen Einfluß gerade
die deutsche Literatur auf die russische ausgeübt hat.
Es hat Zeiten in Rußland gegeben, wo die russische Literatur
direkt ein Ausfluß der deutschen gewesen ist, wo rus-
sisches Wissen und russische Kunst deutsches Wissen
und deutsche Kunst waren. Man liest so viel vom französischen
und englischen Einfluß auf die russische Literatur und so wenig vom
deutschen. Der deutsche ist aber nicht allein weit mächtiger als
diese beiden gewesen, sondern der englische und der französische
Einfluß sind häufiger nur durch die Vermittlung des deutschen erst
in die russische Literatur hineingetragen worden. Natürlich je höher
sich eine Kunst entwickelt, desto mehr enträt sie der Anlehnung.
So verflüchtigt sich von Puschkin ab das fremde Fluidum nach und
nach, und die neueste Zeit kennt besonders die deutsche Einwirkung
überhaupt nicht mehr.
Ich möchte eine korrekte Aussprache der Namen auch dem
die russische Sprache nicht Beherrschenden ermöglichen. Dazu scheint
mir die in sprachwissenschaftlichen Büchern geltende Transkription
nicht passend; für die große Mehrzahl erhöht sie eher noch die
Schwierigkeiten. Ich wähle deshalb die gerade heute allen liegende
Orthographie unserer Tagespresse, muß aber auch dabei noch auf
einiges hinweisen: „sh" vertritt den Zischlaut in „Genie". — An-
statt „ss" schreibe ich (des Aussehens halber) nur „s" zwischen
zwei Konsonanten und vor „t" und „k", da die Aussprache hier
von selber scharf genug wird. — Für „w" setze ich am Ende eines
Wortes „ v", um die bei uns beliebte Aussprache „Lützo" (= Lützow)
zu vermeiden. — Das russische jotierte „e" gebe ich nicht überall
durch „je" wieder, nicht nach „1", da unser „1" schon reichlich
weich ist, ebenso nicht nach „g" und „r". — Um die betonte
Silbe richtig zu treflen, ist sie im Namenverzeichnis akzentuiert.
Berlin, November 1920.
Inhalt
Seite
I. Kapitel: Die ältesten DenkmiUer bis zum Einfall der Tataren i
. 2. ,, Unter dem Mongolenjoch 12
3. „ Die vorpetrinische Zeit 14
4. „ Peter der Große 18
5. „ Die Anfänge des rassischen Theaters und des rassischen Dramas . 21
6. „ , Wissenschaft und Kunst unter Peters Nachfolgern. — Lomonossov 26
7. „ Katharina II. — Petersburg und Moskau 32
8. „ Die französische und die deutsche Richtung. — Die Freimaurerei. —
Djershawin 34
9. „ Karamsin 44
10. „ Der russische Roman. — Die Karamsinisten 48
11. yy Die Romantik. — Shukowskij 53
12. . yy Der romantische Realismus 59
13. ,, Alexander Ssergejewitsch Puschkin 60
14' » Michael Jurgewitsch Lermontov 65
15. „ Um Puschkin herum 70
16. yy . Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — Die Slawophileo 74
17. ,, Der realistische (naturalistische) Roman. — Turgenjev. — Gontscharov 81
18. „ ^ic „ Anklageliteratur ", ihre Ausströmungen und Gegenströmungen . —
Die Narodniki S6
19. „ Dostojewski] 109
20. „ Leo Tolstoj III
21. „ Der Pessimismus der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts . . 116
22. „ Die Gegenwart: Pessimismus. — Symbolismus. — Erotik. —
Futurismus. — Realismus (27
Anhang: Anmerkungen 138
Verzeichnis der literarischen Persönlichkeiten 149
\
Erstes Kapitel
Die ältesten Denkmäler bis zum Einfall der Tataren
§ 1 I Die Slawen, die ältesten Bewohner des östlichen Europas (im
Altertum Skythen und Sarmaten), nahmen den weiten Raum von der Oka
bis zur Elbe, von der Donau bis zur Ostsee ein und teilten sich in viele
Stämme, von denen die bedeutendsten sind: die Poljänen am mittleren
Lauf des Dnjepr, die Kriwitschen an der Mündung der Wolga, die Now-
gorodzer an den Ufern des Ilmensees.
Die Slawen gehören, wie wir, zur indogermanischen Sprachenfamilie.
Vor Annahme des Christentums war ihre Religion, wie bei uns, Natur-
verehrung. Ihre Hauptgötter waren Pjerun, der Gott des Donners, des
Blitzes und des Kriegs, Dashbog, der Sonnengott, Woloss, der Schützer
der Herden. Ihren Göttern brachten sie Tiere, auch Menschen zu Opfern.
Sie waren starke, kräftige Leute, gastfreundlich, sanftmütig, im Norden
blondhaarig, im Süden dunkel.
Im 9. Jahrhundert gaben die Slawen das Nomadenleben auf und be-
schäftigten sich mit Ackerbau und Viehzucht. Die ersten Städte waren
Nowgorod, Pskov, Polozk, Ssmolensk, Kijev. Öie rieben sich jedoch in
inneren Zwistigkeiten auf und wurden so leicht eine Beute kriegerischer
Nachbarn, besonders der Chasaren und der Normannen. Die Chasaren,
türkischen Stammes, bedrängten sie von Süden und nahmen von ihnen
Tribut; sie herrschten in Kijev. Die Normannen, die Bewohner von
Skandinavien (Waräger), bedrängten sie von Norden.
Durch die inneren Kämpfe erschöpft, kamen mehrere verbündete
slawische Stämme im Norden zu der Überzeugung, daß nur eine starke,
einheitliche Macht sie vor dem Elend der Gesetzlosigkeit retten könnte,
und erbaten deshalb bei einem befreundeten normannischen Stamme
Rus (Rus ist die finnische Bezeichnung der Schweden) einen Fürsten.
So geht die Sage ; in Wirklichkeit haben sich die Waräger kaum bitten
und nötigen lassen; sie werden wohl von selber gekommen sein. Jeden-
falls zog im Jahre 862 Rurik, begleitet von zwei Brüdern und seinem
ganzen Stamm, in das slawische Land ein und setzte sich in Ladoga,
Nowgorod, Pskov, Polozk, Rostov, Bjelosjersk fest. Dieses Land empfing.
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte I
Erstes Kapitel
den Namen Rufiland. Die Hauptstadt war Nowgorod. Rurik nahm
den Titel GrofifÜrst an.
Rurik und seine Nachfolger dehnten die Grenzen des neuen Reiches
weit aus, von den Ufern des ümensees bis zu den Stromschnellen des
Dnjepr, bis zu den Quellen der Weichsel und zum westlichen Bug, bis
zur Mündung der Oka und den Quellen des Chopjer. Alle slawischen
und zum Teil auch finnischen Stämme erkannten die unumschränkte
Herrschaft von Ruriks Haus an und traten in den Verband Rußlands,
dessen Hauptstadt jetzt Kijev wurde. Oleg, ein Verwandter Ruriks und
Vormund seines Sohnes Igor, belagerte sogar Zargrad (Konstantinopel).
Der Urenkel Ruriks war Wladimir, der heilige Wladfmir. Im
Anfang seiner Regierung führte er nach dem Beispiel seiner Vorgänger
Kriege ; er unterwarf das jetzige Galizien und einen Teil von Litauen und
Livland. Das Hauptverdienst Wladimirs war jedoch die Einführung des
christlichen Glaubens in Rußland. Im Jahre 988 nahm er den christ-
lichen Glauben der orientalisch-orthodoxen-katholischen
(griechischen) Kirche an.
Mit dieser Zeit kamen auch die ersten Anfänge einer Literatur.
Mit dem christlichen Glauben erhielt Rußland die Bibel in der
Übersetzung der Brüder Kyrill und Methodius, und auf ihr bauen
sich bald andere religiöse Werke auf. Neben dieser Kunst-
literatur läuft aber, mit ihren Anschauungen oft in die heidnische Zeit
zurückreichend, viel, viel reichhaltiger und innerlich schöner, weil spezieU
russisch, eine Volksdichtung, die, wenn man sie auch erst im Anfang
des 19. Jahrhunderts zu sammeln begonnen hat, doch deutlich auf jene
Zeit zurückzuftihren ist.
Natürlich ist alles nach und nach entstanden. Denn auf die russi-
schen Fürsten hatte das Christentum zunächst nur sehr geringen Einfluß.
Nach dem Tode des heiligen Wladimir (f 10 15) brachen, genährt durch
die Thronfolge „bestimmuDg", nach der jeder Sohn einen gleichen An-
teil am väterlichen Reich hatte — und Wladimir hatte acht Söhne — ,
zwischen diesen Teilfürsten die schlimmsten, blutigsten Kämpfe aus,
welche feindliche Völker wie die Polowzer, am nördlichen Ufer des
Schwarzen Meeres, oder die Petschenegen, gleichfalls am Schwarzen Meer,
die Litauer, die Polen, die Griechen zu Raubzügen ausnützten. Aber nach
und nach ebnen sich auch diese Fluten. Man gründete Städte, Kirchen,
Klöster, Schulen, und wir sehen unter Jarosslav dem Weisen (Mitte des
II. Jahrhunderts) zwei der großartigsten Bauwerke entstehen: die Sophien-
kathedrale in Kijev, ein herrliches Denkmal byzantinischer Kunst, noch
heute erhalten, und ebenso noch heute erhalten das vornehmste KJoster
Rußlands, das „Höhlenkloster" in Kijev. Man sagt kaum zuviel, wenn
man die zweite Hälfte des 1 1 . Jahrhunderts und das 1 2 . Jahrhundert eine
Blütezeit in der russischen Entwicklung nennt, auch auf literarischem Gebiet..
I
. j
Die ältesten Denkmäler bis zum Einfall der Tataren
a) Volksdichtung
§ 2 I In jedem Volk entwickelt sich zuerst die Lyrik i). Solche
Lieder sind zunächst rituelle, an religiöse Gebräuche anknüpfend. Es
erinnert ein Teil dieser russischen Lieder noch direkt ah die heidnische
Zeit, an ihre großen Feste, an die ja nachher in kluger Weise die christ-
liche Kirche angeknüpft hat. Für den ersten Kulturmenschen, den Acker-
bauer, ist die Sonne das gütigste Wesen. Der Russe hat daher, genau
wie unsere Vorfahren, die Sonnenwenden gefeiert, durch Tänze und durch
Gesänge. Noch heute werden zur Sommer- wie zur Wintersonnenwende
in den Dörfern der Ukraine und in Weißrußland auf den Feldern Holz-
haufen angezündet; um sie herum wird getanzt und gesungen; die jungen
Burschen und Mädchen springen durch das Feuer hindurch, um sich vor
Krankheit zu bewahren. In der Nacht des Sommersonnenwendtags ver-
sammeln sich nach dem Volksglauben die Hexen; da blüht auch der
Farn, und seine Blüte hat die Zauberkraft, verborgene Schätze in der
Erde zu zeigen.
Andere Lieder besingen den Jegor-Tag (23. April), der noch jetzt vom
Volke außerordentlich gefeiert wird. Der heilige Jegor-Jurij ist der heilige
Georg. Seine Rolle war ^ vordem auch bei den höchsten Kreisen sehr
groß, hat doch das Großfürstentum Moskau, das spätere russische Kaiser-
reich, ihn in den Herzschild seines Wappens aufgenommen. An diesem
Tag erschließt Jurij die Erde, gießt den Tau nieder und pflanzt die
Gräser und das Korn. Er hat auch Macht über das Vieh. Deshalb
fuhrt man am 23. April das Vieh zum erstenmal auf die Weide und ruft
Jegor um Schutz an ; der Wolf kann ihm ohne Jegors Willen nichts tun.
Ein anderer Feiertag ist der Ssjemik, der 7. (ceMt) Donnerstag nach
Ostern. Die Jugend zieht in die VVälder und Haine an den Fluß, und
da beginnt das „ Kränzeraten *' : wessen Kranz am schnellsten fortschwimmt,
der heiratet zuerst; wessen Kranz untergeht, der heiratet nicht oder stirbt
wohl gar. Der Ssjemik gehört auch den Russalki (bis ins 12. Jahrhundert
hieß die ganze Festwoche Russalnja). Die Russalki sind im Süden unsere
lustigen, mutwilligen Wassernymphen ; im Norden und Osten dagegen ge-
hören sie zur Zahl der bösen Kobolde; in Kleinrußland sind sie auch
die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder.
Auch an wichtige menschliche Einrichtungen knüpfen die Gesänge
an. Die wichtigste ist die Ehe. Die Lieder sind nun recht charakteristisch
für die Entwicklungsstufen der Ehe. In der ältesten Zeit, wo jeder
kleinere Kreis für sich abgeschlossen lebte und jeder dem andern nur
als Feind gegenüberstand, klagt das junge Mädchen, man solle es
vor den „Räubern", d. h. dem Nachbarstamm, schützen. Dann ver-
wischen sich diese Schranken, und nun klagt sie, man solle sie nur nicht
zu billig verkaufen, und erst nachher kommt die freie{re) Wahl.
A Entei Kapitel
§ 3 I Eiaen Schritt weiter in der Entwicklung eines Volkes bedeutet
das Epos, bei den Russen die ByUaeo. Die nissischen Bylinen
erzählen Tom Vergangenen ((tbiJio = es war), natürlich vom ver-
gangenen Großen, Hervorragenden. Freilich ist da ein Unterschied
zwischen dem deutschen Heldenepos, den französischen chansona de
geste, der englischen Rttterpoesle einerseits und andrerseits den russischen
Bylinen der älteren Zeit Zwar hat auch in unsera Gedichten der Held eine
ganz auSergewöhnliche Körperkraft und Gewandtheit, aber er stellt sie in
den Dienst des Ideals, er kämpft für Recht, Tugend, Schönheit. In den
rufisischen Bylinen, den älteren, ist von sittlichen Ideen, von Ritterlich-
keit keine Spur.
Der Hauptheld der älteren Bylineii*) ist Sswjatogor. Er ist von
Riesenwuchs und hat eine solche Kraft, daS ihn die Erde kaum tragen
kaim. — Neben ihm steht Wolga Sswjatosslawitsch. Auch seine Stärke
ist auSerordentlich ; als der Knabe erst li Stunden alt ist, bittet er
schon, ihn nicht mehr in Windeln zu wickeln, sondern in einen festen
Stahlpanzer und ihm einen Stab von 300 Pud Gewicht in die Hand zu
geben. (Der „Stab" entspricht unserm Szepter, ist also ein Zeichen der
Würde — I Pud =: 40 Pfimd.) Jedoch neben dieser Stärke tritt jeUt
ein anderer Zug hervor, mit dem diese Byhne in ihrer Weltanschauung
um einen Schritt über Sswjatogor hinausgeht: Wolga ist auch schlau.
Schlau ist er, weil von der Schlange geboren. Mit seiner Schlauheit
besiegt er den türkischen Zaren, tätet ihn, heiratet seine Frau und wird
in dessen Land selber Zar. Da er von einem Tier abstammt, kann er
sieb selber in ein Tier, in einen Fisch, einen Falken, einen Wolf ver-
wandeln, je nachdem es seine Schlauheit erfordert. Er ist abo unser
Werwolf, der übrigens durch die ganze indogermanische Sagenwelt geht.
Diese Byline führt uns auch wohl insofern einen Schritt weiter, als
man in dem Zuge gegen den fremden Zaren Anklänge an die wirkliche
Geschichte sehen kaim, an Olegs Zug nach Zargrad.
Wiederum einen Schritt weiter geht die Byline in Mikula Sseljani-
wowitsch. Auch er ist ungeheuer stark, aber die Kultur leuchtet hmein.
Er ist der Sohn eines Ackerbauers, er selber ist Ackerbauer, er liebt die
Mutter Erde.
Von diesen älteren Bylinen unterscheiden sich die jüngeren
j — cl.o-. ..jj(J ^pj Form nach. Wie die Weltanschauung der älteren
so ist auch ihre Sprache, ihr Versbau einfacher, elemen-
ze sind ohne Partikel straff aneinander gereiht. Den Reim
ins weder die älteren noch die jüngeren. Den Wendepunkt
n das Christentum und damit verbunden die sittlichen Eigen-
Handelnden.
t die jüngeren Bylinen gewöhnlich in den Wladimir-
in den Nowgorod-Zyklus. Der erste spielt also im Süden,
Die ältesten Deokmäler bis sam Einfall der Tataren
5
wo Wladimir herrscht, der letztere im Norden, wo die Republik Groß-
Nowgorod die gebietende Macht war.
Wladimir selbst spielt keine führende Rolle; diese haben nur seine
„Paladine*', die er nach seiner Hauptstadt Kijev ruft, damit sie von dort aus
Befehle empfangen, um dem Vaterlande zu dienen. Die „Brüderschar'' kehrt
dann nach vollbrachter Tat zurück und empfängt nun aus seinen Händen
den „grünen Wein". Es liegt also bedeutende Ähnlichkeit mit Artus
und seiner Tafelrunde vor. Wir treten in diesem Zyklus auf geschicht-
lichen Boden, nicht allein durch Wladimir, sondern durch die noch heute
im Volke so beliebte Figur des Ilja Muromjez^), d. h. Ilja aus Murom
(zwischen Wladimir und Nishnij Nowgorod gelegen). Dja ist Ackerbauer,
und als solcher sorgt er für Ordnung auf der heimatlichen Scholle; er
ist aber auch Kasakenataman, und als solcher kämpft er gegen die zahl-
reichen Steppenfeinde des heimatlichen Bodens, gegen die räuberischen
Tataren ; er ist auch Christ, und als solcher kämpft er gegen die Heiden
für die christliche Kirche, für den christlichen Glauben, für den Glauben,
der vor allem Schutz der Armen, der Witwen und Waisen will. Da ist
also eigentlich schon „der Ritter" vorhanden. Weniger christlich, dafür
desto russischer ist, daß ihm die Kräfte beim Trinken kommen. Mit
diesen Kräften fangt und tötet er den Drachen Ssolowjej, der durch sein
furchtbares Pfeifen und Zischen alle Menschen betäubt, dann andere Un-
geheuer, ferner den Heiden Idolischtsche , endlich befreit er Kijev vom
Zaren Kaiin.
Zum Wladimir- Zyklus gehört auch der aus Rjäsan aus fürstlichem
Geschlecht stammende ehrlich-tapfere Dobrynja, der einen Feuerdrachen
tötet und Ilja im Kampfe hilft, im Gegensatz zu einer dritten Hauptperson
dieses Zyklus, dem Aljoscha Popowitsch, der zwar auch sehr kühn und
tapfer ist, aber „neidische Augen und raffende Hände" hat. Bedenkt
man, daß Popowitsch der Sohn eines Popen bedeutet, so stimmt das
nachdenklich.
. Wie sehr den Dichtem daran lag, Iljas Kraft als ganz außerordent-
lich hinzustellen, zeigt sehr hübsch eine Byline, die Ilja mit Sswjatogor
zusammenbringt: Einstmals zog Sswjatogor mit Ilja Muromjez über das
Blachfeld, und sie stießen auf eine große Gruft, auf der eine Aufschrift
geschrieben war: „Wem bestimmt ist in der Gruft zu liegen, der wird
sich auch hineinlegen." Es legte sich zuerst Ilja hinein, die Gruft paßt
nicht für ihn ; es legte sich Sswajatogor hinein, die Gruft war wie eigens
für ihn gemacht. Sswjatogor bat Ilja die Gruft mit einem Deckel zu
schließen, aber Ilja weigerte sich. Da deckte sich Sswjatogor selber zu.
Aber als er sich zugedeckt hatte, konnte er den Deckel nicht mehr
heben. Er bat Ilja, mit dem Schwerte auf den Deckel zu schlagen.
Ilja schlug querüber den Deckel, da wuchs ein eisernes Band über ihn
hin; und er schlug längs, und ein zweites Band wuchs darüber. N*
Erstes Kapitel
verstand Sswjatogor, dafi für ihn die Zeit gekommen war zu sterben. Er
bat Bja sich zum Grabe herabzubeugen und gab ihm einen Teil seiner
Heldenkraft; er selber entschlief.
Andere Helden des Wladimir-Zyklus sind weniger charakteristisch.
Ein hiervon verschiedenes Bild bietet der Nowgoroder-Zyklus.
Nowgorod ist die große, mächtige, reiche Handelsstadt, die ihre Schifife
weithin in das Ostmeer sendet und sie von fernen Landen unermeßliche
Reichtümer hereinbringen läßt. Zu solchen Seefahrten gehört Mut, Kühn-
heit, Unternehmungslust. Zwei Personen treten da hervor: „Ssadko, der
"teiche Handelsherr", ein solch kühner Seefahrer, und aus den ihn um-
gebenden Scharen „Wasska Busslajew". Diese Scharen müssen natür-
lich auf der See außerordentlich wagmutig und tollkühn sein; das Toll-
kühne bringen sie aber auch nach Hause zurück, und in diesem Gefühl
setzen sie sich hier über jede Ordnung, jedes Recht, jeden Zwang hin-
weg. So ist denn Nowgorod selber der Mittelpunkt wilder, blutiger Un-
ruhen , in denen sich besonders Wasska Busslajew hervortut : er hätte,
wenn ihn die Mutter unter Flehen nicht davon abgehalten, 5000 Now-
goroder Bauern auf einmal getötet; er kann, als er ins Heilige Land zur
heiligen Stätte zieht, sein tolles Wesen selbst hier nicht lassen und büßt
dann seinen Frevelmut mit dem Tode.
Später liegt, dem 12. Jahrhundert angehörend und zugleich das
wichtigste Denkmal des 12. Jahrhunderts, ein Helden-
epos in unserem Sinne, „Das Lied vom Heereszug Igors
gegen die Polowzer"*). Der geschichtliche Vorgang, der in das Jahr
II 85 fallt, ist an und flir sich unbedeutend: der Nowgoroder Fürsten-
sohn Igor kommt den Städten Kijev und Tschernigov gegen die räube-
rischen Polowzer zu Hilfe. Im Anfang glücklich, gerät er nachdem in
Gefangenschaft. Schließlich kann er entfliehen, während sein gleichfalls
gefangener Waflengefahrte Wladimir die Tochter des Polowzerchans heiratet
tmd dann nach Hause zurückkehrt. Das Gedicht überragt die vorher-
gehenden Bylinen bei weitem: einmal durch den wirklich historischen
Untergrund, dann durch die ganze Auffassung seines Dichters, durch den
Ausdruck der tiefen Gefühle und Gedanken über die traurige Lage der
russischen Heimat — traurig, weil sich die Häupter gegenseitig zer-
fleischen — , und durch den Ausdruck der Erinnerung an die erhabenen
Taten der Vorfahren. Dazu gibt der Dichter herrliche Landschaftsbilder. Wer
er selber ist? Wahrscheinlich ein Teilnehmer am Zuge, jedenfalls ein vor-
nehmer, gebildeter Mann, vielleicht ein Sänger, wie sie damals am Kijewer
Hof häufiger waren. Das Lied selber nimmt Bezug auf einen solchen
Sänger, namens Bojan, der im 11. Jahrhundert gelebt und Jarosslav ver-
herrlicht hat. Es hebt aber ausdrücklich hervor, daß es nicht wie die
früheren Bylinen und wie jener Bojan „ Erdachtes " bringt , sondern wirk-
liche Geschichte. Der Dichter versichert uns, daß er von jener alten
Die ältesten Deakmäier bis zom Einfall der Tataren
Art nichts wissen will. Und doch sind gerade die Stellen, wo er ihr
folgt, die schönsten, d. h. da, wo er das mythologische Element ver-
wendet: „Auf der Spitze des Baumes sitzt der böse Div*' und ;,die
(Walküren-) Jungfrau streift mit den Schwanflügeln über das blaue Meer."
NatürUch ist bei allet Geschichte die Phantasie das Überwiegende —
rein historische Lieder kommen erst nach der Tatarenzeit.
§ 4 I Von den Bylinen sind die Märchen^) zu unterscheiden.
Märchenhaftes haben ja auch die Bylinen ; aber diese haben einen Ort der
Handlung und haben handelnde Personen, wenn auch märchenhafte Wun-
der vollbringende. Das Märchen ist aber nur Phantasie, jenseits von
Raum und Zeit. Auch äußerlich tmterscheiden sich beide: die Byline hat
die gebundene Form des Verses, das Märchen die freiere, prosaische Form.
Handelnde Personen sind die Sonne, der Mond, der Donner, der
Wind oder Phantasiewesen : der Zar vom Meer, der Waldgott, die zwölf-
köpfige Schlange, der unsterbliche Zauberer Koschtschej, die böse Hexe
Baba-Jaga. Diese sehen die Zukunft voraus, helfen oder schaden durch
irgendein Naturwunder dem Helden, und der Held sucht etwas Phan-
tastisches: das goMene Borstenschweinchen , den Wundervogel, dessen
Federn wie Feuer funkeln, den Hirsch mit dem goldenen Hom, das
lebende und das tote Wasser. Hierher gehören z. B. die Märchen von
„der Sonne und dem Wind", von „der Hexe und der Sonnenschwester",
vom „versteinerten Reich".
Im Gegensatz zu solchen überirdischen Mächten erzählen die „Volks-
märchen" von Menschen, immer aber unter dem Gesichtswinkel des
Wunderbaren. Da sind drei Brüder, von denen der jüngste von den
beiden bösen älteren schlecht behandelt wird. Er hat einmal einen Hecht
gefangen und ihn freigelassen. Dafür verleiht ihm dieser prophetische
Gabe und allerlei Kräfte: sein Eimer geht von selber zu Wasser, sein
Beil haut von selber Holz, sein Schlitten fahrt von selber in den Hof;
in einer einzigen Nacht erbaut er sich ein prächtiges Schloß und führt als
Gattin eine Zarentochter heim. Einem andern hilft anstatt des Hechtes
ein Wunderpferd. Oder es sind drei Schwestern, die älteren wieder böse,
die jüngste gut. Die bösen planen ihren Tod, fallen aber selber in die
für die jüngste gegrabene Grube. Oder die böse Stiefmutter schickt die
Stieftochter zur Baba-Jaga, damit diese sie bräf imd auffrißt, was natür-
lich nicht geschieht. Solche Märchen sind „der Königssohn Iwan",
„der leuchtende Vogel". Ob in allen diesen Gestalten die Dichtung
Naturkräfte verkörpert hat : in der Baba-Jaga den Wintersturm mit seiner
alles ertötenden Macht, im Königssohn Iwan den hellen, segenspenden-
den Sonnenstrahl, der des Winters Macht bricht, ist recht fraglich.
In anderen Märchen bilden Tote die übernatürlichen Elemente.
Die „Tiermärchen". Wie der Urmensch der Natur näher stand,
so war auch sein Verhältnis zu den Tieren anders als heute: er stellte
g Erstes Kapitel
sich ihnen gleich, er betete sie sogar an, je nach dem Grade ihrer Ge-
fährlichkeit. Das ist eine Erscheinung bei allen Völkern. Während aber
die Tiersage bei andern Völkern frühzeitig Literatureigentum wird und
dadurch einen didaktisch-allegorischen Charakter annimmt — vgl. den fran-
zösischen roman du renart y den deutschen „Reineke Vos*' — , bleibt sie
bei den Russen Volksbesitz und ohne diesen Einschlag. Die Literatur
hat sich in Rußland erst im 17. Jahrhundert an sie gewagt. Die Haupt-
rollen im russischen Tiermärchen spielen der Fuchs, der Wolf, der Bär,
die Katze, der Hahn. Hübsch sind die durch Gleichklang entstandenen
Namen: der Fuchs heifit Lisaweta Iwanowna (Fuchs = jHoa), der Bär
Michail (= Me^Bs^^L), der Hahn Pjetka (= n^BTyxt).
§ 5 I Auch der Sprichwörter muß wohl gedacht werden, hat doch
in Rußland das Sprichwort eine so große, ausgedehnte Bedeutung. Manches
weist seinem Ursprung nach auf jene frühe Zeit zurück: „Wen Gott naß
macht, den trocknet er auch wieder." Gott ist hier der Regen, die Sonne.
Ebenso wohl „die Sonne arbeitet am Tag, sie ruht in der Nacht." Nestor
kennt schon Sprichwörter; noch mehr kommen dann in der Tatarenzeit.
b) Kunstliteratur
§ 6 I Sit nimmt ihren Anfang mit der Bibel. Die russische Bibel
ist in mancherlei Hinsicht eigentümlich. Die beiden griechischen Mönche
Kyrill und Methodius^), zwei Brüder aus Saloniki, hatten um 855 die
griechische Bibel für die Mähren übersetzt. Saloniki Hegt nicht fem von
Bulgarien, die beiden Griechenbrüder beherrschten demgemäß von den
slawischen Dialekten am besten das Bulgarische. Sie übertrugen daher
die Bibel ins Bulgarische, untermischt mit dem der bulgarischen Sprache
nahestehenden Südrussisch. Die Mähren wollten nicht viel von der Bibel
wissen ; natürlicher war es, daß sie den Bulgaren gefiel. Und von diesen
nahmen nun 100 Jahre später nach Einführung des Christentums' die
Russen diese Übersetzung. Die Sprache der russischen Bibel und über-
haupt der für den Gottesdienst verfaßten liturgischen Bücher ist also nicht
russisch, sondern altbulgarisch (kirchenslawisch)^; und diese
Sprache ist nicht allein die Sprache der rechtgläubigen Kirche
bis heute geblieben, sondern sie hat auch einen äußerst bedeuten-
den Einfluß auf die russische Sprache überhaupt und auf
die russische Literatur, auch auf die Volksliteratur, ausgeübt.
Die Russen nahmen auch gutwillig die verzwickte Schrift der beiden
Griechen an, die diese, schon aus Haß gegen Rom, nicht auf lateinischen
Lettern, sondern auf griechischen aufgebaut hatten. Für die vielen Laute
des Slawischen mußten sie noch Entlehnungen aus dem Hebräischen,
Koptischen und Armenischen machen. Die Schrift mutet uns noch heute
sonderbar genug an; sie ist aber schon durch Peter den Großen mit
Anlehnung ans Lateinische modernisiert worden. Kyrill und Methodius
Die ältesten Denkmäler bis £um Einfall der Tataren
hat man zum Dank unter die Heiligen versetzt; ihr Gedächtnistag ist der
II. Mai. (Neben diesem kyrillischen Alphabet gibt es noch die Glagolitika,
d. i. die bei den dalmatinischen Slawen gebräuchliche Schrift des Mönches
Hieronymus — 13. Jahrhundert — , die er zur Niederschrift der hei-
ligen Pücher verwendete; sie ist durch die kyrillische ^) verdrängt worden.)
Mit der bulgarischen Bibel kamen auch bulgarische Gelehrte ins
Land, die in den Klöstern Lehrer der Russen wurden. Sie lehrten nach
ihren religiösen Büchern, Übersetzungen aus dem Griechischen. Daher
der kolossale Einfluß der (bulgarisch) griechischen Bildung,
der byzantinischen, in Rußland, der ungebrochen bis zum Fall
von Byzanz (1453) ^^^ darüber hinaus bis ins 16. Jahrhundert dauerte.
Erst da wurde er von dem (polnisch) römischen abgelöst.
Die Bibelübersetzung der beiden Griechen ist nun freilich verloren
gegangen, und daher haben wir ein Urteil über sie nur durch die der
Zeit nach nächsten Kopieen z. B. durch das Osstromir-Evangelium.
Zu den ältesten Denkmälern dieser bulgarischen Schriftsprache
zählen hauptsächlich, aus dem 11. Jahrhundert:
i) Das eben genannte Osstro mir- Evangelium^), zwischen 1056
und 105 7 vom Diakonus Gregor für den Nowgoroder Statthalter Osstromir
angefertigt und zwar nach Wochen imd Tagen in Abschnitte geteilt, wie
sie in den Kirchen gelesen wurden.
2) Die beiden Isborniki^) des Diakons Johann; der erste 1023,
der zweite 1076 für den Großfürsten Sswjatosslaw Jarosslawitsch aus dem
„Isbomik" abgeschrieben, der für den bulgarischen Zaren Simeon (9. bis
10. Jahrhundert) aus dem Griechischen übersetzt war. Der erste
Isbomik (d. h. Sammelwerk) enthält nicht bloß geistliche, aus den
Kirchenvätern entnommene Aufsätze,, sondern auch historische, philo-
sophische und sogar rhetorische Betrachtungen. Der zweite Isbornik ist
hauptsächlich religiös-moralischen Inhalts.
3) Die Ssuprassl-Handschrift^®) (in Ssuprassl bei Bjelosstok ge-
funden). Sie enthält die Lebensbeschreibungen von Heiligen, Worte des
Heiligen Slatousst u. a.
4) Der später gefundene Tschudov-Psalter^^) mit Kommentar
des Theodoritos von Kyrrhos.
Es sind auch sonst, aber späteren Datums, viele Übersetzungen aus
dem Bulgarischen, ebenso aus dem Serbischen — Serbien hatte wie Bul-
garien vor den Russen das Christentum von Byzanz angenommen —
nach Rußland übergegangen, meist selber Übersetzungen aus dem Griechi-
schen, aber auch einige Originale. - Voran immer gottesdienstliche Bücher,
dann „Sammelwerke" z. B.
die „Bienen", welche einsammeln aus den Kirchenvätern ^*), auch
aus heidnischen Autoren und Auslegungen bringen über Tugenden und
Fehler, über Armut und Reichtum usw. Femer eine große Menge
JO Erstes Kapitel
sog. Apokryphen ^^), die sich um Salomo, um die Mutter Gottes
gruppieren. Einige geben uns einen hübschen Blick in die Gedanken-
welt. Z. B. im „Gang der Mutter Gottes zu den Qualen" werden uns
die^Qualen der in der Hölle Gepeinigten geschildert, und wer sind diese?
„ Die welche nicht an Pfingsten glauben, welche Götzenbilder anbeten, welche
die Sonne, Mond, den Pjerun für Götter halten, die, welche zu faul sind, um
zur Frühmesse zu gehen, Diebe, Verleumder und die, welche — zu hohe
Prozente nehmen." In den Apokryphen um Salomo spielt die Königin
von Saba eine Rolle. Sie will die Klugheit Salomos prüfen und führt
ihm Knaben und Mädchen in gleicher Kleidung entgegen; Salomo soll
nun erkennen , wer ein Knabe, wer ein Mädchen ist. Da wirft er ihnen
Nüsse hin, und die Knaben stecken sie in die Rockschöße, die Mädchen
in die Ärmel. Das „Gespräch der drei Heiligen" (gemeint sind die
Heiligen : der große Wassilij, Gregor Bogosslowo und Johann Slatousst) ist
ein Rätselraten: Welche Mutter verzehrt ihre Kinder? Das Meer, denn
es nimmt die Flüsse in sich auf. — Es gibt eine Eiche ohne Wurzeln und
Zweige; zu ihr geht einer ohne Füße, faßt sie an ohne Hände, schneidet
sie ohne Messer, ißt sie ohne Zähne. Was ist das für eine Eiche? Der
Mensch, zu ihm kommt der Tod und schneidet ohne Messer.
Das hat bereits einen recht weltlichen Anstrich. Es gibt auch
schon rein weltliche Sagen, die Byzanz selber sich gleichfalls erst geholt hat,
so die Sage vom trojanischen Krieg, von Alexander dem Großen, von
Barlaam und Josaphat, also dieselben Stoffe, die wir und die übrigen
europäischen Literaturen gern in jener Zeit behandeln. Auch eine Menge
von Chroniken taucht auf.
§ 7 / Neben dieser Literatur in bulgarischer Sprache zeigt das
I I. Jahrhundert aber auch eine Literatur in russischer Sprache.
Es muß hier gleich darauf hingewiesen werden, daß, so groß Rußland
ist und so groß auch sonst die Unterschiede zwischen Großrußland,
Kleinrußland und Weißrußland sind, doch die Schriftsprache, wie
bei uns, für alle ein und dieselbe war und geblieben ist. Diese
Kunstliteratur (die Volkspoesie reicht, wie wir schon gesehen, noch weiter
zurück) ist natürlich vorwiegend wieder kirchlich und kommt von dem
Sitz der damaligen Gelehrsamkeit, aus Kijev. Hierher gehören:
i) Zwei Predigten des Abtes Theodosius vom Kijewer Höhlen-
kloster: die eine spricht von den Strafen Gottes, vom Hunger, von Regen-
losigkeit, von den Überfallen durch die Steppen „barbaren" wegen be-
gangener Sünden, zu denen neben Diebstahl und Trunkenheit auch der
Aberglauben zählt, z. B. der, welcher sich mit dem Niesen verbindet; die
andere bespricht die Schattenseiten des klösterlichen Lebens.
2) Mehrere Schriften (Predigt, Lehren) des Kijewer Metropoliten
Hilarion ^*) u. a. über „ das durch Moses gegebene Gesetz und über den
Die ältesten Denkmäler bis zam Einfall der Tataren u
Segen und die Wahrheit, die durch Jesum Christum gekommen ^^ Hilarion
ist Gelehrter und liebt die Gelehrtensprache: er bringt alles im Symbol.
3) Vor allem gehört hierher die Geschichte des Mönches Nestor ^^)
(t um 1130) aus dem Kijewer Höhlenkloster, die erste russische
Geschichte. Das Original ist nicht mehr vorhanden; es hat sich von
den vielen Abschriften die aus dem Jahre 1377 vom Mönch Laurentius
erhalten. Die Geschichte holt etwas weit aus, sie geht auf den Anfang
der Welt zurück, wendet sich aber dann zu den slawischen Stämmen und
geht die russische Geschichte von Ruriks Einzug bis zum Jahre 11 10
durch. II 16 hat sie der Mönch Silvester abgeschrieben, aber auch diese
Abschrift ist verloren. Die ganze Geschichte ist natürlich unter dem Ge-
sichtspunkt des Mönches, also dem religiösen, geschrieben. Die Ge-
schichtschreibung entwickelte sich, mit Nestors Geschichte als Ausgangs-
punkt, schnell weiter; Fortsetzungen von ihr sind: die ,, Kijewer Hand-
schrift", die bis zum Jahre 1200 geht, „die Wolynsker" bis 1292, „die
Ssusdaler" bis 1350 usw.
4) Neben Nestors Werk beansprucht größte Beachtung die erst 1738
von Tatischtschev aufgefundene „Prawda" ^^), das unter Jarosslav dem
Weisen ausgearbeitete erste russische Gesetzbuch.
§ 8 I Nestors Werk reicht schon ins 12, Jahrhundert hinein. Der
Gesichtskreis erweitert sich nun; die weltlichen Ereignisse erobern sich
einen Platz neben den religiösen. Dem 12. Jahrhundert gehören an:
i) Die Schriften des Heiligen Kyrill, Bischofs von Turov
(Gouv. Minsk). Kyrill soll ein sehr bedeutender Redner, ein „zweiter
Slatousst" gewesen sein. In seinen „Schriften" liebt er das Symbol
imd den Dialog. Sie geben hauptsächlich Feiertagsbetrachtungen und
Lehren an die Mönche.
2) Die erste Reisebeschreibung. Die erste, natürlich sehr
gefahrvolle Reise, von der wir wissen, hatte der Abt des Kijewer Höhlen*
klosters Barlaam 1062 nach Jerusalem unternommen. Dann pilgerte
zwischen 1093 und 11 13 der Abt Daniel, wahrscheinlich aus Tschemigov,
dorthin ; er hat die Reise in seinem Buch „ Palomnik" (Bezeichnung aller
Pilger, weil sie Palmenzweige von der heiligen Stätte mitbrachten) be-
schrieben. Wohltuend berührt hierin sein stark ausgeprägtes National-
gefühl; er hat zu den Füßen des heiligen Grabes ein kostbares GefäÖ
niedergestellt „ftir alle russischen Fürsten, ftir die ganze russische Erde,
ftir alle Christen des russischen Bodens".
3} Erziehungsbüchern für die Geistlichen sind wir schon be-
gegnet. Jetzt kommt auch die weltliche Erziehung an die Reihe. Wladi-
mir Monomach, der gebildetste Fürst Altrußlands, hat für seine Kinder
ein Erziehungsbuch geschrieben, in dem er ihre allgemein menschlichen
und dann ihre ftirstlichen Pflichten bespricht. Hübsch ist seine Ermahnung,
]2 Zweites Kapitel
die zeigt, daß die Rassen immer gleich waren und sind: „Seid nicht
faul zu beten, seid nicht faul früh aufzustehen, seid nicht faul im Krieg,
seid nicht faul Wissen zu erlangen."
§ 9 I Zur Kunstliteratur gehört auch das „ g e i stl i c h e Lied'*, der
„Vers" (cTHXT.). Seine Dichter sind zwar Leute aus dem Volke gewesen,
hauptsächlich Pilger, die sich ihren langen Weg durch Gesang verkürzten,
durch ihn auch ihren Lebens- und Reiseunterhalt erbettelten. Aber den
Stoff dazu entnahmen sie der geistlichen Literatur, hauptsächlich den
Apokryphen, und der Stoff hat auch der Aufmachung sein Gepräge ge-
geben, so daß man diese Art Dichtung wohl am besten in die Kunst-
literatur einreiht. Die „Verse" haben sowohl epischen wie lyrischen
Charakter. Der hervorragendste „Vers" ist der von jenem sonderbaren
„(Tauben-?) Buch" ^^j, das, 40 Faden hoch, 40 Faden breit und 10 Faden
dick, zur Zeit Davids aus einer Wolke, vom Himmel, auf Jerusalem
niedergefallen ist, das alle tiefen Geheimnisse der Welt aufschließt. Die
Geheimnisse, die damals die ganze christliche Welt in Aufregung ver-
setzten, sind die Fragen vom Ende der Welt wie vom Anfang aller
Dinge. — Sehr beliebt war der „Vers" von der „Klage Adams" über den
Verlust des Paradieses. Ferner „der Reiche und Lazarus" und das
Gegenstück dazu „ der reiche Alexej ", der sich seiües fürstlichen Namens
und seines Reichtimis entledigt und ein von allen verachteter Bettler wird,
und von ähnlicher Tendenz „Barlaam imd Josaphat", worin der reiche
indische Fürstensohn Josaphat vom weisen Barlaam zum Christentum be-
kehrt wird, die Krone niederlegt und arm in die Wüste zieht. Sehr be-
kannt ist auch „der heilige Georg", und zwar besteht dieser hier nicht allein
den Kampf mit dem Ungeheuer, sondern auch die Martern werden be-
sungen, die er vom bösen Zaren erdulden muß, und dann seine Be-
freiung und sein Zug ins „heilige Rußland", das, vernichtet und ver-
wüstet — wir sind damit offenbar in die Tatarenzeit gekommen — , nun
durch ihn vom Untergang gerettet und im christlichen Glauben befestigt wird ^*).
Zweites Kapitel
Unter dem Mongolenjoch
(1224 — 1480)
§ 10 I In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kamen vom Süden her,
aus Mittelasien, die Tataren in mehreren Horden unter Tschingis Chan
und Batyj und verwandelten den ganzen Süden Rußlands in einen Trüm-
merhaufen. Alle größeren Städte Kijev, Wladimir, Moskau — letzteres war
um 1147 vom Großfürsten Jurij Dolgorukij angelegt worden — , Rjasan,
Jarosslawl gingen in Flammen auf. Nun waren aber die Mongolenführer
eigentlich weitherzige Leute, die 'sich vor allem nicht in die religiösen
Unter dem Mongolenjoch x3
ADgelegeaheiten der Russen öiischten ; auch waren ihre Heerscharen nicht
so groß, daß sie bei den gewaltigen Raumverhältoissen Rußlands ihre
Macht in gleicher Weise überall fühlbar machen konnten. Man atmete,
je weiter man von ihrem Hauptsitz Ssaraj an der Achtuba, überhaupt
vom Süden entfernt war, freier, und so ist es zu eiklären, daß z. B.
Alexander Jarosslawowitsch selbständig einen Krieg mit den Schweden, den
Deutschen (den livländischen Schwertrittem) und den Litauern führen und
über sie an den Ufern der Njewa 1240 einen gewaltigen Sieg davontragen
konnte (daher sein Name Alexander Njewskij). So konnte auch Nowgorod
in Verbindung mit der deutschen Hansa einen recht lebhaften Handel
treiben, der es der dortigen deutschen Kolonie sogar ermöglichte, sich
eine — steinerne Kirche zu bauen.
Aber im Süden saß die Bildung, und da ging alles zu Grunde.
Sonderbarerweise hat sich aber aus diesen Trümmern der ganze wert-
volle Sagenschatz nach dem Norden gerettet. Das ist so sonderbar,, daß
man, als diese Güter nun wieder ans Tageslicht kamen, sie als Produkte
des Nordens angesehen hat. Ihre Heimat ist aber der Süden^ der Norden
ist nur ihr Retter geworden.
Von einem Gedeihen der Literatur kann keine Rede sein. Doch
gibt es ein paar Denkmäler wie „die Lehren Serapions'*, des Bischofs
von Wladimir, eine „Bitte Daniels des Verbannten", eines verbannten
Mönches, der in sein Kloster zurück will, auch einige geschichtliche An-
sätze wie „das Leben und die Tapferkeit Alexander Njewskijs"; dann
tauchen nach und nach immer häufiger Reisebeschreibungen auf.
Für uns recht interessant ist die Reisebeschreibung, die der Ssus-
daler Klostergeistliche Simeon von seiner 1437 nach Florenz imternom-
menen Fahrt gibt, weil er Deutschland berührt hat: in Lübeck hat ihm
die Nähkunst an den Meßgewändern besser als in Rußland gefallen,
und in Lüneburg staunte er die Wasserkünste an: „das Wasser fließt aus
menschlichen Figuren, die mitten in der Stadt stehen, bei der einen aus
dem Mund, bei d<;n andern aus den Ohren, Augen, Nasen, aus den
— Ellbogen ". — Auch die Reise , die der Kaufmann Athanasius Nikitin
aus Twjer im Jahre 1466 nach Indien unternahm, also bevor Vasco de
Gama den Seeweg entdeckte, „ Wanderung über drei Meere " (Kaspische,
Indische , Schwarze) , ist interessant durch ihre Beschreibung des Aus-
sehens, der Lebensweise, der Religion der Inder.
Nach tmd nach war das Tatarenjoch gelockert. Schon 1380
hatte sich Dmitrij Joannowitsch in einen offenen Kampf mit ihm ein-
gelassen, hatte sie am Don besiegt; man hatte aber, modern gesprochen,
den Sieg nicht ausnutzen können. Jedoch innere Zwistigkeiten unter den
Horden selbst halfen den Russen; von der Goldenen Horde von Kip-
tschak an der Achtuba hatte sich die von Kasan und die Krimsche los-
gelöst. Da führte denn genau 100 Jahre später, 1480, den entscheiden^
lA Drittes Kapitel
den Schlag über sie der Moskauer Großfürst Iwan III., von jetzt ab Groß-
fürst und Gossudar (Herr) von ganz Rußland", und damit steht
Moskau an Stelle von Kijev im Vordergrund.
Drittes Kapitel
Die vorpetrinische Zeit
§ 11 I Iwan in. (1462 — 1505) hat den Beinamen „der Große**
erhalten, natürlich wegen seines Tatarensieges. Mit ihm beginnt aber
auch sonst ein Auftakt: die Russen fangen an sich nach Westen zu
orientieren. Seine Frau, die griechische Prinzessin Sophie, kam aus
Italien und zog von dort geschickte Baumeister und Künstler heran,
die Moskau durch steinerne Häuser verschönerten und großartige Ge-
bäude im Kreml — der Kreml (Festung auf tatarisch) war schon um
1330 angelegt worden — u. a. die Usspjenskij-Kathedrale aufführten.
In der Kirche beginnt eine starke Reform. Der denkende Teil de$
Volks erkannte die furchtbare Unwissenheit der Geistlichkeit — der
Bischof von Wologda wußte nicht die Evangelisten — , ihren
bösen Lebenswandel, man erkannte die Ausbreitung des Aber-
glaubens, man erkannte die schlechte Gerichtsbarkeit, die Verwilderung
der Sitten. Wo konnte die Ursache für diese Verderbnis sein? Man
sah sie im Verlassen der alten Überlieferungen. Man wollte die Bibel
in ihrer ursprünglichen .Gestalt wieder haben, frei von den vielen Fehlem,
die sich im Laufe der Jahrhunderte eingeschlichen hatten. Zu einer
solchen Reform war die russische Geistlichkeit nicht imstande , und so
rief denn Iwans' III. Sohn und Nachfolger Wassilij III. 15 18 den Athos-
mönch Maxim, einen sehr gelehrten Mann, zum Übersetzen griechischer
Handschriften seiner Bibliothek nach Moskau. Maxim Grek^^) '(der
Grieche) reformierte im besten Sinne des Worts; er brachte die Fehler
aus dem Text, gab Erläuterungen, kämpfte gegen den Aberglauben, ver-
warf den Zeremonienglauben und suchte in jeder Hinsicht aufklärend und
moralisch zu wirken. Der russischen Geistlichkeit hatte er jedoch den
Text zu gründlich revidiert, und als er gar ihren Klosterbesitz einschränken
wollte, wurde er von ihr dermaßen verdächtigt, daß sein Lohn die grau-
samste Kerkerhaft, 30 Jahre lang, wurde. Einen Triumph hat Maxim
Grek aber doch gehabt — er hat davon allerdings wohl kaum etwas
gehört — , als Wassilijs Sohn, Iwan IV. (1533 — 1584), der erste russische
„Zar*', 1551 einen Ssobor (Konzil), zur Beilegung kirchlicher und
weltlicher Differenzen zusammenberief. Die Beratungen sind im „ S t o g 1 a w "
niedergelegt, und der Stoglaw brachte gewissermaßen nur in Paragraphen,
was Maxim gefordert hatte.
Bald nach diesem Konzü bekam Rußland auch seine erste Buch-
druckerei, 1553» und 1564 erschien das erste russisch gedruckte
Die Torpetrinische Zeit jc
Bach „Die, Apostel". Iwans IV. große Berater waren der Erzbischof
(spätere Moskauer Metropolit) Makarius '^), von dem eine ,, Legende der
heiligen Märtyrer*' hinterlassen, und der Nowgoroder Geistliche Silvester,
auf dessen Rechnung ein gut Teil des „ Domosstroj *' zu setzen ist.
Während sich Maxim Grek und der Stoglaw mit den allgemeinen
Fragen der Kirche, auch der Volkserziehung befassen, ist der „Domo*
sstr oj " *^) („Ökonom") eine Art Laienbrevier, in dem sich freilich von seinen
63 Kapiteln 15 auch mit Gott und der Kirche beschäftigen, die übrigen
aber mit den häuslichen Pflichten, vor allem mit den Pflichten der Frau
und der Kinder zum Hausherrn. Allerdings nicht so recht in unserm
Sinn; denn der Domostroj empfiehlt dem Hausherrn für alles, was ihm
an der Gattin nicht gefällt, die Peitsche. Wir dürfen mit unsem mora-
lischen Anschauungen von heute aber auch nicht in die eigene Vergangen-
heit zurücksteigen, geschweige denn in die russische.
§ 12 I Unter Iwan IV. macht sich deutscher Einfluß bedeutend be-
merkbar. Weiui auch sein Spottname „der englische Zar'* auf seine
Vorzugsliebe deutlich hinweist, so holte er doch gern Ärzte, Apotheker,
Rechtsgelehrte, Kaufleute, Handwerker, vor allen Tucharbeiter und Uhr-
macher aus Deutschland. Seinen Bibliothekar, seinen Hofdolmetsch, seine
Diplomaten waren aus Riga und Dorpat.
Iwan IV. „der Schreckliche". Im Anfang war seine Regierung
für das Land gesegnet. Nach dem livländischen Kriege änderte sich
mit* einem Schlage sein Charakter — er wurde der Schreckliche für seine
Umgebung, für das ganze Volk, das den letzten Rest jeder Selbstachtung
verlor. Aus dieser schlimmen Zeit stammt ein für ihn wie für die da-
maligen Sittenzustände charakteristisches Zeugnis, sein „Briefwechsel"
mit dem Fürsten Kurbskij (von 1563 bis 1579). Der geschlagene
Feldherr war, den Zorn seines Herrn fürchtend, nach Litauen geflohen,
und nun entspann sich zwischen beiden jener Briefwechsel — 2 Briefe
von Iwan, 4 von Kurbskij — , in dem dieser dem Zaren seine Selbst-
herrlichkeit, sein alles besser Können und Wissen, sein Hören auf Schmeich-
ler vorhält, während der Zar immer betont, daß er herrschen wolle und
nicht die andern. Bismarck und WUhelm U. ! Iwan ist dabei ein besserer
Dialektiker als Kurbskij, er verfügt über eine großartige Ironie; Kurbskij
dagegen ist logischer, reifer.
Von beiden Männern haben wir noch zwei interessante Schriften:
Iwans „Sendschreiben" (1578) an den Abt Kyrill vom Bjelosjerskij-
Kloster (im Gouv. Nowgorod), in dem er, wieder mit beißender Ironie,
das Leben der gegen ihn revoltierenden Mönche geißelt und ihnen ein
strenges Gericht in Aussicht stellt — und weit wichtiger Kurbskijs „ Ge-
schichte des Reiches", wichtig weil sie zuverlässige, selbst erlebte Fakta
aus dem Leben und der Regierung Iwans bringt, und dann weil sie schon
so etwas von pragmatischer Geschichtscbreibung ist. Kurbskij, ein großer
l6 Drittel Kapitel
VeTehrer Maxim Greks, war duich ihn cid sehr gebildeter und belesener
Mann geworden ; seine Sprache ist allerdings durch die vielen Latinismen
und Polonismcn verdorben *').
§ 13 I Das Interesse fUr den Westen steigert sich unter den folgen-
den Herrschern, fUi Frankreich, England, Schweden, Deutschland. Der
Nachfolger Iwans IV., sein Sohn Fcodor Joannowitsch (1584 — 1598),
uud dessen Nachfolger, der nach der Ermordung des wirklichen Zaren
Dmitry auf den Thron gekommene Tataienabkömmling Botiss Godunov
(1598 — 1605), riefen aus Hambui^, Lübeck, Bremen Kaufleute herbei.
Boriss, trotz seiner Abstammung und trotz der skrupellosen Hinmordung
des Dmitrij ein ausgezeichneter Kopf und der geborene Herrscher, war
eben im Begriff, in Moskau eine Universität zu gründen, und hatte schon
nach Deutschland geschickt, um Professoren für sie zu gewinnen, als er
vor den Truppen des falschen Demctrius flüchten muilte tmd dabei sein
Leben verlor.
Nun kommen die Komanovs und mit ihnen ein richtiger Einzug der
Deutschen. Unter dem ersten Romanov, Michael (1613 — 164s). spielen
besonders die Nürnberger Erzgiefier und Bildbauer eine Rolle; sein Pracht-
thron, der die ungeheure Summe von 25 000 Talern kostete und an dem
drei Jahre gearbeitet wurde, ist unter der Leitung von Jesaias Zinkgräfi
entstanden. Neben Künstlern kamen Handwerker, Kaufleute, Gärtner —
ein österreichischer Mönch legte bei Astrachan den ersten Weinberg
an — , so viele, daß Adam Ölschläger (Olearius) auf seiner Gesandt-
schaftsreise im Jahre 1634 in Moskau 1000 Deutsche vorfand. Michael
liefi auch deutsche Zeitungen ins Land: „die Ordentliche Postzeitung",
„die neue wöchentliche Zeitung aus Breslau" usw. Noch mehr Deutsche
strömen unter Michaels Sohn, Aleuej Michailowitsch (1645 — 1676), her-
ein, so daß der Neid und die Mißgunst der Russen wach werden, und
die Untertanen den Herrscher, mit Hinweis auf die Religion, zwingen,
die Deutschen In einem besonderen Teil Moskaus, der „ Deutschen Sslo-
boda" wohnen zu lassen, also in einer Art Ghetto.
Mit den Handwerker-Künstlern ziehen in das Moskowiteneich nach
und nach auch Wissenschaft, Literatur ein, freilich noch nicht direkt aus
Deutschland, England, Frankreich, sondern auf dem Umweg über Polen.
In Polen stand die römisch-katholische Kirche in Blüte; die Jesuiten
hatten dazu ihr Bestes gegeben. Sie hatten geradezu vorzügliche
Schulen eingerichtet, ihr Einfluß auf die Aristokratie war bedeutend.
r,__ _T..,_._ _.^^^ ^^£ ^g anstoßende Südnißland. Andrerseits erzeugte
k : man wollte nicht den römischen Kathohzismus. Unter
r griechischen Kirche taten sich Gilden der Kaufleute und
Handwerker, „Brüderschaften", zusammen und gründeten
5 Schulen, in denen Griechisch, Lateinisch, Slawisclt, Fol-
latik, Poetik, Rhetorik gelehrt wurden, in Ostrog, Lwov,
Die vorpetrinische Zeit ij
Wiina, dann in Kijev, Mogilev. Die Kijfewer, die 1589 von der „ Brüder-
schaft'^ gegründet war, erweiterte sich später zur Akademie. So hatten
Druck und Gegendruck ein und dasselbe Ziel: Bildung, und noch einmal
übernimmt die führende Rolle Kijev. Die Kijewer Gelehrten werden das
Ferment nicht allein für den Süden Rußlands, sondern, nach der Ein-
Terleibung Kleinrußlands in das Moskauer Reich unter Alexej Michaile-
witsch, 'für das ganze Rußland.
Unter der Regierung Alexej Michailowitschs ^^) geht ein tiefer Drang
nach Bildung durch die Gesellschaft, hervorgerufen durch die steigende
Not der Kirche. Die Rasskolniki — das sind die starren Anhänger am alten
Glauben — hatten sich mit unheimlicher Schnelligkeit ausgebreitet, so daß
sie der Kirche als Macht gegenüberstanden. Was konnte helfen? Der
Metropolit Paissij Ligarid sagt es: „Alkibiades hat auf die Frage der
Athener, was zum Führen eines Krieges nötig sei, geantwortet: Gold,
Gold und nochmal Gold; so sage auch ich: zur Ausrottung geistiger
Krankheiten sind nötig Schulen, Schulen und nochmal Schulen.'^ So
wurden denn in Moskau Schulen gegründet, ganz nach dem Muster der
Kijewer, und als ihre Lehrer kamen die Kijewer. Eine von Fedor Alexeje-
witsch (1676—1682), dem Sohn Alexej Michailowitschs, gegründete Schule
wuchs sich bald in die „slawisch-griechisch-lateinische Akademie" aus,
deren bedeutendster Lehrer der Kijewer Priestermönch Simeon Polozkij
wurde.
Simeon Polozkij war auch ein hervorragender Prediger; zwei
Sammlungen Predigten zeugen davon. Von ihm stammen auch mehrere
Bände Gedichte : er ist der Vater des russischen Verses, d.h. des
syllabischen — dieser zählt einfach die Silben — , der bis zu Lomo-
nossov existierte, obwohl er, der polnischen Akzentuation nachgebildet,
für die russische Sprache gar nicht paßte. Polozkij imd ebenso ein an-
derer Kijewer Gelehrte, der (heüige) Dmitrij Rosstowskij, waren auch
die Verfasser sogen. Schuldramen, welche die Geistlichkeit wie die Re-
gierung als Volkserziehungsmittel ansahen ; der Lehrer der Poetik an der
Moskauer Akademie war verpflichtet, jedes Jahr wenigstens eine „Ko-
mödie" (= Drama) zu schreiben. Das erste Theater war schon von
Alexej Michailowitsch eingerichtet worden.
§ 14 I Alle diese Kijewer Gelehrten waren, wenn sie auch der
Religion Polens mehr oder weniger feindlich gegenüberstanden, von pol-
nischer Bildung durchtränkt, und Polens Einfluß zeigte sich auch sonst:
Demetrius war schon polnischer Katholik gewesen; jetzt war Fedors Frau
die Tochter eines polnischen Edelmanns. Polnischer Einfluß zeigte sich
auch in dem, was an Literatur ins Land zu kommen begann. Eine
Art Belletristik haben wir seit dem 16. Jahrhundert in Rußland,
Übersetzungen aus dem Polnischen, von Polen entweder aus Byzanz oder
auch aus dem Westen übernommen, meist christlich moralischen Inhalts:
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 2
l8 Viertes Kapitel
ein Gemisch von geschichtlich Aussehendem wie y,die Erzählung von
Alexander '% »yvom trojanischen Krieg *% worin es aber viel mehr auf
phantastische Wunder wie die Gorgo, die Zentauren, die Pygmäen
ankam, oder von indischen Märchen oder von anekdotischen Erzählungen
aus der römischen Geschichte wie die gesta Romanorum oder von lehr-
reichen Fabeln wie die vom schwanzlosen Fuchs, der, aus der Not eine
Tugend machend, die Schwanzlosigkeit als die größte Schönheit allen
übrigen Tieren empfiehlt, oder von Geschichten wie die vom Königssohn
Bowa — eigenttünlich, daß dieser italienische Stoff so ganz Lieb-
lingsmärchenstoff der Russen geworden ist — , von der schönen Mage-
lone usw. 2*).
Die ersten Ansätze russischer Erzählungen, die Zeugnis ablegen vom
russischen Leben, russischen Glauben, russischen Sitten, finden sich dann
im 17. Jahrhundert, z. B. die „Erzählung von Ssawa Grudzyn, wie er sich
dem Teufel verschrieb und wie er dann durch die Fürsprache der Gottes-
mutter erlöst wurde'S und noch russischer, sozusagen, „die Geschichte
vom russischen Höfling Frol Sskobejev und seiner Annuschka'S
Viertes Kapitel
PeterderGroße
(1689—1725)
§ 15 jEs beginnt nicht, wie so häufig gesagt wird, erst mit Peter der
Drang nach dem Westen, der Drang nach Bildung und Kultur. Man
hatte, wie wir gesehen, schon vor ihm auf dem weiten Feld hier und da
gepflügt und geackert. Aber wieviel Gestrüpp und wieviel Unkraut war
selbst auf den bestellten Teilen geblieben! Welche Wüsten von Aber-
glauben, welche Berge von Unwissenheit mußten noch bei Seite geräumt
werden, beim Volke wie bei den Regierenden! Die Regierenden waren
die Geistlichen ; an ihnen und an dem von ihnen aufgehetzten Pöbel war
ein gut Teil der bisherigen Reformen gescheitert. Mit wenigen Aus-
nahmen wußten und wollten sie nichts anderes wissen als den byzan-
tinischen Formelkram. Der letzte Moskauer Patriarch Adrian — also
nächst Peter die höchste Person im Reich — verfluchte noch feierlich
alle, die sich den Vollbart scheren und nur den Schnurrbart stehen
ließen, denn „so hat Gott nicht die Menschen, sondern die Katzen und
die Ungläubigen erschaffen 'S imd zeigte als Beweis dafür auf die russi-
schen Bilder vom jüngsten Gericht. „ Seht nur, zu des Heilands Rechten
stehen alle Bärtigen, aber links die Mohammedaner, Ketzer, Lutheraner,
Polen imd andere ihnen ähnliche Geschorene." Sein Vorgänger Joakim
hatte sich aus religiösen Gründen mit Ausländem nicht an denselben
Tisch setzen wollen. Diese unwissende, abergläubische, unduldsame,
fanatische Kirche war die sehr starke Mauer, die Rußland vom Westen
Peter der Grofie 19
trennte. Der Protopope Awakum **), ein Gegner der Reformen des Patri-
archen Nikon, erlitt Hunger, Gefängnis, Auspeitschung, Marter, er sah mit
an, daß seinetwegen Frau und Kinder lebendig verscharrt wurden, er wurde
dann selber an den Feuerpfehl gebunden und lebendig verbrannt — und
wofür? Weil er dabei beharrte, den Eid mit zwei Fingern und nicht
mit drei zu beschwören. Und das waren die Häupter; wie sah es mit
den Gliedern aus? Da herrschte neben der Unwissenheit der Branntwein.
Über die Trunkenheit und den Schmutz der vornehmsten Kreise klagen
deutsche, englische, französische Gesandtschaftsberichte, über ihre Roheit,
Dummheit, über ihre Filzigkeit trotz des Reichtums. Den Frauen war
eine vollkommen orientalische RoUe zugefallen: sie durften sich nur in
den hinteren Räumen aufhalten, zu denen der Hausherr immer den
Schlüssel in der Tasche hatte. Das galt auch für die Prinzessinnen, selbst
für die Zarin, die niemand sehen durfte.
Damit wollte Peter aufräumen. Die Kraft dazu besaß er. Ob er
in der Wahl der Mittel immer das Richtige getroffen hat, ist etwas an-
deres — dazu haftete ihm selber noch allzuviel Russisches an. Er war
nur ein äußerst kluger Kopf, aber kein Muster von moralischen Eigen-
schaften, von vornehmem Fühlen und Handeln, sondern roh, herzlos,
grausam, gewalttätig. Bester Beweis sein eigener Sohn Alexej, dem nur
ein zeitiger Tod die Hinrichtung durch den eigenen Vater ersparte. Peter
unterschied sich in vielem nicht von Iwan dem Schrecklichen: Knuten,
Spießen, Rädern, Abschneiden der Ohren, Ausreißen der Zunge, Abhauen
der rechten Hand blieben noch immer an der Tagesordnung.
Peter reiformierte. Es reizt zum Lächeln, wenn er für seinen Hof
einen „Ehrsamen Tugendspiegel oder eine Vorschrift zum Umgang mit
Menschen" (1717)^^) herausgeben ließ, worin dieser belehrt wurde, daß
man sich nicht zu laut schneuzen dürfe, daß man den abgenagten Knochen
nicht ins Zimmer oder wieder in die Schüssel zurückwerfen dürfe, und
wenn man ihn dann selber bei jeder Gelegenheit tolltrunken sieht.
Peter war von unendlichem Wissensdurst erfüllt, und wie er davon
erfüllt war, so sollte es auch sein Volk sein. Aber er dachte nur an
Wissen, an praktische Wissenschaft. Die schönen Künste sah er als
Spielerei an; für sie hatte er nur Zeit, sofern sie für seine Politik, für
seine Machtstellung von Nutzen waren.
Lernen sollte sein Volk, Geschichte, Geographie, Mathematik, dann
Rechtskunde und soziale Wissenschaften. Das mußte er aber selber erst
lernen, und deshalb unternahm er Reisen nach Holland, nach England,
nach Deutschland — nicht nach Polen. Von jetzt ab ist Polen aus-
geschaltet. An seine Stelle tritt eine Zeitlang Deutschland. Er hätte
gern den größten Gelehrten jener Zeit Leibniz mit in die neugegründete
Hauptstadt Petersburg genoromen; er konferierte mit ihm in Karlsbad,
Dresden, Pyrmont. Leibniz wollte nicht. Er wandte sich an den zweit-
20 Viertes Kapitel
gröfiten Mann, den Philosophen Christian Wolf, auch vergeblich. Nach
dem Plan dieser beiden ist jedoch später die Akademie der Wissenschaften
in Petersburg angelegt worden. Es kamen aber andere, wie der später
um die Erforschung der Mineralquellen des Kaukasus so verdiente Dresdner
Arzt Schober, auch Juristen, Künsüer, Of&ziere, und wo nicht das lebende
Wort wirken konnte, da halfen die Bücher. Es wurden mehrere Buch-
druckereien eingerichtet: die bedeutendsten Werke von Leibniz, Grotius,
Pufendorf, Lipsius, Vauban, Huygens wurden in Übersetzungen gedruckt,
und zwar mit der ausdrücklichen Anweisung an die Übersetzer, nicht
wort-, sondern sinngemäß zu übersetzen, auch alles Unwesentliche fort-
zulassen. Diese Bücher erschienen in der neuen „bürgerlichen^' Schrift,
d. h. der verbesserten Kyrillischen Schrift, mehr dem Lateinischen an-
gepaßt. Daneben schuf Peter für die Kriegswissenschaft Schulen: in
Moskau die Navigations-, Artillerie-, Ingenieurschulen, in Petersburg die
Seeakademie. Eine Akademie der Wissenschaften in Petersburg führte er
nicht mehr durch; sie wurde erst ein Jahr nach seinem Tode 1726
von Katharina I. errichtet. Schulen für das Volk, die „Zifferschulen'',
wo man neben Lesen und Schreiben Zififem, d. h. Arithmetik und Geo-
metrie lehrte, wurden gegründet. Peter schuf die erste russische Zeitung,
„die Russischen Nachrichten", im Jahre 1703 2^).
Peter, der Mann der Praxis, wollte auch das materielle Wohl seines
Volkes. Er holte Seeleute, Schlosser, Bergleute aus Schweden, England,
Deutschland; aus Holland und Deutschland mußten Frauen kommen, um
seinen Russinnen das Butterschlagen beizubringen. Eine so wichtige Ein-
richtung wie die Post, wo es sich um Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit
handelte, übertrug er fiaist ganz deutschen Händen ; der westfälische Theo-
legiestudent Ostermann, der nachher bis zum Reichskanzlerposten auf-
stieg, um desto tiefer zu fallen — Elisabet Petrowna ließ ihn vom Bett
aus und im Schlafrock direkt aufs Schaftbtt schleppen und verwandelte
dann gnädigst seine Strafe in ewige Verbannung nach Sibirien; Peter IIL
holte ihn erst zurück — verdiente sich hier die ersten Sporen.
Die Deutschen wurden durch Peter eine Macht. Die „deutsche
Vorstadt" in Moskau, ihr Ghetto, wurde gesprengt; in dem neu ge-
gründeten Petersburg legte er ihnen zu Ehren in der schönsten und vor-
nehmsten Gegend, da wo heut6 das Winterpalais steht, die „deutsche
Straße" an. Natürlich gefiel das den eingefleischten Russen nicht, be-
sonders da unter den Deutschen auch viele Abenteurer und Betrüger
waren, und ihr Haß richtete sich gegen die Deutschen und gegen Peter.
Man murrte über manches, auch darüber, daß er in „deutschem Habit",
d. h. in Hosen ging — die Kleidung der Altrussen ähnelt stark der
Frauenkleidung — , daß seine Geliebte Anna Mons aus der „deutschen
Ssloboda" stammte, daß Katharina, das Mädchen des Probstes von Marien-
burg, gar seine Gemahlin wurde. Sein Sohn imd Thronfolger Alexej
Die Anlange des rassischen Theaters und des nissischen Dramas 21
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wollte, obwohl oder vielleicht weü er von einem Deutschen erzogen war»
alle Ausländer ermorden lassen.
Leicht war also die Stellung Peters nicht, aber dank seiner Ellugheit
und dank seiner Roheit erreichte er sein Ziel. Er fand zum Glück auch
ein paar Russen, die imstande waren, ihn in seinem Kampf zu unter-
stützen. Das war der äußerst gelehrte und geistreiche, aber ränkevolle
und grausame Erzbischof von Nowgorod, Theofan Prokopowitsch.
Er hat für die Übersetzung der oben erwähnten Bücher Aufierordentliches
geleistet; ebenso verdienstvoll ist sein „Reglement für die Geistlichkeif
(1720), in dem er in Peters Sinn der Geistlichkeit eine höhere, gebildete
Auffassung von ihrem Beruf geben wollte. Ein anderer bedeutender
Geistlicher, der Rjäsaner Metropolit Jaworskij, wurde leider aus einem
Freunde ein Feind Peters, weü er sich nicht ganz vom Alten lossagen
wollte. Die Grafen Scheremetjev und Tolstoj mußten große Reisen unter-
nehmen und ihre Erfahrungen zum Nutzen des Staates niederlegen. Peter
schätzte die realen, nicht die „schönen*^ Künste, wie schon hervorgehoben
wurde. Wenn er sich trotzdem für das Theater interessierte, so hatte
das einen realen Hintergrund (s. $ i6).
Natürlich haben Peters Reformen ^^) manches Mißliche , manche
Schattenseite im Gefolge gehabt. Es trat durch sie eine größere Entfremdung
zwischen vornehm und gering ein, die bis dahin alle gleich (stumpfsinnig)
gelebt und gedacht. Das Volk war in der Landesversammlung (seMCKin
co(Sop'L) mit an der Regienmg beteiligt gewesen; durch die von Peter
geschaffenen „Kollegien** (Ministerien) war es ausgeschaltet. Die Kirche
hatte ein Haupt gehabt; jetzt hatte es im „Synod** ein vielköpfiges, und
noch schlimmer, da dieser vom Zaren allein eingesetzt wurde, ein diesem
ganz und gar gefügiges Werkzeug. Daß sich dagegen Stimmen erhoben,
sogar von Leuten, die es ehrlich meinten und die, wenn auch unter-
geordneten Standes und untergeordneter Büdung, doch klar und scharf
die ganze Sachlage überschauten, zeigen u. a. die vor nicht langer Zeit
gefundenen Schriften des Bauern Possoschkov, der natürlich sofort un-
schädlich gemacht wurde.
Fünftes Kapitel
Die Anfänge des russischen Theaters
und des russischen Dramas
§ 16 I Das russische Drama begann, wie in Westeuropa, mit den
Mysterien, die dann in die Moralitäten ^^) übergingen. Jedoch fallen sie
400 bis 500 Jahre später, treten also erst im i6. Jahrhundert auf. Diese
ersten Dramen, „die Handlungen vom feurigen Ofen** (die Legende der
drei Jünglinge im feurigen Ofen) und „vom Einzug des Heilands in Jeru-
salem'* sind verloren gegangen.
22 Fünftes Kapitel
Das 17. Jahrhundert brachte mehr, tmd zwar knüpft nun das russi-
sche Drama an das deutsche an, wie. denn die Deutschen dem ganzen
russischen Theater das Leben eingehaucht haben.
Unter Alexej Michailowitsch spielten die Deutschen, wie gesagt, in
Moskau eine grofie Rolle, und diese hatten in ihrer Heimat Geschmack
an Hans Sachs, Jakob Ayrer, auch an Moli^re gefunden. Davon hörte
Alexej, und seine Neugier wurde rege; sie wurde noch gesteigert durch
den bei ihm im höchsten Ansehen stehenden Simeon Polozkij (s. $ 13),
der ihn leicht überzeugte, daß „nichts Sündhaftes noch Gesetzwidriges an
der ^ufRihrung eines geistlichen Dramas sei^S Polozkij brachte von
Kijev die Mysterien „Adam und Eva^S „ Joseph'* (seine Begegnung mit
Potiphars Weib), „den heiligen Alexius** (es handelt sich um seine
Keuschheit) mit. Er selber dichtete „die Komödie vom verlorenen Sohn
in 6 Akten *' (Komödie = Bühnenaufführung) und „die Komödie vom
Zaren Nebukadnezar mit einem Prolog *'.
Alle diese Dramen — Schuldramen *^), weil sie vornehmlich in den
Klosterschulen gespielt wurden — stammen aus Polen, und nach Polen
waren sie von Deutschland gekommen, stand doch Polen eine ganze Zeit
stark unter deutschem Einfluß ; der Haß gegen König Siegmund UI. wur-
zelte ja hauptsächlich darin, daß er bei Hofe schontmgslos deutsche
Sitten einführte.
Zar Alexej war von allem dem so begeistert, daß er gern aus
Deutschland die sehr bekannte Walthersche Truppe gehabt hätte. • Als
diese aber trotz ihrer Zusage nicht kam, beauftragte er „drei Tage nach
der Geburt seines Sohnes Peter" (1672) den deutschen Pastor an der
Moskauer Luthergemeinde Joachim Gottfried Gregori eme Truppe zu
werben und ein Komödienhaus im Dorfe Pijeobrashenskoje bei Moskau
zu bauen. Gregori ftihrte beides aus. Die Truppe bestand aus 64 Per-
sonen, lauter Deutschen, und man spielte nun die dem Zaren schon be-
kannten „Komödien" von „Adam und Eva", von „Joseph", brachte
aber auch neue heraus wie „die Wanderschaft und die Ehe des jungen
Tobias", „Judith" (wie sie Holofemes das Haupt abhieb) und auch rein
weltliche Stücke : „Bajazet und Tamerlan", ein „Artaxerxes-Drama", also
Hans Sachs' und Jakob Ayrers beliebteste Stücke. In „Bajazet und
Tamerlan" liegt schon eine Komödie in unserm Sinne vor, sie bringt den
holländischen Pickelhering und den deutschen Tölpel.
Als der Schöpfer des russischen Originaldramas wird der
(heilige) Dmitrij Rosstowskij angesehen. Seine Stücke „die Qeburt
Christi", „die Auferstehung Christi", „Esther und Ahasver" sind Mora-
litäten mit den allegorischen Personen der Liebe, des Hasses, der Hoff-
ntmg usw. Sie haben Interludia oder Intermedia, d. h. Einschiebsel
zwischen den einzelnen Akten, durch welche die Haupthandlung unter-
brochen wird und welche zum Teil komische Szenen aus dem täglichen
Die Anfange des rassischen Theaters und des rassischen Dramas 23
Leben, Volksgesänge und derlei bringen. Ist Rosstowskij wirklich Original?
Seine „Esther" hat viele Anklänge an Hans Sachs, Und in seinem ver-
lorenen Stück „Der reuige Sünder" oder „Wie der Mensch seinen Fall
büßt" ist nicht nur der zweite Titel direkt von Leonhard Culman von
Crailsheims Hauptwerk „Ein Christenlich Teutsch Spiel, wie ein Sünder
zur Bufi betört wird*', sondern auch manche Einzelheit entnommen.
Alexejs Nachfolger, Feodor Alexejew^tsch« hatte wenig Wohlwollen
für die Deutschen, folglich auch keines fUr ihr Theater. Für das Theater
interessierte sich tlagegen seine Schwester^. Sophie, sogar für Moli^res
„Mddecin malgrd lui". Aber die politischen Wirren ließen ihr wenig Zeit
dazu. Ihr Stiefbruder Peter, der Westling, der Deutschenfreund, folgte.
Für Peter war die Bühne kein Vcrgntigungsort, nur Volkserziehungs-
anstalt. Er schuf daher ein großes öffentliches Volkstheater; die
beste Stelle im Mittelpimkt Moskaus, den „Roten Platz", wählte er dazu.
Er sandte den Leutnant (nach andern den Schauspieler) Iwan Ssplawskij
nach Daozig — ' von allem, was Gregori vor 35 Jahren geschaffen'
hatte, war keine Spur geblieben — ^ und dieser brachte den Leiter einer
gut bekannten Wandertruppe Johann Kunst mit. Kunst kam 1702 mit
der für die Beurteilung russischer Verhältnisse bezeichnenden Vertrags-
klausel, daß „er mit seinen Leuten allemal wieder frei, sicher und un-
gehindert zurückreisen könne". Charakteristisch für den Leutnant Ssplawskij
ist, daß er vergessen hatte Kunst zu sagen, die Stücke müßten in rus-
sischer Sprache aufgeführt werden. Nun kam die erste Vorstellung, die
meisten Mitglieder konnten nur Deutsch, und Peter verlangte unbedingt
russisch. Was jetzt? Sie sagten ihre Rollen in der ihnen unverständ-
lichen Sprache her. Was Kunst nun brachte? Was in der Heimat Mode
war. In Deutschland galten noch Hans Sachs und Ayrer, aber auch""
Gryphius und Lohenstein; daneben die Franzosen, die Italiener, die
Spanier. So spielte Kunst Gryphius' „Papinian der große Gelehrte",
Löhensteins „ Sophonisbe ", auch „Alexander von Mazedonien", „Geno-
veva, die Gräfin von Trier", „Julius Cäsar", von den Franzosen MoK^res
,",Le mddecin malgrd lui", Thomas Comeilles „Jodelet ou le geölier de
soi-mSme", von den Italienern „H tradimento per Thonore". Kunst
mußte auch eme Theaterschule einrichten, sie setzte sich aus russischen
Kleinbeamten zusammen. Peter scheute keine Kosten.
Peter wollte seine Russen erziehen. Das geschah offenbar durch
die angeführten Vorstellungen; es genügte ihm nicht. Er hatte Höheres
im Auge: er wollte das Interesse des Volks Hir sich und für den Staat,
was diesmal gleichbedeutend war, wecken und stärken. Deshalb gab er
Kunst „den Befehl, eine Komödie über den Sieg tmd die Übergabe der
Festung Oreschk an den mächtigen Herrscher (das heißt an ihn) zu
schreiben". Ein anderes Stück zum Ruhme Peters war „Der herrliche
Triumph des Befreiers von livland und die Vereinigung Ingermannlands
24 Fttnfiel K^iitel
nüt Rufltand"; femer „Die göttliche Veniiclitimg der stolzen Vemichter",
worin der Sieg tibei die Schweden und der Verrat und die Flucht
Maseppas behandelt wurden. In diese historischen Stücke zu seinem
und des Vaterlands Ruhm lieS der kluge Praktiker Intedudia bringen,
welche Alltä^chkeiten des Lebens, abei sebr wichdge, behandelten, die
BestechUchkeit, die Trunksucht und andere Volkslaster.
Kunst besorgte das alles, starb jedoch schon nach einem Jahr.
Sein Nachfolger war ein früherer Goldarbeiter FUrst, ein -guter Leiter.
Er hielt sich vollkommen in dem Repertoire von Kudst. Fürsts T^g-
keit läSt sich bis 17 15 veifolgen — dann verschwinden auf einige Zeit
alle Notizen.
Wir hören erst wieder 1725 von cber deutschen Truppe, Da
kommen nun aber die mit Peters Tode einsetzenden Wirren, und flir
Theater scheint man wenig Interesse zu haben. Es spielt Johann
Hinrich Mann mit seiner Truppe; Staatsaktionen und HÜiswurstiaden
waren ihr Feld. Mann bat mit letzteren offenbar beim Publikum An-
klang gefunden, auch beim Hofe; als er an einem i. April zu einer be-
sonders glänzenden Vorstellung eingeladen hatte und nun der Vorhang
aufgezogen wurde, prangte da in mächtigen Lettern' „der i. April",
und Hof und Publikum gingen vergnügt nach Hause. Auf die Dauer
war es jedoch mit solchen Scherzen wohl nicht getan. Jedenfalls wir
hören nicht wieder TOn ihm.
Unter Anna Iwanowna wurde das Theater wieder lebendig. Italienische
Sänger treten in den Vordergrund. Anna liebte Musik und vor allem
die derben Zoten. Freilich konnte sie nicht italienisch, und so muSten
ihr denn die italienischen Intermezzi von ihren Akademieprofessoren ins
Russische übertragen werden, eine würdige Arbeit der würdigen Herren.
Trotz ihrer Vorliebe für die Italiener waren die Deutschen aber keines-
wegs geächtet; sie ließ sogar 1740 die Neuber kommen.
Dafi mit der Neuberin eine Wandlung auch im russischen Theater-
leben vor sich ging, ist klar. Gottsched trat in die Erscheinung. Ob
er in den Vordergrund trat, ist etwas anderes, und ob Anna selber
davon viel gemerkt hat, ist kaum anzunehmen. Sie wollte, wenn es nun
einmal die kitzelnden italienischen Zoten nicht waren, auf jeden Fall
Lustiges. So pflegte denn die Neuber die Komödie. Aber wir erfahren
von Gottsched selber — die russischen Quellen versagen — , daß sein
ato" in „Danng, Königsberg, Riga, Petersburg viel
;eben worden ist".
rb noch im selben Jahr r740, und 1741 kam die Deut-
'reufleohasserin Elisabeth Petrowna auf den Thron. Die
fliehen. Die Italiener und die Franzosen triumphierten.
Theater vegetierte nur noch in Moskau.
Die Anfange des rassischen Theaters and des rassischen Dramas 25
Trotz allem tauchte aber schon 1745 in Petersburg wieder der
Wunsch nach einem deutschen Theater auf. Es wurde jedoch eine höchst
unglückliche . Wahl getroffen; man holte sich Peter Hilferding, oder wie
er sich in seiner Bude auf dem Dönhoffsplatz in Berlin genannt hatte,
Pantalon de Bisognosi, und er machte sich bald durch seine Harleki-
naden genau so unmöglich wie er in Berlin unmöglich geworden war,
als die Schönemannsche Truppe auftauchte. Nach Hilferdüngs Verschwin-
den kamen Ackermann und Sophie Schröder, beide aus der Schöne-
mannschen Truppe hervorgegangen, aber weiter entwickelt. Während die
Schönemannsche Truppe noch den Übergang vom Alten zum Neuen
bildete, d. h. sowohl die alte Burleske wie das neue Gottscheddrama
kultivierte, war die Ackermannsche die reine Verkünderin und Verfech-
teiin von Gottscheds Theorien. Sie brachte nach Petersburg Corneille,
Racine, Molinie, auch Voltaire, dann Holberg, Sheridan und von ihren
Landsleuten Gottsched, Geliert und den jungen Lessing, der ja zunächst
noch Gottschedianer waA Die Truppe erwarb sich sehr großes Ansehen,
so daß Elisabeth in bezug auf die Bühne ihren Deutschenhaß ließ; sie
war so begeistert, daß sie Ackermann und Frau Schröder in der
lutherischen Kirche zu Moskau trauen lipß. Und an Lessin^ er-
ging der Ruf, eine Professur für deutsche Sprache und Beredsamkeit
an der Moskauer Universität anzunehmen; er führte das erst Gewollte
nicht aus.
Die fünf Jahre, welche die Ackermannsche Truppe in Rußland war,
sind für das russische Theater von weittragendster Bedeutung gewesen.
Sie haben die Russen zur Reife geführt. Von nun an gibt es ein
russisches Theater mit russischen Dichtern; das deutsche
Theater verschwindet, aber aus seinem Schöße ist das russische geboren.
Wolkov (1729 — 1763) und Ssumarokov (1718 — 1777) sind
die Väter des russischen Theaters, beide in ^er deutschen Truppe heran-
gebildet, Wolkov der Freund Ackermanns. Wolkov führte den Gedanken
Peters durch: er gründete sein Theater für das Volk, während bis jetzt
eigentlich nur der Hof daran teilgenommen hatte; zugleich war er ein
atisgezeichneter Schauspieler. Ssumarokov wurde sein Dichter. Was
Wolkov gab und spielte, was Ssumarokov schrieb, war natürlich fran-
zösischer Pseudoklassizismus , wie er sie durch die Deutschen gelehrt
wan Ssumarokovs Tragödien — die erste „Chorjev", 1747 verfaßt
und 1749 zum erstenmal in Gegenwart der Kaiserin Elisabeth im
Kadettenkorps, dessen Zögling er war, aufgeführt; andere sind „Semira'%
„<}er Pseudodemetrius" — und Komödien, die ersteren streng nach
Gottsched im gereimten Alexandriner, die letzteren in Prosa, werden
heute nicht einmal mehr gelesen, sie begeisterten aber seine Zeitgenossen.
Man hat, so wenig Gefallen man an seinem aufgeblasenen Wesen fand,
seine dichterische Fähigkeit hochgeschätzt, so daß man ihn den „russischen
26 Sechstes Kapitel
Radne^* nannte. Ssumarokovs Dramen wollen russisch sein, sie
wollen uns die ältesten Phasen der russischen Geschichte vorführen ; aber
alles ist französische Aufinachung, russisch ist eigentlich nur der Titel.
Seine Tendenz , die Tendenz des französisch^ Pseudoklassizismus , ist
für lange Zeit maßgebend für Rußland geblieben; ehe Shakespeare in
Wirklichkeit eindrang, vergingen noch mehrere Jahrzehnte; der von
Ssumarokov bearbeitete y,IIamlet'* (1748)^^) hat von Shakespeare nur
sehr wenig, er ist ganz nach französischem Vorbild aufgebaut.
Ssumarokov ist der erste Russe gewesen, der russische Geschichte'
dramatisiert hat — Peters dramatisierte Geschichte war ja deutsches
Produkt — , und doch nicht ganz der erste. Schon 1705 hatte Theo-
fan Prokopowitsch ein Stück „Wladimir" geschrieben; sein „Wladi-
mir" ist der richtige Wladimir der Große. Aber dies Drama ist ganz
im Stil des alten Schuldramas mit Interludia usw.
/ Sechstes Kapitel
Wissenschaft und Kunst unter Peters Nachfolgern.
Lomonossov
§ 17 I Das frühere „Mädchen von Marienburg" wurde eine recht
brauchbare Kaiserin. Katharina I. ging sofort nach Peters Tod an die
Ausführung seiner Lieblingsidee und errichtete noch 1725 die „Kaiser-:
liehe Akademie der Wissenschaften" in Petersburg. Peter selber hatte
schon eine ansehnliche Bibliothek tmd eine „Kunstkammer" aus „ver-
schiedenen Tieren, Fischen, Vögeln, Seltenheiten" gesammelt; beide
gingen in den Besitz der Akademie über. Alle Lehrstellen wurden nach
Peters Bestimmung mit Deutschen besetzt. Dieser Kult deutscher Ge-
lehrsamkeit dauerte noch weiter fort, unter Peter IL, unter Anna Iwanowna,
er wirkte noch bis zu ELatharina U. hin, so daß man sagen kann, die
ganze russische Wissenschaft lag bis dahin in deutschen Händen. An
Stelle von Leibniz und Wolf kamen andere, sehr bedeutende Männer,
nach Petersburg wie nach Moskau : der um die ErforschuDg von Sibirien
in historischer und ethnographischer Beziehung hoch verdiente Gerhard
Friedrich Müller ^^), welcher wiederum, als Lessing abgelehnt hatte, den
Gottschedianer Reichel auf das Moskauer Katheder der Ästhetik brachte ; die
Historiker Bayer und von Schlözer — Schlözer ist der eigentliche Be-
gründer der russischen Geschichte — ; die Mathematiker und Physiker
Braun und Euler; der durch seine Reisen im Ural, im Kaukasus, in
der Krim bekannte Naturwissenschaftler Pallas, der sich auch durch seine
praktischen Anlagen — Seidenbau, Bereitung von Soda — so verdient
machte, daß ihm Katharina IL zwei Dörfer in der Krim und ein Haus
in Ssimfjeropol schenkte. Welch reiches wissenschaftliches Leben sich
durch diese und noch viele andere Gelehrten entfaltete, davon gibt
Wissentchait and Kunst anter Peters Nachfolgern. LomonossoT 27
Schlözer ein anschauliches Bild in seinem Buch „ Öffentliches und Prirat-
leben, von ihm selbst beschrieben ''9 Göttingen 1802.
Und nicht blofi standen deutsche Gelehrte in solchem Ansehen;
der Reichskanzler Ostermann , gleich groß in der inneren Verwaltung
wie in der äußeren Politik, imd der O^rganisator des russischien Heer-
wesens Generalfeldmarschall Münich waren ja auch Deutsch^ Freilich
waren beide, als andere Zeiten kamen, nahe daran gevierteilt zu werden;
nach Sibirien mußten sie beide, Münich koimte dort sein Leben nur
durch Erteilen von Mathematikstunden fristen.
Am wissenschaftlichen Himmel Rußlands erhebt sich neben den
vielen deutschen Sternen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur
ein einziger russischer, Lomonossov.
§ i8/ Michael Lomonossov (17 11 — 1765)") ragt als monumentale
Figur aus dieser Zeit hervor; er hat auf wissenschaftlichem Gebiete nicht
viel weniger geleistet als Peter der Große auf politischem. Bis Lomonossov
war russische Wissenschaft, soweit sie von Russen überhaupt kultiviert
wurde, allein bei der Geistlichkeit gewesen — Lomonossov ist der erste
weltliche russische Wissenschaftler xmd zwar gleich ein phänomenaler.
Daß er dazu ein bedeutender Dichter war, gibt seinem Bild noch mehr
Glanz.
Lomonossov hatte in Marburg studiert und vor allen den Philo-
sophen und Mathematiker Christian Wolf gehört, der nach seiner schünpf-
lichen Entfernung aus Halle „bei Strafe des Stranges*' hier zur Ruhe
gekommen war und im Zenitji seines Ruhmes stand. Von Marburg war
Lomonossov nach Freiberg gegangen: seine Hauptfächer waren Berg-
kunde, Metallurgie, Chemie. Von dem Grundsatz ausgehend: „Wissen
ist Machf , suchte er sich auf allen Gebieten zum Herrn zu machen,
und so wurde er ein Universalgenie, besonders bewandert im Reiche der
Naturwissenschaften. Und zwar verficht er hier den Gedanken, daß diese
mit der Religion vereinbar ist — das war eben die deutsche Philosophie
Wolfs, streng religiös im Gegensatz zum französbchen Rationalismus
jener Zeit.
Lomonossov beschränkte sich in seinen eigenen Studien wie in
seinem Lehrfach als Adjunkt, dann als Professor an der Akademie nicht
auf Philosophie und Naturwissenschaften, er wurde Philologe und Histo-
riker. Er hat die erste russische „Rhetorik" (1748)^8) und die erste
„russische Grammatik" (1755) verfaßt, beide im Geiste und in der An-
lage der damaligen deutschen Sprachbehandlung. Die Quellen zu seiner
russischen „Rhetorik" und die angezogenen Beispiele sind Gottsched und
Wolf entnommen. Die Grammatiken vor Lomonossov waren entsprechend
dem religiösen Charakter der altrussischen Literatur und der hierin ver-
wendeten kirchenslawischen Sprache „slawische". Lomonossov zieht die
Scheidegrenze zwischen beiden Sprachen lexikographisch wie grammati-
28 Sechstes Kapitel
kaiisch; er zeigt , dafi die Kirchensprache mit der griechischen Struktur,
der griechischen Wortbildung, dem griechischen Artikel femabsteht
von der russischen Sprache des russischen Volkes. Freilich, löste auch
er diese Frage nicht ganz; er machte die russische Sprache wohl vom
Kirchenslawischen frei, er selber aber schuf eine künstliche Büchersprache,
die der Inenden Sprache wenig glich. Diese Aufgabe ganz gelöst hat
erst Karamsin.
Lomonossov sah, daß die russische Geschichte an der Akademie
allein in den Händen der Deutschen lag ; sein Verstand und sein National-
gefühl sagten ihm, daß diese unmöglich das volle Verständnis für den.
russischen Volkscharakter haben konnten, und so warf er sich auch auf
dies Gebiet. Leider ging er hierbei nun bald vom rein Sachlichen auf
das Persönliche über. Lomonossov war ein Bauemsohn (aus dem Gou-
vernement Archangel), ein Bauer ist er Zeit seines Lebens geblieben;
auch seine Heirat spricht dafür: eine Wäscherin, an der er in Freiberg
hängen geblieben war. Die Invektiven oder noch schlimmer die A-rt der
Invektiven, die er bei seinen Auseinandersetzungen mit den deutschen
Professoren anwandte (vgl. Schlözers Buch), zeigen den groben Bauern.
Allerdings waren die Deutschen ja auch nicht fein.
Lomonossov ist ein bedeutender Dichter gewesen, und wie seine
Wissenschaft aus deutschem Boden erwachsen ist, so ist es auch seine
Poesie. Sein erstes Gedicht, das gleich den Grund zu seinem I)ichter-
ruhm gelegt hat, die Ode 9, Auf den Sieg Anna Iwanownas über die
Türken und Tataren und auf die Einnahme von Chotin, im Jahre 1739 '^
fallt in die Freiberger Zeit und ist eine Nachdichtung von Chr. Günthers
Gedicht „Auf den Frieden Österreichs mit der Pforte, 17 18", eine Nach-
dichtung, welche die Vorzüge des Originals vermissen läßt. Chr. Günther
war der letzte „schlesische^* Dichter, eigentlich der erste einer neu
hereinbrechenden Zeit, der sich schon etwas frei macht von dem Schwulst
tmd der Unnatur der Schlesier und einen einfacheren, realeren Ton
findet. Von dieser NatürHchkeit , von dem Witz, dem Humor Günthers
hat Lomonossov nichts verstanden; ihm ist von Günther nur der feier-
liche Bombast geblieben. Lomonossov steht hier, wie in allen späteren
Gedichten, auf „schlesischem^^ Boden, der allerdings zu seiner Studien-
zeit in Deutschland trotz des Sturmlaufs noch immer siegreich blieb.
Alle seine Oden sind in der schwunghaften Manier der Opitzschen
geschrieben; die notwendigen Requisiten sind die Musen und Narziß
und die Nymphen und Diana und Mars und Bellona und der
Berg Pindus, und selbst bei einem christlichen Fest rauscht die
kastalische Quelle.
Die meisten Oden Lomonossovs sind Gelegenheitsgedichte. Als
Akademieprofessor hatte er die Aufgabe, festliche Gelegenheiten, wie die
Namens- und Krönimgstage der Herrscher, Hochzeiten, Siege zu feiern.
Wissenschaft und Kanst uoter Peters Nachfolgera. Lomonossor 2Q
Alle diese Gedichte sind eigentlich nur Auszüge und Wiedergabe
seiner sonstigen wissenschaftlichen Reden, und Gedichte wie Reden zeigen
einen gedanklichen Inhalt, der uns durch die wissenschaftliche Tiefe der
Forschungen, die Kühnheit der Ideen, durch den Freimut der Über-
zeugung die höchste Achtung vor dem Menschen Lomonossov abnötigt.
Seine Panegyrien, wie sie offiziell von jedem Akademieprofessor verlangt
wurden, sind keine Schweifwedeleien. Der kluge Gelehrte erkannte sehr
wohl die Fehler seiner Herrscher. Das zeigt sich deutlich in seinen
Epigrammen, die nur in Handschriften herumgingen — selbst in dieser
Zeit hat noch keineswegs die gedruckte Literatur die Oberhand, es gibt
unendlich viel Handschriftliches — und die der „Staatsverbrecher"
Ssidorazkij in Paris unter dem Titel „Tout Lomonossov" {1900) hat er-
scheinen lassen: Pamphleten gegen die Unwissenheit und Lügen der
Geistlichkeit, gegen Peters Wüten, gegen Katharinas Fehler, gegen die
russische Gerichtsbarkeit.
In Deutschland hatte Lomonossov die Anakreontik und andrerseits
das geistliche lied kennen gelernt. Er hat beiden seinen Tribut gezahlt.
Die ersteren, wenigen, lassen kalt, klingen gezwungen; die letzteren sind
meist Psalmenübersetzungen, Paraphrasen. Aber ein paar von ihnen, ge-
rade die, in denen er selbständiger arbeitet, wie „Morgengedanken über
Gottes Größe" oder „Abendgedanken über Gottes Größe beim Er-
scheinen eines großen Nordlichts" oder sein „Herbst" zeigen schon
den Dichter, der fUhlt, der empfindet, nicht mehr den Reimer und
Versschmied.
Lomonossov hat, wie schon gesagt, den der russischen Sprache zu-
widerlaufenden syllabischen Vers aus der russischen Dichtung heraus-
gebracht; er hatte schon 1739, zugleich mit Übersendung seiner Ode
„Über die Einnahme von Chotin" seinen „Brief über die Regeln des
russischen Versbaus " an die Akademie eingesandt und deren Beistimmung
erhalten.
Lomonossov hat auch zwei Dramen ^^) geschrieben : „ Tamira und
Selim" (1750), Figuren aus der Geschichte der Krim, und „Demophont"
(17 51). Sie haben bei seinen Zeitgenossen keine Anerkennung gefunden;
auch die Elritik der Folgezeit hat sie mit den Worten abgetan, sie seien
nach pseudoklassischem Muster gearbeitet. Das letztere stimmt wohl,
bedarf aber der Ergänzung. Die allerletzte Zeit weist nach, daß
„Tamira" nicht allein auf dem genauen Studium von Gottscheds
„Versuch einer kritischen Dichtkunst", der nicht lange vorher erschienen
war, beruht, sondern daß der Anfang und auch sonst noch Einzelheiten
unter direktem Einfluß von seinem „Sterbenden Cato" geschrieben sind.
Das zweite Drama dagegen „Demophont" — aus der griechischen
Sagengeschichte — steht unter dem Einfluß von Racines „ Andromache ".
Wenn also Lomonossov und ebenso Ssumarokov die Schöpfer des
jO Sechstes Kapitel
pseudoklassischen Dramas in Rußland genannt werden, so ist das an
und für sich richtig; aber sie sind erst durch deutsche Vermittlung
darauf gekommen.
§ 19 I Um diese Kolossalfigur gruppieren sich im zweiten Viertel
des i8. Jahrhunderts ein paar Dichter und Denker, zwar minderer Art,
aber doch zeigend, daß in Rußland russisches Leben zu pulsieren be-
ginnt. Und zwar tritt gleich jetzt eine Spaltung der Geister ein, die
sich nachher immer mehr erweitem wird -r- die einen unter dem Ein-
fluß deutscher Bildung und deutscher Literatur,' die ändern unter fran-
zösischem. Da stehen auf der einen Seite, der deutschen, mehr als
Vertreter der Wissenschaft, Lomonossov und Tatischtschev , auf der
andern, französischen, mehr als Vertreter der schönen Literatur Tijed-
jakowskij, Kantjemir, Ssumarokov.
§ 20 I Tatischtschev (1686 — 1750) ist älter als Lomonossov.
Aber seine schriftstellerische Tätigkeit fallt erst in die Zeit nach Peters
Tod. Tatischtschev war in Deutschland gewesen und hatte sich an
Pufendorf, an den theologisch -philosophischen Werken Walchs und den
mathematisch -philosophischen Wolfs herangebildet. Seine allgemeine
Lebensauffassung wurde die jener großen Freidenker. Daß er sie zu
äußern wagte, spricht auch noch für seinen mutigen Charakter; man be-
denke, was für Rußland eine Erklärung bedeutete: „Das hohe Lied sei
eine Sammlung weltlicher Liebeslieder". Für seine freie Auffassung wie
für seinen Wagmut spricht auch sein „Testament an seinen Sohn"
(1734 — gedruckt lange nach seinem Tode, 1773), in dem er diesem
empfiehlt, sich mit der lutherischen, kalvinistischen, papistischen Kirche
zu beschäftigen, da man doch mit ihren Vertretern leben müsse. Das
„Testament" lehnt sich innerlich und äußerlich an Christian Weises
„Väterliches Testament". Ebenso sind in seinem „Gespräch über den
Nutzen von Büchern imd Schulen" die philosophischen Beispiele für
eine große Reihe der dort aufgestellten Fragen aus W^chs „Philosophischem
Lexikon" genommen.
Und in seinen größeren Werken, der „Geschichte Rußlands" und
dem „Russischen Lexikon der Geschichte, Geographie, Politik und Kultur"
ist, trotzdem sie kaum mehr als Materialsammlungen sind, doch die kritische
Art, wie er an die Geschichte überhaupt herantritt, das Produkt des ge-
nauen Studiums jener Philosophen. Auch diese beiden Werke sind erst
nach seinem Tode herausgekommen. Schlözer hat Tatischtschev ein
wahres historisches Genie genannt.
§ 21 I Trjedjakowskij (1703 — 1769) war, wie Lomonossov,
aus niederem Stande, ein armer Popensohn aus Astrachan. Er hatte
sich durch eisernen Willen zu derselben angesehenen Stellung wie Lomo-
nossov emporgearbeitet; er hatte eine Professur für Beredtsamkeit an
der Akademie der Wissenschaften in Petersburg. Er wird wohl hier und
Wissenschaft und Kunst nnter Feters Nachfolgern. Lomonossov ^ i
da als der Vater der russischen Ode bezeichnet — er hat außerdem
\ Satiren, Epen, Tragödien, Komödien geschrieben — , und es stimmt
auch, dafi er diese vor Lömonossov geschrieben hat. Aber während
man bei Lömonossov den wirklichen Dichter hindurchleuchten sieht, ist
Tijedjakowskijs Dichten nur Reimen, schwunglos, steifleinen, und dieses
läiift im Geleise seines Meisters Boileau, dessen Werke er auch teilweise
ins Russische übersetzt hat. Seine Vorliebe für das Französische ist zu
<
verstehen; er hatte sich unter den größten Entbehrungen eine Reise nach
Paris erkämpft. Auf Anna Iwanownas Befehl übersetzte er italienische
Opern ins Russische; er übertrug auch die lateinischen Abhandlungen
des erst erwähnten Hofhistoriographen Bayer ins Russische. Er verwarf
vor Lömonossov das Slowenische, das Kirchenslawische für die Poesie
und trat für die Volkssprache ein. Der gelehrte Sprachenkundige
nimmt also für ihn ein, der' Dichter kaum und ebensowenig der Mensch;
er war ein Muster der Überhebung und Gesiimirngslosigkeit. Charakte-
ristisch für ihn, für seine Stellung und für Rußland ist, daß er vom
Minister Wolynskij geohrfeigt wurde und bei anderer Gelegenheit Stock-
prügel erhielt
Höher in der Dichtungskunst und im Charakter steht Fürst Kan-
tjemir (1708 — 1744), angeblich direkt von Tamerlan abstammend. Seine,
Sprache ist reiner, kraftvoller, seine Verse sind nicht ohne Harmonie, er
hat eigene Gedanken. Karamsin läßt mit ihm die erste Epoche des
russischen Stils beginnen, mit Lömonossov die zweite. Kantjemir leistet
in der Dichtungsart, die am ehesten ohne den göttlichen Dichterfunken
auskommt, in der Satire, nicht Unbedeutendes, so daß er den Namen
Vater der russischen Satire verdient. Gemeint ist damit die Satire in
gebundener Form als didaktische Lyrik; sonst hat es vor ihm hervor-
ragende Satiriker gegeben, z. B. Iwan IV. Kantjemir geißelt in seinen
Satiren — es sind neun; die ersten erschienen 1729 — die Roheit
der russischen Gesellschaft und die Dummheit ihrer Kulturträger, der
Geistlichkeit. Man nennt ELantjemir ebenso richtig den „Schöpfer der
pseudoklassischen Dichtung". Er neigte sehr zu den Franzosen ; er
war unter Anna Iwanowna bevollmächtigter Minister in Paris und verkehrte
dort intim mit Montesquieu, dessen „Lettres persanes" er übersetzte.
Mit Voltaire stand er in regem Briefwechsel. In Paris hat er den ersten
russischen Salon eröffnet. In seinen Gedichten, Satiren, Oden, Ana-
kr^ontika, Fabeln sieht man Boileaus und Labruy^res Einfluß und deren
Muster Horaz '^). Seine Satiren sind übrigens ins Deutsche übersetzt wor-
den (vom Oberst Spilcker, Berlin 1752), aber bezeichnenderweise nicht
aus dem Russischen, sondern aus der französischen Übersetzung.
Über Ssumarokov als Dramatiker ist § 16 gesprochen. Er hat
außerdem Fabeln, Epigramme, Episteln, Elegien, Oden, vor allem Satiren
geschrieben. Seine Satiren haben wenig speziell Russisches, sie sind
j2 Siebentes Kapitel
mehr allgemein gehalten, gegen den Aberglauben , den Unglauben, die
Scheinheiligkeit, die Bestechlichkeit; sie alle zeigen Schärfe und einen
zum Lachen zwingenden Witz, so dafi man deutlich den Schüler Boileaus
erkennt In der Fabel folgte er gern Lafontaine.
Siebentes Kapitel
Katharina IL — Petersburg und Moskau
§ 22 1 Peters IIL Regierung war zu kurz gewesen, um Spuren zu hinter-
iasseu: was Elisabeth begünstigt hatte, wurde natürlich verdammt, und
umgekehrt. So rückten die Deutschen wieder in den Vordergrund, und
die französischen Schauspieler verschwanden. Aber die liebende Gattin
ließ ihm zur Durchführung seiner Ideen keine Zeit: nach sechsmonat-
licher Regierung war er ermordet.
Die deutsche Katharina (1762 — 1796) stieg auf den Thron und
damit eine ausgesprochene Franzosenfreundin. Ihre Vorliebe für Diderot,
Grimm, Voltaire sind bekannt. Sie vergalten es ihr ja reichlich. Grimms
Glaubensbekenntnis : Je crois en Catherine, unique quoique seconde , et
en sa bontd consubstantielle et incamde avec eile, je crois aussi en son
Saint esprit soll witzig sein, ist aber wegen seiner Speichelleckerei wohl
eher widerlich. Daß Katharina die Deutschen nicht liebte, ist ebenso
bekannt, wenn auch ihre Antwort auf die Frage nach ihrem Befinden,
als sie zur Ader gelassen war: „Es geht jetzt besser; das letzte deutsche
Blut ist fort" mehr für den Augenblick und für die betreffende Person
zurecht gemacht war. Katharina II. war vor allem eine kluge Frau, und
so hütete sie sich sehr die philosophisch-aufklärerischen-freiheiüichen
Ideen ihrer Freunde bei den Russen in die Praxis umzusetzen; sie konnte
mit solchen Genüssen ja liebäugeln, für andere war es nicht. Katharina
las mit dem größten Eifer Diderot, Giimm, Voltaire, sie las mit dem-
selben Eifer Wieland, Zimmermann, Nicolais ^, Allgemeine deutsche
Bibliothek" und äußerte sich: „Die teudeske Literatur läßt die ganze
übrige Welt weit hinter sich und marschiert mit Riesenschritten". Diese
Popularphilosophie schien ihr für die Erziehung und Bildung des Volks
doch praktischer als die auf den Umsturz hinauslaufende Philosophie der
Franzosen.
Es ist richtig, daß sich .zwischen den beiden Hauptstädten eine
Trennung vollzog; in der alten blieb der deutsche Einfluß geltend, in
der neuen entschied man sich für den französischen — ein allgemein
menschlicher Zug : da die alte Hauptstadt dies tat, mußte die neue jenes
tun. Daß sich aber Katharina für den französischen restlos eingesetzt
hätte, geht zu weit; sie nahm das Gute, wo sie es bekam.
Die Erziehung blieb auch in Petersburg den Deutschen. An der
Universität bzw. Akademie lagen, wenn auch an ihrer Spitze Russen
Katharina II. — Fetersbarg und Moskau jj
■ II. i III ■ I 1 ■ I I - j I I
Standen, die Hauptfächer nach wie vor in den Händen von Deutschen.
Zu den schon früher genannten Namen von Bayer, Euler, Schlözer,
Pallas kommen neue : der aus Rügen stammende Rechtslehrer Gadebusch,
der eine neue Prozeßordnung für Rußland entwarf und die Frage der
Leibeigenschaft anschnitt; der Historiker Bacmeister — er hat Lomo-
nossovs „Russische Geschichte'* ins Deutsche übertragen — ; die Natio-
nalökonomen Friebe und Storch, Für das medizinische Studium er-
richtete Katharina die Kalikin-Schule, an der die Unterrichtssprache Deutsch
war. Der als Arzt wie als Dichter gleich berühmte J. G. von Zinmier-
mann vermittelte den Eintritt vieler deutscher Ärzte in russische Dienste.
Die großartigen Wasserverbindungen im Reiche haben der österreichische
Baumeister Joh. Konrad Gerhard und der Balte Graf Jakob Joh. Sievers
geschafifen. Die befähigten jungen Russen schickte Katharina nach
Göttingen, Leipzig, Königsberg, und um die furchtbare Unwissenheit des
niederen Volkes zu heben, richtete sie Volksschulen ein. Sie trat zu
dem Zweck mit Basedow in Verbindung und wollte, daß er nach seinem
„Philanthropin'* ähnliche Institute, „ Katharineums '* , schaffe. Zur
Besiedlung der Wolgagebiete rief sie deutsche Hermhuter, zur Besied-
lung Südrußlands deutsche Mennoniten herbei; eine ganze Reihe von
Städten im Gouvernement Ssaratov und in Ssamara weisen auf deutschen
Ursprung hin: Aargati, Zug, Luzem.
Katharina verschmähte es nicht selber Lehrmeisterin zu sein^^). Sie
war schriftstellerisch außerordentlich tätig, und diese Tätigkeit war zum
guten Teü wieder auf deutscher Grundlage aufgebaut. Sie hat zur Volks-
erziehung eine ganze Anzahl Dramen geschrieben. Unter ihnen sind
mehrere nach Shakespeare ^'^) gearbeitet „Wie gut es ist, einen Wasch-
korb und Wäsche zu haben" ist Shakespeares „Lustige Weiber"; ihre
historischen Stücke „Aus dem Leben Ruriks" und „Der Regierungs-
anfang Olegs" sind „eine Nachahmung Shakespeares", d. h. seines „König
Johann"; ihr „Verschwender" ist eine Überarbeitung von „Timon von
Athen". Und auf Shakespeare war sie durch Eschenburg gekommen.
Unter ihrer Regierung hatte sich die Freimaurerei stark ausgebreitet, so
stark, daß sie ihr eine Gefahr für den Staat schien; außerdem hatte der
angebliche Graf CagHostro, ein Betrüger schlimmster Sorte, die ganze
vornehme Gesellschaft in seinen Bann geschlagen. Durch die Komödien
„Der Betrüger" (1785), „Der Betrogene" ' (1785), „Der sibirische
Schaman" (1786) ergoß sie ihren Spott über ihn imd seine Anhänger;
zugleich enthielten sie Warnungen für die Freimaurer. Die drei Lust-
spiele sind auch ins Deutsche übersetzt, und das erste ist in Hamburg
oft aufgeführt worden. Katharina hat noch viele Stücke, Tragödien,
Koinödien, Opern, Singspiele geschrieben; sie selber verfaßte sie deutsch
oder französisch und ließ sie dann ins Russische übersetzen ; ihre eigenen
russischen Kenntnisse waren nur mäßig.
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 3
^A Achtes Kapitel
Katharinas „Nakas" (1767) sind der neuen Zeit angepaßte Aus-
fuhrungsbestimmungen zum alten Ukas (Gesetz). Der Nakas ist eüt-
commen aus Montesquieu, Beccaria, Voltaire und aus Friedrichs des
Großen „Antimachiavel"; die Form hat dem Buch Graf Sievers gegeben.
In anderen Ländern waren Monatsschriften sehr beliebt geworden.
Rußland hatte auch schon solche gehabt; der Historiker Müller und
Ssumarokov hatten in den Fünfzigerjahren mehrere herausgegeben.
Katharina griff von neuem dies Volkserziehungsmittel auf. Sie beteiligte
sich selber an der Wochenschrift „Verschiedenes Allerlei" (1769), die
mit ihrem erzieherischen Inhalt allerdings dem russischen geistigen Stand-
punkt stark angepaßt war: „Du sollst dich täglich kämmen". Erst
spätere Zeitschriften wie Nowikovs „Drohne" und „Maler" hoben diese
Art der Literatur auf einen den übrigen europäischen Ländern eben-
bürtigen Stacdpirnkt.
Zunächst nur ftir ihre Enkel ausgearbeitet, dann auch ftir die All-
gemeinheit bestimmt war ihre „Bibliothek", ein großes Unterrichtswerk,
auf Locke und Basedow aufgebaut. Katharina schrieb bisweilen gut;
ihre „Kindermärchen", besonders das „Märchen vom Prinzen Chlor"
sind hübsch.
So hat Katharina mittelbar und unmittelbar regen Anteil an det
russischen Literatur. Bei allem ist sie außerordentlich mit dem Kopf
beteiligt, wenig mit dem Herzen. Es war bei ihr, hierin wie in ihrem
ganzen Tun, das meiste auf den äußeren Schein eingestellt; die „Pot-
jomkinschen Dörfer" sprechen ja eine beredte Sprache, und trotz ihrer
Aufgeklärtheit dauerten auch unter ihrer Regierung die entsetzlichsten
Folterungen und Qualen der politisch Verdächtigen fort. Daß gegen
Elatharina auch nach und nach eine sehr bedeutende Opposition auftrat,
wird sich bald zeigen.
Achtes Kapitel
Die französische und die deutsche Richtung. —
Die Freimaurerei. — Djershawin
§ 23 I Katharina stand also, sofern ihr die Deutschen nicht nützen
konnten, auf französischer Seite, und mit ihr viele Gebildete; der fran-
zösische esprit, die Voltairesche raison haben ja auch heute noch An-
ziehungskraft, und zwar berechtigte. Diese Richtung konzentrierte sich,
wie gesagt, in Petersburg. Das Bild bleibt jedoch unvollkommen, wenn
man nun von Moskau sagen wollte, man sei dort im alten deutschen Geleise
geblieben. Im Gegenteil, gerade die Jugend Moskaus rührte sich außer-
ordentlich, freilich wieder in deutscher Richtung. Aber diese war auch
im Heimatlande eine andere geworden. Man war dort den Franzosen
entgegengetreten und hatte sie aus dem Felde geschlagen. In Moskau
Die französische nnd die denUche Ricbtnng. — Die Freimanrerei. — Djershawin j J
rüstete sich jetzt die Jugend gleichfalls dazu. Mit an erster Stelle hat
hierzu die Freimaurerei beigetragen.
Die Freimaurerei ^®) hat nur kurze Zeit in Rußland existiert, von 1 7 7 1
bis 1794 und dann von 1802 bis zu ihrer endgültigen Schließung wegen
„revolutionärer Umtriebe'* im Jahre 1822. Ihr haben in dieser kurzen
Zeit auch noch viele Schlacken, viel Mißgunst, Neid, Zank angehaftet.
Aber ihre Grundgedanken waren edel: Sittliche Hebung des einzelnen,
Nächstenliebe, Opfersinn. Die Freimaurer kämpften für sittliche Werte,
für höhere Güter gegenüber dem Materialismus und Atheismus. An der
Spitze der Moskauer Freimaurer ^^) stand der aus Deutschland stammende
Professor Schwarz, der sowohl durch seine moralphilosophischen Vor-
lesungen über Spinoza und Rousseau als auch durch seine Vorträge über
englische und deutsche Literatur im Sinne der „ Sentimentalität *' außer-
ordentlichen Einfluß auf die jungen Studenten ausübte und sie, „ohne
daß sie es recht merkten '% von der materialistischen Seite zu der Gefühls-
philosophie Rousseaus hinüberzog. '
Mit ihm eng befreundet und sein Nachfolger in der Führung war
der Deutschenfreund N. J. Nowikov (1744 — 18 18), ein Organisations-
talent ersten Ranges. Der frühere Voltairianer und Ismailovsche Offizier,
der die Palastrevolution für Katharina mitgemacht hatte, war, unbefriedigt
in seinem Beruf und in seinem Voltairianismus, zu den Freimaurern über-
gegangen und hatte sich dann, als er durch Schwarz Gewissensruhe ge-
funden, ganz in ihren Dienst gestellt. Seine philanthropische Tätigkeit
ist geradezu großartig in ihrer Art: er richtete Volksschulen, Kranken-
häuser, Apotheken, Buchdruckereien ein. Er gründete literarische Ge-
sellschaften („Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft")» Zeitschriften,
erst die freimaurerische „Das Morgenlicht*', dann satirische Blätter „Die
Drohne" (1769) und „Die Maler" (1773). Breitingers „Diskurse der
Maler" hatten ihm den Titel und Inhalt gegeben. Seine Bücher wie
seine Zeitschriften propagieren die deutsche Geschmacksrichtung gegen-
über dem französischen Pseudoklassizismus. Nowikov wurde auch Her-
ausgeber der „Moskauer Nachrichten" ^ 7).
Nowikov hat sich sehr große Verdienste um das leibliche wie das
geistige Wohl des russischen Volkes erworben, was nicht hinderte oder
was vielmehr dazu beitrug, daß er wegen „revolutionären Treibens"
4V2 Jahre in Schlüsselburg strengste Kerkerhaft hatte.
Von diesen beiden Männern aus ergoß sich ein Strom der Bildung
unter die studierende Jugend wie überhaupt unter die Gebildeten. Mit
ihnen verkehrten auf das engste der junge Karamsin, dann Kutusov, der
Übersetzer des „Messias", Labsin, der Übersetzer von Jung-Stilling,
J. Turgenjev,^ Lopuchin u. a. Ein sehr anschauliches Bild der
bewegten freimaurerischen Zeit gibt Tolstoj in seinem „Krieg und
Frieden".
9 6 Achtes Kapitel
Nowikov ist auch sonst für die russische Literatur ^®) von Bedeutung
gewesen. £r ist der erste in Betracht kommende Bibliograph. Sein
y, Versuch eines historischen Wörterbuchs über die russischen Schrift-
steller" ist in Anbetracht des vor ihm existierenden wenig zuverlässigen
Materials höchst anerkennenswert. Ähnliches will seine „Historische
BibHothek".
Die Moskauer Jugend rührte sich, wie gesagt. Zunächst lernte sie
aber noch. So gehen denn einstweUen noch beide Richtungen neben-
einander her.
§ 24 I Französisch gerichtet sind die jetzt in die Erscheinung treten-
den literarischen Zirkel, die Salons. Nach französischem Muster
gebildet, kultivierten sie französische Sprache und Literatur, schlössen
aber keineswegs das Deutsche aus. Ja, im Salon des Fürsten Lwov
waren die tonangebenden Persönlichkeiten die Deutschenfreunde Djershawin
und Chemnizer, und im Salon der Fürstin Daschkowa, der ersten, lang-
jährigen Präsidentm der auf ihre Anregung 1783 gegründeten „Russischen
Akademie", verkehrte sogar Radischtschev. Die Daschkowa war offen-
bar eine kluge, gebildete Frau; daß sie aber Präsidentin der Akademie
wurde, war eine Dankesabtragung vonseiten Katharinas, da sie durch ihre
Koketterie den General Panin zur Beseitigung Peters geködert hatte. Sie
gehörte ofifenbar zur französischen Gemeinde, sie machte neben russischen
Versen gern französische. Aber bei Eröffnung der Akademie hob sie
ostentativ hervor, daß sie sich als Präsidentin „unter den Schutz des
blinden Vaters der Mathematik" Euler stelle. Sie schickte mit Vorliebe
die jungen Studenten nach Göttingen, und mit Djershawin gründete sie
die Zeitschrift „der Gesellschafter" (CoöeciÄHHKx). Als ihr Katharina
„be&hl", ein Drama zu verfassen, schrieb sie zu Kotzebues ,, Armut und
Edelsinn" eine Fortsetzung „Die Hochzeit des Fabian" oder „Die be-
strafte Geldgier". ♦
Auf französischem Boden steht der als Dramatiker seiner Zeit sehr
geschätzte Fonwi sin (1745 — 1792). Berühmt wurde er durch die beiden
satirischen Lustspiele „DeY Brigadier" (1764) und „Der Unerwachsene"
(1782) — gewöhnlich „Der Landjimker" betitelt. Beide Stücke geißeln
die Sittenroheit, Unbildung und Scheinhelligkeit seiner Landsleute , ihre
falsche Erziehung nach französischem Muster, und das Nachäffen
französischer Sitten. Das läßt ihn zunächst nicht als Anhänger der Fran-
zosen erscheinen, aber sein scharfes Auge und sein schärfer Verstand
konnten unmöglich an diesen Gebrechen seiner Zeit vorbeigehen. Fran-
zösisch ist doch sein ganzer Gedankenkreis; auch die Sprache läßt den
FranzÖsling erkennen. Damit ist mm keineswegs gesagt, daß er das
Deutsche nicht gekannt oder gar verachtet hätte. Er stammte von Deut-
schen ab, vom alten Rittergeschlecht „von Wiesen", das zum Orden der
Schwertbrüder gehört hatte ; er war auch deutsch erzogen — Reichel war
Die franxösiscbe nnd die dentsche Richtung. — Die Freimanrerei. — Djenhawin 9 n
sein Universitätslehrer in Moskau gewesen. Französischen Geist atmet
offenbar sein satirisches Journal „Der Freund der ehrenwerten Leute'',
aber in diesem ist z. B. der Briefwechsel zwischen dem Gutsbesitzer
Durykin und Starodum, in dem es sich um die Wahl eines Lehrers für
Gutsbesitzerkinder handelt, weiter nichts als eine Überarbeitung aus Rabe-
ners satirischer Schrift ,, Schreiben eines vom Adel an einen Professor,
in welchem einen guten Hofmeister zu wählen gebeten wird'' und ,, Ant-
wort des Professors nebst zwo Taxen von einem geschickten und elf un-
geschickten Hofmeistern".
In französischer Richtung laufen auch die Tragödien uud Komödien
Knjashnins (1742 — 1794). Seine besten Tragödien „Jaropolk
und Wladimir" und ,,Wladissan" sind Kopien, die erstere von
Racines „ Andromache ", die zweite von Voltaires „Mdrope". Ganze
Szenen, ganze Akte sind einfach Übersetzungen. Man brauchte ihn des-
halb gar nicht zu erwähnen, wenn die Stücke nicht doch einen Vorzug
gegen die Vorzeit aufwiesen: ihre Sprache ist reiner, ihr Vers glatter.
Aber sonst sind sie abgesehen von den Namen französisch, fem von der
russischen Wirklichkeit, von der Wirklichkeit überhaupt; ebenso sind seine
Komödien „Der Prahler", „Der Sonderling".
Näher der Wirklichkeit, weil russische Leute und russische Verhält-
nisse herausgreifend, steht Kapnist (1757 — ^^^3)- Seine Komödie
„Ränke" (1798) geißelt die Bestechlichkeit und die Verleumdung, die
im russischen Gericht herrschte. Die Anlage des Stückes ist jedoch
französisch. Es rief übrigens die heftigste Erbitterung der Beamten her-
vor und durfte lange nicht gegeben werden.
Bei den Russen hatten sich mitlerweile alle Arten der Poesie ein-
geführt; eine fehlte noch — das Epos. Bei allen übrigen Völkern hatte
es seine Triumphe gefeiert, bei den Italienern Tassos „ Befreites Jerusalem ",
bei den Engländern Miltons „Verlorenes Paradies", bei den Franzosen
„ Die Henriade ", bei den Deutschen „ Der Messias ". Fehlte noch Ruß-
land. Lomonossov hatte sich darin versucht, war aber in seinem „Peter
der Große'' nicht über zwei Gesänge hinausgekommen. Cheras^kov
O733 — 1807) wählte die „Rdssiade" (1779), die den Höhepunkt in der
Geschichte Rußlands, die Eroberung Kasans durch Iwan IV., verherrlichen
soll. Der Titel ist pompös gewählt, der Stoflf minimal. Was Cherasskov
wollte? Seine Herrscherin Katharina 11. rückte die „östliche Frage"
d. h. die Vertreibung der Türken aus Europa in den Vordergrund, und
da wollte sich der Patriot und Christ empfehlen, indem er seine Kaiserin
und ihre Pläne mit der großen Vergangenheit in Zusammenhang brachte.
Sonderbar war ja, daß der Befreier vom tatarischen Joch gar nicht
Iwan IV. gewesen, sondern 100 Jahre vorher Iwan UI. Trotzdem
hat sich „ die Rossiade " in jener Zeit Ansehen erworben ; selbst Karamsin
nennt sie ein hervorragendes Werk. Weshalb sie gefiel? Weil man da-
9 g Achtes Kapitel
mals den Bombast, das Gespreizte, das Fremde, kurz die ganze Unnatur
des Pseudoklassizismus liebte, und pseudoklassisch ist sie ; Iwan IV. und
seine Fürsten und seine Heerführer sind gar keine Russen, die Tataren
keine Tataren, sondern griechische oder trojanische Helden oder fran-
zösische Ritter.
Cherasskov hat noch ein Epos „Wladimir ^' (17S5) geschrieben, das
von Wladimir dem Großen, der das Christentum in Rußland eingeführt
hat, handelt — es hat wenig Anklang gefunden, weil es den Grund-
gedanken des Epos verletzt : es erzählt zu wenig, bringt zu wenige historische
Ereignisse, bewegt sich dafür in allegorischen Betrachtungen.
Cherasskov schrieb noch Oden, Anakreontika, Erzählungen nach
französischem Vorbild. Er war jedoch keineswegs ein Deutschenhasser.
Als Kurator der Moskauer Universität zog er die Deutschen heran;
Schwarz und Nowikov waren durch ihn berufen.
Einen durchschlagenden Erfolg hatte dagegen em anderes Epos
„Duschenka'' von Hippolit Bogdanowitsch (1743 — 1803), nur eine
Umarbeitung der Lafontaineschen „ Psyche *', jedoch auf russischen Boden
versetzt. Aber wie der Franzose mit der alten Fabel des Apulejus seinen
Erfolg dadurch erzielt hatte, daß er alles auf französischen Boden brachte
tmd auf französische Verhältnisse übertrug, so ist „Duschenka** eine
russische Märchenprinzessin, und russische Verhältnisse reden zu uns, und
wenn wir nun noch hinzufügen, daß sein Vers sich frei macht von allen
„Reguln", daß sein scherzender Ton ein natürlicher ist, daß die Bilder
sich an unsere Phantasie und an unser Gefühl wenden, dann haben wir
trotz der französischen Grundlage die deutsche Richtung. Vom heutigen
Standpunkt aus mag sein Werk ja anmuten, als „tanze jemand Menuett
in Bauemstiefeln 'S aber den Zeitgenossen gefielen die Verse mit ihren
wechselnden Reimen und der wechselnden Silbenzahl, die Befreiung von
Steifheit und Schwulst.
§ 25 I Und damit sind wir zur Deutschrichtung gekommen. Von
Bedeutung ist hier Chemnizer (i744[i745] — 1784), besonders als
Fabeldichter. Chemnizer war von Geburt Deutscher ; seine Eltern stammten
aus dem sächsichen Freiberg, in dem Lomonossov studiert hatte. Seine
„Fabeln und Erzählungen" (1779) sind ein Muster von einfacher und
natürlicher Sprache. Er ist ganz Geliert. Schon der Titel seines Buches
ist dem Gellertschen nachgebildet, imd unter seinen 30 Fabeln sind 18
direkt aus Geliert genommen, und von den übrigen lehnt sich auch noch
ein Teil an ihn an; so ist sein „Bauer mit der Last" Gellerts „Rei-
sende" und sein „Schlaukopf" Gellerts „Hans Nord". Einige klingen an
Lafontaine an. Chemnizers Fabeln sind satirisch-lehrhaft. Die Satire trat
damals sehr in den Vordergrund; es war eben trotz der katharineischen
Tünche manches faul im Staate.
Die französische und die deutsche Richtung. — Die Freimaurerei. — Djershawin ^g
Die Fabel ist immer in Rußland eine sehr beliebte Dichtung ge-
wesen. Elantjemir, Tredjakowskij, Ssumarokov, Lomonossov hatten Fabelo
geschrieben. Auch W. J. Majkov (1725 — 1778), der sonst als Über-
setzer von Friedrichs des Großen Gedichten bekannt ist, auch im komi-
schen Epos mit etwas obszönem Einschlag nicht Unbedeutendes leistet,
war ein guter Fabeldichter, ebenso J. J. Dmitrijev (1760 — 1837), der
spätere Justizminister ; aber Chemnizer übertraf diese bei weitem durch seinen
klaren, ungezwungenen, natürlichen, dem Volksdenken genau angepaßten
Ausdruck. Nach ihm kam allerdings ein noch Größerer, Krylov.
Chemnizer hat neben Fabeln- auch Festoden, Satiren, Epigramme ge-
schrieben, ohne besonderen Wert.
Chemnizers Fabeln waren beliebt wegen ihrer Satire. Kritik und
Satire beherrschen, wie gesagt, diese ganze Zeit. Ntir mußten sie zahm
sein; sonst traf der Blitzstrahl, wie er den alle diese Leute überragen-
den Radischtschev traf.
Radischtschev*^) (1750 — 1802) ist sehr berühmt, auch sehr be-
dauernswert gewesen. Seine Berühmtheit brachte ihm sein Todesurteil
ein, gnädigst ersetzt durch Verschickung nach Sibirien, der Transport
natürlich in Ketten; und der Aufenthalt dort war für ihn so entsetzlich
gewesen, daß er, als nach seiner Begnadigung durch Paul I. sein Vor-
gesetzter ihm im Scherz mit einer abermaligen Verbannung nach Sibirien
drohte, er sofort zum Gift und zum Rasiermesser griff. Er war einer
von jenen jungen Leuten gewesen, die Katharina zum Studium nach Leipzig
geschickt hatte; er hatte sich dort an Geliert und an den sehr beliebten
Professor der Philosophie Plattner angeschlossen; Geliert legte er seine
literarischen Versuche vor. Radischtschevs Aufsehen erregendes Werk, die
Quelle seines Ruhms und seines Unglücks, war die 1790 erschienene „Reise
von Petersburg nach Moskau ", dem Titel nach unverfänglich, dem Inhalt nach
die schwerste Anklage gegen die russische Justiz, gegen die russische Regierung,
gegen die vornehme Gesellschaft, gegen die verrotteten Zustände im ganzen
Reich; auch die Leibeigenenfrage wird scharf angeschnitten, der Verkauf
ganzer Bauemfamilien, das ius primae noctis der Herren usw. Man hat
früher gesagt, wohl durch Puschkin falsch geleitet, Radischtschev habe
seine Ansichten einerseits auf den Franzosen aufgebaut, andrerseits sei
sein Werk, wie schon der Titel zeige, eine Nachbildung von Sternes
„Sentimental Joumey*'. Diese äußere Anlehnung an Sterne stimmt aller-
dings, aber eben nur die äußere, sonst hat die neuere Kritik gefunden,
daß seine Äußerungen über Glaubensduldung, seine Verteidigung der
Glaubensfreiheit, seine Auffassung vom Staatsgebilde, von wirklicher
Kultur nur Widerspiegelungen der Gedanken Plattners waren. Und seine
Äußerungen über die Zensur zeigen ein genaues Studium von Herders
Forderungen betreffend die Freiheit des Druckwortes. Die Gräfin Dasch-
kowa sah darin auch „Nachwirkungen** von Klopstock.
AQ Achtes Kapitel
Ebenso wie sein Hauptwerk aus deutschem Boden wächst, so
beraht seine in Sibirien verfaßte Schrift „Über den Menschen, über seine
Sterblichkeit und seine Unsterblichkeit '' neben Hinweisen auf Locke und
Rousseau auf dem Studium Leibniz' und Mendelssohns.
Böse Kritiker sehen wir auch in Radischtschevs Freundeskreis. Am
nächsten stand ihm in Leipzig der junge Uschakov, der sich im Alter
von 21 Jahren vergütete. Radischtschev gab seine Biographie heraus,
die erste Biographie eines russischen Privatmannes. Kutusov hat er
seine „ Reise " gewidmet Kutusov war ein glühender Verehrer deutscher
Dichtkunst, vor allen Klopstocks, von dessen „ Messias *' er die ersten
IG Gelänge übersetzt hat. Fürst Schtscherbatov^^) hat zahmer und
etwas maskiert dasselbe Thema wie Radischtschev in seiner Schrift
„Schädigung der Sitten in Rußland'* behandelt. Er bricht den Stab
über die Sittenverderbnis zu Katharinas Zeit und lobt im Gegensatz dazu
die Vergangenheit. Er ist auch der Verfasser einer umfangreichen Geschichte
Rußlands, welche die Grundlage von Karamsins Werk' wurde.
§ 26 I An der Spitze der Deutschrichtung steht, über allen, auch
über den Franzosenanhängem, Djershawin ^^). Djershawin ist der be-
deutendste Dichter Rußlands vor Puschkin; denn Karamsins Bedeutung
liegt nur zum Teil auf poetischem Gebiet, er ist mehr Schriftsteller, mehr
Kritiker. Und von den vorhergehenden übertrifit ihn vielleicht dieser
oder jener auf diesem oder jenem Gebiet, wie Chemnizer in der Fabel.
Alle jedoch haben immer nur ein Gebiet; Djershawin zeigt sich auf vielen
als Meister.
Djershawin (1743 — 1816) ist deutsch erzogen; allerdings war
er nicht wie Lomonossov in Deutschland selber. Der Sohn eines Oren-
burger Landedelmanns, wurde er im Hause erzogen und zwar — charak-
teristisch für Rußland — durch einen zur Zwangsarbeit verschickten Deut-
schen. Das Verdienst dieses Mannes ist groß, denn er machte den Knaben mit
Hauer, Hagedom, Geliert, Kleist, Klopstock bekannt und schuf so Eindrücke,
die der Maßstab der ganzen dichterischen Laufbahn Djershawins geworden
sind. Er beschäftigte sich mit diesen Dichtem noch mehr, als er nach Ssaratov
in die große Deutschenkolonie als Offizier zur Unterdrückung des Puga-
tschowschen Aufstandes kommandiert war. Im Sinne dieser Vorbilder
ist Djershawins ganze Dichtung aufzufassen; ihnen ist er treugeblieben,
auch* im Alter, obwohl sein langes Leben ihn auch mit Goethe und
Schiller bekannt werden ließ. Djershawin war ein gebildeter Mann — er
' war Gouvemeur, dann Senator und Präsident des Kammerkollegiums und
schließlich Justizminister — ; er konnte natürlich auch französisch und
englisch ; er hat sich eingehend mit Sterne, mit Ossian beschäftigt. Aber
sein Herz blieb bei den Deutschen.
Er hat früh mit Dichten begonnen, mit Scherzgedichten, Madrigalen,
Epigrammen, sich zunächst aber auf Übersetzungen beschränkt. Er
Die französische and die deutsche Richtong. — Die Freimaurerei. — Djershawin j,i
übertrug einen Teil von Klopstocks „Messias*^, you Fdnelons „T^l^-
maque'S von Friedriefe des Großen Oden „Oden tibersetzt und verfafit
am Tschitalagaj-Berg '* (1776 — sie stammen aus seiner Kommandozeit
an der Wolga; der Tschitalagaj-Berg liegt bei Ssaratov). Die beiden
ersten Übersetzungen sind verloren gegangen; sie existierten nur hand-
schriftlich — auch jetzt nimmt die handschrifUiche Literatur, aus poli->
tischen Gründen, noch einen großen Raum ein.
Das erste selbständige Werk ist die große Ode „Feliza** (1782), eine
Verherrlichung Katharinas. (Katharina hatte in ihrem Märchen vom
Prinzen Chlor die gütige Fee, die dem Prinzen die Rose ohne Domen
suchen hilft, Feliza genannt.) Sie hatte Erfolg, den größten natürlich
bei der Verherrlichten, die daraufhin die „Akademie der Künste*' ins>
Leben rief und die Fürsten Daschkowa veranlaßte, eine besondere Zeit-
schrift „den Gesellschafter der Freunde der russischen Literatur" zur
Pflege der Literatur zu gründen.
Hatte schon „Feliza" großes Aufsehen erregt, so tat dies noch mehr
seine Ode „An Gott** (r784). Mit ihr wurde eigentlich sein Dichter-
ruhm für sein ganzes Leben gesichert. Und gerade auf diesen Gedichten
baut sich der Vorwurf auf, er arbeite ganz im Schwulst Lomonossovs.
Das triflt jedoch nur zum Teil zu ; es ist manches Schwülstige, Gespreizte,
Hochtrabende vorhanden, da ist er der Schüler Lomonossovs. Aber
er hat noch einen anderen Ton: Djershawin ist Rußlands Klopstock.
Der ernste, gravitätische, feierliche, heilige Ton von Klopstocks „Messias**,
von dem er ja Teile, übersetzt hatte, der religiös-erhabene Schwung dieser
Sprache war ihm eigen geworden. Das ist etwas anderes als der Prunk
und der Schwulst in Worten; bei ihm handelt es sich um Gedanken, um
Empfindungen, um naturwahre Bilder. Alle seme Lieblingsdichter haben
dieses Thema behandelt — es war eben Zeitthema — Klopstock in
seiner Ode „An Gott**, Haller in seiner „Ewigkeit**, Hagedom in seinen
„Gedanken über einige göttliche Eigenschaften**, Geliert im „Lob des
Schöpfers'*, Kleist, Herder in „Gott**, und so fem diese Dichter von
Opitz stehen, so fem ist Djershawin von Ronsard und Lomonossov. Auf
der anderen Seite hat man ihn einfach als Plagiator dieser hingestellt;
das tut gewissermaßen noch sein sonst so verdienter Herausgeber Grot.
Das ist auch verfehlt : natürlich werden bei einem solchen Thema manche
Gedanken, auch gewisse Wendungen imd Ausdrücke wiederkehren, und man
kann da wohl von Einwirkungen, sprechen, aber das ist weit von
sklavischer Nachahmung.
Djershawin war Hofdichter; man hat ihn oft den „Sänger Katha-
rinas** genannt, ihn wegen „Feliza**, wegen seines „Traumes eines
Mursen** (1783 — Djershawin hielt sich für den Abkömmling emes
Mursen, Fürsten, aus der Goldenen Horde), gleichfalls einer Verherrlichung
Katharinas, und wegen mancher Gelegenheitsgedichte, die er als Hof-
^2 Achtes Kapitel
dichter zu Hoffestlichkeiten zu verfassen hatte, der Schweifwedelei ge-
ziehen. Wir Deutschen neigen gern dieser Auffassung zu, indem wir an
unsere „Hofdichter", die Canitz, König, Besser, denken. Was uns aber
diese so widerwärtig macht, ihre Lüsternheit und Gemeinheit, das fehlt
bei Djershawin, und Hofdichter und Hofdichter ist ein Unterschied —
Lomonossov war sogar ein „Grobianus", und bei Djershawin ist doch
sonst nichts Lakaienhaftes; warum sollte also das Lob, das er seiner
Herrscherin spendet, nicht auch innere Überzeugung sein können? Auch
Moli^re ist Hofdichter gewesen.
Das Gelegenheitsgedicht nimmt bei Djershawin einen weiten Raum
ein. Wie tief empfunden ist da seine Ode „An Sappho^S in der
er seinen Schmerz über den Tod seiner ersten Gattin ausdrückt!
Sicher hat er das aus gleichem Anlaß niedergeschriebene Gedicht Hallers
gekannt und ist auch vielleicht dadurch inspiriert worden, aber gemein-
sam haben beide Gedichte nur das Ereignis und einzelne damit natur-
notwendig zusammenlaufende Gedanken. *
Zur ersten Periode von Djershawins Dichtkunst, der feierlichen
nach Klopstocks Muster, zählen seine naturbeschreibenden Gedichte: er
ist für Rußland der Schöpfer der Naturbeschreibung, des
Idylls geworden. Zu diesen rechnet vor allen sein „Wasserfall" (17 91).
Als er Gouverneur von Olonjez (Firiland) war, hatte er dort den mächtigen
Wasserfall Kiwatsch, der heute jährlich von vielen Tausenden angestaunt
wird, besucht und bewundert. Auch Lomonossov hat sich in der Natur-
beschreibung versucht; aber wie arm, wie empfindungslos nimmt sich
seine Poesie der Djershawins gegenüber aus! Die Wucht, die Majestät
des Falles steht anschaulich vor unsem Augen, dröhnt in unser Ohr;
andrerseits spüren wir mit ihm die Stille des umgebenden Urwaldes, sehen
wir den Beherrscher dieser wilden Einsamkeit, den schleichenden, rauben-
den Wolf, die flüchtige Hirschkuh. Freilich stören die vielen Reflexionen;
der ewige Lauf des Wassers muß zu einem langen Vergleich mit dem
Lauf des Lebens herhalten. Auch stört die Länge des Gedichts über-
haupt. Aber wenn wir dieses ausscheiden, dann steht doch ein wirk-
liches Idyll vor uns, das erste in Rußland.
Schöne Naturbilder bieten auch sein „ Spaziergang in Zarskoje Ssjelo ",
„An die Muse", „Die Wiederkehr des Frühlings", „Auf den Übergang
über die Alpen" (gemeint ist Ssuworovs Übergang über den St. Gott-
hard); „Das Haus der Dobrada"**) (Dobrada ist eine gütige Fee) u. a.
Bei manchen hat ihm, nach eigenem Geständnis, Geßner vorgeschwebt,
auch Klopstock, auch Ossian.
Das war der jüngere Djershawin ; dem älteren öffnete das Leben die
Augen, daß er über der philosophierenden „schweren" Dichtkunst
Hallers — er hatte ihr übrigens auch im „geistlichen Lied" seinen Tribut
gezollt — , die leichte Hagedoms ganz übersehen odpr sie nicht genügend
f
Die französische and die deutsche Richtang. — Die Freimaarerei. — Djershawia a2
verstanden hatte. Der ältere suchte sich aus den Kümmernissen dieser
Welt, dem Verdruß und den Mißhelligkeiten herauszuretten und fand Er-
holung in der frischen, leichten Poesie der deutschen Anakreontiker. Und
verwandt mit der Anakreontik Hagedoms war die scherzende, witzige
Art der Fabel Gellerts. In Deutschland hatte Geliert eine Legion von
Fabeldichtern heraufbeschworen; in Rußland war sie, wie wir schon ge-
sehen, nicht weniger beliebt. Djershawin hatte schon ein paar Fabeln
in der Jugend geschrieben; kultiviert hat er sie erst in den späteren
Jahren. Noch 1810 und 181 1 sammelte er alle wieder und brachte
sie mit manchen Verbesserungen heraus. Sie zeichnen sich durch eine
leichte, gefällige Sprache, durch Witz, Laune, Ungezwungenheit aus. Zum
Teil sind sie stark politisch-satirisch gehalten, gegen Alexander, gegen
die Minister, selbst gegen Araktschejev. Djershawin hat Humor: so ent-
scheidet er sich in der Fabel „Der Tod und der Greis" nicht für den
Schluß, den Äsop, Lafontaine ihr geben, wo der Alte auf die Frage des
Todes, was er denn jetzt tun solle, antwortet, „er möge ihm doch beim
Aufheben der Last helfen", sondern er schließt mit Hagedoms Wen-
dung „Freund, geht zu meinem Nachbar hin!"
Der Kult Anakreons in Rußland ist durch Djershawin gekommen.
Es hatten schon vor ihm Lomonossov, Ssumarokov, Kantjemir anakreon-
tische Gedichtie geschrieben, es waren Versreimereien gewesen. Der
erste wirkliche Anakreontiker in Rußland war Djershawin. Angeregt
war er durch zwei 1794 erschienene Bücher, durch „die Nachahmung
des Alten" von seinem Amtskollegen in Petrosawodsk N. Em in und
durch Lwovs Ausgabe des „Anakreon". Neben diesen Büchern holte er
sich aber Rat bei seinen deutschen Freunden. Manche Gedichte seiner
ersten Sammlung (1794) klingen an Herder an („Herkules"; seine
„Fesseln" an „Hellas Veilchen"), auch an Goethe („An Lisa" ist das
„Heideröslein" ; „Die Grille" ist Goethes „An die Zikade"). Ein Teil
seiner Anakreontika ist recht derb, wie bei unsem Anakreontikem. Aber
wie wir wissen, daß bei unsem Dichtern ein großer Unterschied zwischen
der grünen Theorie und der Wirklichkeit war, daß sie sich oft in Wein
und Liebe berauschten in — Worten, so darf man nicht etwa auf einen
lockeren' Lebenswandel in seinen alten Tagen schließen. Auch der
fromme Geliert hat die „Schwedische Gräfin" geschrieben. Man kommt
wohl am ehesten mit der Antwort Jean Baptiste Rousseaus auf die Frage,
wie er zugleich so fromme Oden und so frivole Lieder habe schreiben
können, fort, „er habe sich bei beiden nichts gedacht".
Die ganze Anakreontik ist etwas spielerisch, im Inhalt wie in der
Form. Wenn z. B. Ramler einer Ode auf einen Granatapfel auch die
äußere Form eines Granatapfels zu geben versuchte , so sehen wir das-
selbe in Djershawins „Pyramide", und wenn er bei einer andern Ode
stolz bemerkt, er habe in der ganzen Strophe den Buchstaben r vermie-
AA Neuntes Kapitel
deO) so gehören derartige Spielereien zum Wesen der Anakreontik. Da6
selbst die größten Geister an solchen Kleinigkeiten Gefallen fanden, zeigt
Goethe mit dem Wort „Käse" in den „Geschwistern".
Es ist ein paarmal der Name Goethes erwähnt worden. Djersha-
win war ein Zeitgen6sse Goetbes und Schillers. Aber er hat zu ihnen
wenig Beziehungen gehabt, eigentlich keine. Wem so der tändelnde Geist
der Anakreontik ins Blut überging, wer so in seinen jungen Jahren für
das Pathos, die Feiertagsstimmung EUopstocks geschaffen war, der konnte
unmöglich Verständnis für die tiefe Innerlichkeit des einfachen Menschen-
herzens finden. Djershawin hat sich an ein paar Dichtungen Goethes
und Schillers versucht, in Übersetzungen, aber dabei ist es geblieben.
Über Schiller hat er sich geäußert: „Schiller hat offenbar viel Verstand,
viel Wissen, auch viele schöne Verse ; aber kommt es daher, daß in ihm
kein Pindarsches Feuer ist, das packt und mit sich reißt, oder daß er
nicht den süßen Nektar des Horaz hat, ich las kein einziges Dichtwerk
von ihm ohne Langeweile", und sich gewissermaßen über sich selbst
wtmdemd, fügt er hinzu: „So verschieden und seltsam ist der Geschmack".
Wir sagen das letztere auch.
Djershawin mußte auf Befehl Katharinas ein paar Dramen schreiben ^^) ;
sie hatte es ja auch andern befohlen. Er hat damit wenig Glück ge-
habt. Sie sind aber nicht so schlecht, bicher nicht seine Tragödie
„Herodes und Mariamne". Sie ist, wie alle Tragödien bis zu dieser
Zeit, nach französischem Muster geschrieben; aber der Dichter wie der
Denker rütteln schon etwas an der Theorie: Djershawin sagt ausdrück-
lich, daß er die Personen nicht aus der Phantasie, sondern aus der
Geschichte geschaffen hat. Das ist schon ein Schritt an Shake-
speare heran.
Djershawins Verdienst liegt auf lyrischem Gebiete, und da ist
er der erste russische Dichter, denn er reimt nicht nur, er arbeitet
nicht nur mit dein Verstände, sondern er verfügt auch über Phantasie,
über schöne, starke, dichterische Phantasie *®).
Neuntes Kapitel
Karamsin
§ 27 I Wenn man Lomonossov den ersten russischen Gelehrten
nennen kann, so ist Karamsin der erste russische Literat. Mit
der Literatur hatte sich vor ihm schon dieser imd jener beschäftigt, da
^ war es aber etwas Nebensächliches gewesen, ein Zeitvertreib. Mit Karam-
sin wird sie Beruf. Als Literaten lagen ihm die Sprache wie ihre
Schöpfungen gleichviel am Herzen; er ist in beiden der Reformator
Rußlands geworden. Kommt noch ein drittes Gebiet hinzu, sozusagen
ein Spezialgebiet: Karamsins Bedeutung als Historiker.
Karamsin
45
Lomonossov hatte die russische Sprache von den Slawenismen be-
freit und die russische Volkssprache gefordert. Daraus hatte sich etwas
Sonderbares entwickelt: man gebrauchte die Volkssprache, Sobald es sich
um gewöhnliche, alltägliche Gefühle und Gedanken handelte; «erhoben
sich diese über die Alltäglichkeit, so glaubte man auch ^ von der Alltags-
sprache Abstand nehmen zu müssen und kehrte zu der feierlichen alten
Sprache der Bibel zurück. Ein schl^endes Beispiel dafür ist Fonwisin.
Fonwisin in seinen Komödien, Satiren und Briefen ist ein anderer als
Fonwisin in seinen Übersetzungen aus dem Französischen ; in den ersteren
schreibt er russisch, in den Übersetzungen ist die Sprache eine gemischte,
sein Stil unnatürlich, schwülstig. Karamsin hat nun gelehrt und in seinen
Schriften durchgeführt, stilistisch und lexikalisch, daß die Schriftsprache
die der mündlichen Rede, d. h. der Rede des Gebildeten sein muß:
einfach und zugleich leicht, gefallig, fließend.
Mit Karamsin tritt zugleich eine bedeutende Wendung in der rus-
sischen Literatur ein. Es hatte zwei Richtungen gegeben : die deutsche und
mehr im Vordergrund die französische. Mit Karamsin beginnt der Kampf
gegen den französischen Pseudoklassizismus , gegen die raison Voltaires,
und die Franzosen verlieren ihre überragende Macht. An die Stelle
tritt die Empfindung, der Sentimentalismus. Der Sentimentalismus ist ein-
geführt durch Karamsins ,, Briefe eines russischen Reisenden '* und seine
Romane, beide aus deutscher Anregung hervorgegangen, aus deutschem
Geiste geboren.
Karamsin (1766— -1826) ist wohl von allen russischen Schrift-
stellern der deutscheste gewesen. Der Vater, ein Landedelmann im
Gouvernement Ssimbirsk, hatte dem Kinde einen deutschen Erzieher ge-
geben, ihn dann in Moskau in eine deutsche Pension geschickt. Als
Moskauer Student hörte er hauptsächlich deutsche Vorlesungen, philo-
sophische über Geliert, literarische über Gottsched, verkehrte er in den
deutschgesinnten Freimaurerkreisen, schloß er mit dem „Stürmer und
Dränger" Lenz einen Freundschaftsbund. Er sprach und schrieb aus-
gezeichnet deutsch. ,,Ich lese nicht viel in meiner Muttersprache, Wir
sind noch arm an Schriftstellern." Er war außerordentlich vertraut mit
Geliert, mit Geßner, Haller, Kleist; unter den Zeitgenossen liebte er den
„Zürcher Propheten, den großen Mann und Christen" Lavater, und
Lenz wies ihn auf Kant, Wieland, Herder, Schiller — nicht auf Goethe ;
die verletzte Eitelkeit gestattete das Lenz nicht.
Auf Lenz* *'') Zureden und mit der von ihm ausgearbeiteten Reiseroute
machte sich Karamsin 1789 auf den Weg imd schrieb seine „Briefe
eines russischen Reisenden" *®). Er reiste in Deutschland, in der Schweiz,
in Frankreich, England. Seine „Briefe" sind ein Lobgesang auf Deutschlands
Geistesheroen; selbst als er in Paris weilt und dort den ganzen Tag über fran-
zösische Kunst und Literatur in sich geschlürft hat, liest er abends Schiller.
a6 Neuntes Kapitel
Karamsin ist ein Jünger von Deutschlands „Sturm 'S d. h. der einen
Seite des Sturms, der sentimentalen, empfindsamen. Damit stimmt sehr
wohl überein, daß der junge Karamsin, also der Schreiber der „Briefe",
für Geßner, flir Bodmer, für Haller schwärmt, und als bei seinem Aufent-
halt in Weimar Herder ihn fragt, wen er denn von den deutschen Dichtem
am meisten liebe, er antwortet: „Klopstock*'. Die empfindsame Rich-
tung des „Sturms" stand auf der Seite dieser — man denke an den
Maler Müller oder an Joh. Heim ich Voß, die ihre Idyllen auf Geßner
aufbauten. Die empfindsame Richtung des „Sturms" schwärmt auch für
die Engländer Sterne, Young, Thomson, Milton, für Fingal, Ossian, vor
allen aber für Goethes „Werther". Für sie schwärmt gleichfalls Karam-
sin. Der „Sturm" hat als Ideal Rousseau, weil dieser fort will vom
Treiben der Welt in den Schoß der Natur. So Karamsin.
Karamsin hat nun etwa kein Verständnis für den Sturm im „Sturm".
Den Stürmer Schiller, nicht den späteren abgeklärten Schiller, liebt er.
Bei der Lektüre von „Fiesko" schreibt er in seinen „Briefen": „Welche
Kraft in den Gefühlen! Welche Malerei in der Sprache! Fiesko hat
stärker auf mich gewirkt als ,Don Carlos', obgleich ich diesen auf dem
Theater sah und obgleich ihm die Kritik den Vorzug gibt." Und, wie
gesagt, in Paris erholt er sich des Nachts, wenn er Corneille und Racine
gesehen hat, an Schillers Jugenddramen.
Damit ist auch seine Stellung zu den Franzosen, zum französischen
Pseudoklassizismus gekennzeichnet. „Die französische Tragödie ist er-
haben, edel, majestätisch, aber nie rührt sie, nie erschüttert sie mein
Herz wie die Muse Shakespeares tmd einiger, nicht vieler Deutschen.
Die französischen Dichter haben einen feinen, zarten Geschmack, und in
der Kunst zu schreiben können sie als Vorbüd dienen. Nur in der Er-
findung, Wärme, im tiefen Naturgefühl — verzeiht mir, geheiligte Schatten
Comeilles, Racines, Voltaires — müßt ihr den Engländern und den
Deutschen nachstehen. Eure Tragödien sind voll von schönen Bildern,
in denen sehr geschickt Farbe zu Farbe, Schatten zu Schatten getan ist;
aber ich bewundere sie zum großen Teil mit kaltem Herzen. Überall
mischt sich das Natürliche mit dem Romanhaften, überall mes feux, ma
foi, überall Griechen und Römer ä la frangaise, die in verliebtem Ent-
zücken verschmelzen, bisweilen philosophieren und einen einzigen Ge-
danken in langen Tiraden ausspinnen und sich in dem Labyrinthe der
Beredsamkeit verlieren und zu handeln vergessen." Das ist ja alles das,
was Lessing und nach ihm die Stürmer angriffen, und weswegen sie ge-
rade Shakespeare zum Vorbild nahmen — wie Karamsin. Karam-
sins Begeisterung für Shakespeare setzte sich in* die Tat um durch seine
Übersetzung von „Julius Cäsar" (1787), dem beliebtesten Stück der
„Stürmer" — in der Vorrede greift er den „großen Sophisten" Vol-
taire als den obersten Vertreter des französischen Rationalismus sehr
Karamsin
47
scharf an. Sein Interesse für Lessing schuf die Übersetzung von „Emilia
Galotti".
Der sentimentale Gedanke des „ Sturms *' ist das Vorwiegende in
Karamsins Stimmung. Der läßt ims auch seine Wertschätzung von Ifif-
lands Familienbildem und seine Achtung vor Kotzebue erklären. Wir
dürfen ihn deshalb nicht als blinden Bewunderer Deutschlands einschätzen;
er hat häufig ein scharfes Urteil über unsere Schwächen gefällt. Andrer-
seits ist es auch Zeit, unsere Meinungen über Ififland und Kotzebue etwas
zu revidieren, sie zu betrachten, ohne daß man Goethe und Schiller als
Gradmesser nimmt. Der Anfang dazu ist jetzt endlich beim loo. Todes-
tag Kotzebues gemacht *^).
Auch seine Verehrung für Wieland — Karamsin hat mit scharfem
Auge Wielands größtes Verdienst sofort erkannt, seine komischen Er-
zählungen, durch die wir ja in Deutschland eigentlich erst einen Roman
haben — spricht nicht gegen sein Bekennen zum „Sturm*'; einer der
bedeutendsten, vielleicht der „schlimmste** Stürmer Wilhelm Heinse war
ein Schüler Wielands und Verehrer des klassischen Altertums.
Den besten Beweis für seine Zugehörigkeit zum sentimentalen „Sturm**
geben seine Romane, worüber besonders zu sprechen sein wird (§ 29).
Es ist noch ein häufig auftretender Irrtum zu beseitigen, seme
„Briefe** seien durch Sternes „Sentimental Journey** veranlaßt worden.
Natürlich wird er hieran auch gedacht haben ; aber ehe er Sterne kannte,
hatte ihm schon Lavater angeraten, ein „Tagebuch** anzulegen, und den-
selben Gedanken hatte er bei Nicolai, der in den Moskauer Freimaurer-
kreisen sehr bekannt und beliebt war, in dessen „Beschreibung einer
Reise durch Deutschland** ausgeführt gesehen. Und nicht nur der
äußere Rahmen ist deutschen Ursprungs, auch viele Betrachtungen Karam-
sins sind direkt aus deutschen Werken entnommen, so die Betrachtungen
über Berlin und Potsdam aus Nicolais „Berlin und Potsdam**, die Be-
trachtungen über englische Sitten und Gebräuche teils aus Moriz' „Reisen
eines Deutschen in England**, teils aus dem unmittelbar vor seiner Reise
(1787) erschienenen „England und Italien** von J. W. Archenholz.
Karamsins Beruf nach seiner Rückkehr von der Reise war der des
Kritikers; als Dichter nimmt er eine untergeordnetere Position ein.
Zur Verfechtung und zur Förderung der von ihm in den „Briefen** nie-
dergelegten Ansichten ist er außerordentlich tätig gewesen. Er gab von
1791 bis 1801 eine Reihe von Zeitschriften heraus ^ 7)^ „das Moskauer
Journal**, „die Aglaja**, „die Aonidyj**, das „Ausländische Pantheon**,
„das Pantheon russischer Autoren**.
Nach 1801 wandte er sich, mitbestimmt durch die Schreckensherr-
schaft der Zensur — das Schicksal seines Freundes Nowikov stand ihm
ja lebhaft genug vor Augen — , der Geschichte zu, und damit sind wir
zu dem dritten Gebiete gelangt, auf dem seine Bedeutung liegt.
A^ Zehntes Kapitel
Man hatte im i8. Jahrhundert in Rußland historische Denkmäler
herausgegeben, aber nachlässig, voll Fehler, und ohne jede Kritik. Das-
selbe betrifit das geographische Gebiet. Tatischtschev und Schtscherbatov
hatten in ihren russischen Geschichten schon gewissenhafter gearbeitet;
aber von pragmatischer Forschung ündet man auch bei ihnen nur wenig.
Die findet man zuerst bei Schlözer, der jedoch die russische Geschichte
natürlich vom deutschen Standpunkt aus ansah. Diese Mängel will
Karamsins „Geschichte des russischen Staates^' (ii Bde.; der letzte von
Bludov, 1816 — 1829) beseitigen. Das ganze Werk zeigt den Schüler
Plattners; der Gesichtspunkt, unter dem er alle Handlungen sieht, ist der
des Moralischen, verbunden mit Patriotismus ^^).
Karamsin wurde 1803 ^^^^^ Reichshistoriographen ernannt. Er
starb 1826.
Zehntes Kapitel
Der russische Roman. — Die Karamsinisten
§ 28 I Karamsins „Lisa" war der erste russische Roman,
in dem Sinne wie wir in Deutschland in Wieland den ersten Roman-
schriftsteller haben. Abenteuererzählungen, Märchengeschichten und derlei
gibt es natürlich viel früher. Man wird aber auch ihnen etwas Aufmerk-
samkeit entgegenbringen müssen, bieten sie tms doch oft ein Bild der
Zustände wie der Denkweise jener Zeiten. Darin liegt eben die große
Bedeutung des Romans, die er besser erfüllen kann als die übrigen
Zweige der Literatur, und deshalb verdient er in unseren Literaturgeschichten
eigentlich mehr Raum und 'Pflege als ihm gewöhnlich zugestanden wird.
Spuren von Romanen ^^) hat schon das t6. Jahrhundert. Die
Legendenerzählungen reichen noch weiter zurück, wie sie andrerseits
sich auch noch lange über das 16. Jahrhimdert hinaus nicht bloß er-
halten haben, sondern herrschend geblieben sind. Neben den geist-
lichen Stoffen finden sich Sagen- und Märchengeschichten, gern mit
erotischem Einschlag: „Das Buch von der Melusine", „Die schöne
Magelone und ihr treuer Ritter"; dann aus den chansons de geste Iweins
Abenteuer, aber den Weg über Deutschland verratend, mit dem Titel:
„Der braunschweigische Königssohn mit seinem Löwen". Alle diese
Romane kommen durch Vermittlung Polens, bezog doch Rußland damals
seine ganze Wissenschaft aus Polen.
Mit derlei Lektüre begnügte sich das selbstverständlich kleine Lese-
publikum während des 16. und des 17. Jahrhuriderts bis zu Peters Zeit.
Jetzt erweiterte sich der Lese- und Leserkreis. Wir kennen die Namen
von 100 Romanen, die, immer handschriftlich, ein größeres Publikum
anzogen. Mit dem Druck wird die Zahl noch größer: „Die Geschichte
von der Eroberung Trojas", „Die Eroberung Jerusalems", Geschichten
i
Der rassische Roman. — Die Karamsioisten
49
von Alexander dem Großen, Reisebeschreibungen, Übersetzungen von
Äsops Fabeln, von Ovids Metamorphosen, von Fdnelon, Lesage, Voltaire.
Nach diesen die Deutschen: Gellerts „Schwedische Gräfin"
(1766) und die beißenden Satiren des damals neben Geliert populärsten
Schriftstellers Deutschlands, des Humoristen Rabener: „Lebenslauf eines
Wahrheitsmärtyrers", „Lobschrift auf Amouretten, ein Schoßhtindchen",
„Auszug aus der Chronik des Dörfleins Querlequitsch". Femer werden
übersetzt die bis in Goethes Jugendzeit hinein vom Publikum verschlungene
„Banise" von Anshelm von Ziegler, und aus der „Bibliothek deutscher
Romane" (1780) die alten Stoffe vom Schwarzktin^tier Faust, von den
lustigen und drolligen Lalenburgem, von Eulenspiegel, von Robinson, von
Tausend und eine Nacht usw.
In den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts kommt
dann Gehaltvolleres, von Geßner, Haller, Wieland. Des letzteren „Glicerion"
(„Menander und Glycerion"), sein „Oberon", sein „Agathon", die von
ihm herausgegebene „Geschichte des Fräuleins von Stemheim" von
Sophie von Laroche wurden verschlungen. Natürlich wird auch Voltaire
gelesen. Es ist mittlerweile eine Flut von fremden Romanen über Ruß-
land hereingebrochen.
Daß da auch die Russen erwachten und ihr Können zeigen wollten,
kann nicht wundernehmen. Komarov schrieb 1775 seine „Umständ-
liche und wahrhaftige Geschichte von dem berühmten Dieb und Gauner
Wzuika Kain", einem Cartouche, und das Publikum war hypnotisiert von so
viel Grausigschönem. Er schürfte weiter in recht realistischer Weise in
den Tiefen der Menschheit mit seinem „Unglücklichen Nikanor". Auf
ähnlichem Boden bewegte sich Em ins „Abenteuer Miramonds". Auch
Chjerasskovs politische Erziehungsromane müssen wohl erwähnt werden f
sein „Numa" (1768) tritt für die Monarchie ein und sein „Polidor"
(1794) eifert gegen die Revolutionsfranzosen.
§ 29 I 1781 erschienen „Die Leiden des jungen Werther". Karam-
sin war noch ein Knabe. Auch später, als er in Weimar war und mehr-
fach Herder und Wieland besuchte und mit ihnen lange Gespräche führte,
hören wir von seinem Interesse für Goethe kaum ein Wörtchen. Er
wollte ihm allerdings auch einen Besuch abstatten; als er aber erfahrt,
daß Goethe eben nach Jena abgefahren ist, kein Wort des Bedauerns.
Woher das kommt? * Er hatte von Goethe fast nichts gehört. Und wo-
her das kommt? Wahrscheinlich hatte sich sein Freund Lenz, der ihm
wohl viel über die anderen deutschen Geistesgrößen berichtet und ihn
für sie begeistert hatte, in Erinnerung an die Sesenheimer und Weimarer
Blamagen über ihn ausgeschwiegen. Dies Versäumnis hat nun Karamsin
gründlich nachgeholt.
Goethes „Werther" hat in Rußland sehr großes Aufsehen erregt.
Es haben auch Rousseaus „Hdloise" und Richardsons „Pamela" ahn-
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 4
5o Zehntes Kapitel
lieh gewirkt; aber beide Werke haben nur zwei Auflagen, „Werther'' da-
gegen von 1781 — 1798 vier gehabt.
Nachdem Karamsin den „Werther'' gelesen, wurde er Feuer und
Flamme fflr den Dichter — er ist wohl einer der ersten gewesen, die
das literarische Band zwischen ihm und Rousseans „Neuer Hdoise" er-
kannten — und zollte ihm nun seinen Tribut durch zwei ganz in diesem
Geleise laufende Romane.
Karamsins „Arme Lisa" (1793) ist auf „Werther" aufgebaut Die
ganze Stimmung des Romans und die Lösung des Konflikts sind Werthe-
risch. Die Lösung , daß . Lisa sich ertränkt , also Selbstmord übt wie
Werther, war vollkommen neu im russischen Roman; bis dahin hatten
alle mit versöhnlichem Ausgang geschlossen. Die „Arme Lisa" ist als
Spiegel imd als Gradmesser der russischen Seelen- und Gedankenstim-
mung jener Zeit außerordentlich wertvoll. Sie hat volle 25 Jahre, bis
Shukowskijs „Ljudmila" erschien, die literarische Welt beherrscht. Sie
ist der erste russische „Seelenroman"; mit ihr beginnt über-
haupt die Zeitrechnung eines selbständigen Romans für Rußland.
Goethes „Werther" ist ja der empfindsamste aller empfindsamen Romane —
hübsch sagt Frau von Stael, er habe mehr Selbstmorde hervorgerufen
als die schönste Frau der Welt — , aber er hat zugleich etwas, das ihn
über die Empfindsamkeit hinaushebt: er ist voll von gesundem, kraft-
strotzendem Leben, und ^ias fehlt der „Armen Lisa"; sie ist nur
empfindsam.
Ebenso sind in Karamsins Roman „Natalie, die Bojarentochter"
und in dem unvollendeten „Liodor" die Helden Wertherische Gestalten
durch ihre Sentimentalität, ihre Neigung zur Melancholie, durch ihre Liebe
zur Natur. Auch Ossian spielt hier hinein wie in „Werther".
Karamsin hat sich auch im historischen Roman versucht. Seine
„Marfa Possadniza" ^^) feiert die kühne Verteidigerin von Nowgorods repu-
blikanischer Freiheit gegen einen Wojewoden Iwans. Hierin steht er
unter dem Einfluß Scotts.
„Werther" hat eine Flut von Nacharbeitungen in Rußland hervor-
gerufen. An Wert steht den Elaramsinschen am nächsten die schon vor
„Lisa" geschriebene „Rosa, eine halbwahre und originelle Geschichte"
von Nikolaus Emin. Nicht allein die tragische Lösung — der Held
zerreißt die Binden, die ihm, dem im Duell schwer Verwundeten, um-
gelegt sind, und verblutet — sondern der ganze Seelenzustand nach dem
Duell, das Erwarten des Todes, selbst der Stil seiner Briefe vom Sterbe-
lager aus eriimem an Werther.
Erwähnenswert sind andere Wertherromane: desselben Emins „Spiel
des Schicksals" (1789), Kluschins an Karamsins „Liodor" er-
innernde ,,Der unglückliche M." (1793), Paul Lwovs an Karamsin
und an Emin sich anlehnende „Sofie" (1794), und von unbekannten
Der rassische Roman. — Die Karamsinisten r i
■ — ■-■--■- - - - ■ - ■ -^ . j , I II ■ I I II j
Verfassern „Die arma Mascha", „Die unglückliche Margarethe**, „Die
verführte Henriette" usw. Die Wertherischen „schönen Seelen" leben
noch bei Shukowskij, Odojewskij, Akss^kov.
Das ist die eine Seite des „Sturms", wie sie also durch Karamsin
in Rußland eingeführt wurde, die empfindsame ; die andere, die revolutio-
näre, konnte sich schon wegen der politischen Verhältnisse nicht entwickeln.
Die diese Seite charakterisierenden deutschen Werke ?ind denn auch erst
später unter das Publikum gekommen: Schillers „Fiesko" 1803, „Kabale
und Liebe" 1806, „Die Räuber" 1809.
§ 30 I Karamsin hat viele Nachahmer gefunden, auch im Stil
und in der Gedankenrichtung. Man kann beinahe sagen, alle mehr
oder weniger hervorragenden Schriftsteller zur Zeit Alexanders I. waren
„Karamsinisten". Dahin gehört vor allem der schon genannte
(S 25) Fabeldichter J. J. Dmitrijev (1760 — 1837). Sein Verdienst
faßte die Kritik dahin zusammen: „Karamsin ist ein Muster, wie man
in Prosa schreibt, Dmitrijev, wie in Versen". Er verfügt über einen
leichten, ungezwungenen, gefälligen Vera Und innerlich schließt er sich
an Karamsin an, indem er seinen Fabeln, Märchen, trotzdem sie sich
an Lafontaine, Voltaire anlehnen, einen sentimentalen Zug beimischt.
Einige seiner Fabeln wie „der Hahn", „die Katze imd das Mäuschen",
„der Blinde und der Lahme" werden noch heute von den Kindern gelernt.
§ Sl I Natürlich hatte Karamsin auch Gegner. Vor allem lag der
Pseudoklassizismus noch nicht am Boden, siehe Osjerov. Dann wollten
andere wieder einen Mittelweg zwischen Lomonossov und Karamsin, siehe
Gnjeditsch, und andern ging er wieder nicht weit genug, indem sie das
rein Volkstümliche vermißten, siehe Krylov.
Der Pseudoklassizismus lebte noch, besonders im Drama, worin ja
Karamsin nichts geschaffen hatte. Es hatten sich in die Zeit Alexanders I.
Knjashnins, selbst Ssumarokovs Stücke hineingerettet. Daß sich bei
ihnen nicht jeder mehr wohl fühlte, hatte schon ein Stück wie A b 1 e s s i -
movs komische Oper „Der Müller und der Zauberer" (1779) gezeigt,
die mit ihren wirklich nationalen Anklängen in den Herzen der Zuhörer
so wiederhallte, daß sie — man denke an die damalige Zeit ! — sieben-
undzwanzigmal hintereinander bei ausverkauftem Hause gegeben wurde.
Sehr scharfe Konkurrenz machte dem alten Drama eine ganz neue
Gattung, das sogenannte „bürgerliche Drama". Worin bestand nun das
russische „bürgerliche" Drama? Aus den Übersetzungen von
Kotzebues Stücken. Sie waren so in Mode, daß man von einer Kotze-
buemanie sprach. Selbst Männer wie Djershawin und Karamsin trugen
dem Rechnung. Djershawin hat seid Drama „Atabolibo oder die Zer-
störung des Peruanischen Reiches" (1808) nach den ,, Spaniern in Peru"
geschrieben, und eine der ersten Nummern des „Moskauer Journals" hatte
Karamsins dramatische Skizze „Sophie" gebracht, nach Kotzebues
4*
J2 Eines Kapitel
und Reue" gearbeitet. Kotzebues „Falsche Scham" und andere Stücke
sind auch noch später riel aufgeführt worden *^). So treten denn Knjashnin
und SsumarokoT immer mehr zurück, bis sie durch Osjerov ganz bei-
seite geschoben werden.
Osjerov {1770 — 1816) ist aber, wenn auch der letzte und nicht
mehr so starre, Vertreter des Pseudoklassizismus. Er geht in franzö-
sischen Spuren, selbst da, wo der Stoff ihn nach entgegengesetzter Rich-
tung führen will. Drei seiner Tragödien sind oft über die Bühne ge-
gangen. Sein „Ödipus in Athen" ist ganz nach dem „Ödipus" des
Franzosen Ducis gearbeitet; ganze Szenen sind einfach aus ihm ent-
nommen. Und doch hat er ein Verdienst: .seine Verse sind klang- und
kraftvoll, und das Ganze schmeckt etwas nach Karamsinscher Empfind-
samkät. Ganz auf Karamsin weisen Titel und Stoff seiner Tragödie
„Fingal". Sie fUhrt uns nach Schottland, zu Ossian, zum Kampfe
Fir^als, tmd Grund des Kampfes ist „empändsame" Liebe; aber trotzdem
ist sie pseudo klassisch , genau wie sein „Dmitrij Donskoj" (r807), ob-
wohl er ein Stück russischer Geschichte bringt — den Kampf Dmitrijs
am Don auf dem Felde von Kulikowo über die Horde im Jahre 1380 — ,
weil beide Stücke nichts von dem Geist jener Zeiten und jener Situationen
ahnen lassen, weil sie diesen so fem stehen, wie Corneilles und Racines
StUdce dem griechischen und dem römischen Altertum. Der sehr grofie
Erfolg des letzten, eigentlich schlechtesten Stückes, beruht auf den von
patriotischer Begeisterung getragenen Versen. Es wurde zur Zeit der
Napolconischen Kriege gespielt, und das Publikum sah in dem Sieger
Dmitrij seinen Kaiser Alexander und in dem Besiegten Mamaj den
Franzosenkaiser. ^
Daß sich Gnjeditsch (r784— 1833) nicht ganz für die Wirklich-
keitssprache Karamsins entschied, erklärt sich durch sein Lebenswerk,
die Übersetzung der „ Ilias ". Er war, wie die jetzt erwachende russische
Gelehrtenwelt, ein Gegner des Pseudoklassizismus ; man sah hier, wie vor-
dem in Deutschland, ein, welche Fehler die Franzosen mit der Lehre
des Aristoteles über die drei Einheiten begangen hatten. Um diese
Mängel gründlich zu beseitigen, wollte man genau die Quellen kennen
lernen, und so ergibt sich jetzt ein wahrer Drang, eine wahre Begeiste-
rung für Homer, Ve^, Äschylus, Sophokles, Aristophanes, Pindar, Horaz.
Von dieser Begeisterung wurde Gnjeditsch er^St. Er übersetzte zuerst
einen Teil der Ilias in den Alexandriner, warf ihn aber beiseite und nahm
Hexameter. Die aojährige Arbeit ist ihm im groäen und
ingen; er hat den Charakter, den Ton der Vorlage gut wie-
; die russische Sprache dem griechischen Geiste und zugleich
lien Würde des Originals anzupassen wurde ihm sehr schwer —
d sich deshalb ftir eine Zwischenstufe zwischen Karamsin und
Die Romantik. — Shukowskij t^
Diese Sprache hat er jedoch nur für diesen einen Fall gebraucht. Seine
Sprache in der Übersetzung von Schillers „Fiesko" ist die Karamsins.
Ktylov (1768 — 1844) ging die Reform nicht weit genug. Ob-
wohl seine Fabeln ^^) zum Teil auf Lafontaine aufgebaut sind, will er fort
von den Franzosen, fort von aller Nachahmung, will er zum rein Volks-
tümlichen. Sein Feld ist die Satire, die er in verschiedene Formen gießt,
zuerst in Zeitungsartikel, dann in Komödien, schließlich in die Fabeln,
die seinen Ruf durch die Welt getragen haben. Er hat drei Zeit-
schriften herausgegeben: „die Geisterpost" (1789), „den Beobachter**
(1792), den „St. Petersburger Merkur" (1793). Die Tendenz aller drei
satirischen Zeitschriften ist erzieherisch ; er will mehr Charakterbildung und
damit eine höhere moralische Entwicklung. Dasselbe wollen seine Komö-
dien „Der Modeladen", „Die Lektion für Töchter", die sich geg^n die
Sucht des Französelns, besonders gegen diese Untugend der weiblichen Jugend
richten. Dieselbe Charaktererziehung üben nun auch seine „Fabeln" (1808),
die noch heute ein sehr beHebtes Volksbuch sind. Was seine Fabeln über
alle vorhergehenden hebt, ist das Neue, daß unter der allegorischen Hülle
nicht ein Allgemeinwesen auftritt, sondern ein spezifischer Russe, mit seinem
russischen Charakter, seiner russischen Denk- und Gefühlsweise, seinen
russischen Sitten tmd Gebräuchen, ja, mit einer andern Sprache als man
sie vorher gekannt hatte, mit der urwüchsigen Sprache des Volks, in
seinem Jargon. Daher sind Krylovs Fabeln, wenn ihr Thema noch so
sehr Lafontaine oder Geliert ähnelt (,,der Esel und die Nachtigall", „der
Lügner", „der Wolf und die Schafe", ,,der Wanderer und die Hunde"),
doch die seinigen, weil so nicht Deutsche oder Franzosen auftreten, ur-
teilen, reden, sondern nur Russen. Bedeutend sind seine historischen
Fabeln, die auf die böse Napoleonische Zeit Bezug haben, sein „Wolf
im Zwinger" (Napoleon nach der Niederlage bei Borodino), ,,die Krähe
und das Huhn" (die Krähe frohlockt über das Huhn, weil sie keine
Angst vor dem Suppentopf zu haben brauche; sie fällt aber beim
Moskauer Brand doch in diesen).
Krylovs Fabeln sind wegen dieser ihrer Betonimg des National-
russischen schon die Vorboten einer andern Zeit; sie läuten die ,,neue
Poesie" ein.
Elftes Kapitel
Die Romantik. — Shukowskij
§ 32 I Die russische Romantik ^*) bedeutet offenste Fehde, heftigsten
Kampf gegen den Pseudoklassizismus, gegen seine „Regeln", gegen „den
Marquis Orestes und den Chevalier Brutus". Karamsin hatte den Kampf
begonnen, aber er war zu „sentimental", um stark und entschieden ent-
gegentreten zu können. Das tat die Romantik.
54 Elftes Kapitel
Die Romantik in Rußland ist anders ab die deutsche. In Deutsch*
land wirken geniale Dichter durch ihre Dichtungswerke. In Rußland ist
sie mehr wissenschaftlich als poetisch. Sie weist nur wenige Schöpfungen
hervorragender Dichter auf, sie hat viel mehr durch kritische Unter-
suchungen geleistet, Kritiken, die während des 2.. und 3. Jahrzehnts des
19. Jahrhunderts die ganze Gebildetenwelt in der größten Spannung hiel-
ten und sie dann zu sich hinüberzogen und den Pseudoklassizismus ver-
lassen machten. Also nicht große Dichtungswerke, sondern die Kritik
bat in Rußland dem Pseudoklassizismus den Todesstoß gegeben; zu ver-
gleichen ist das mit Lessings Arbeiten.
Die Romantik in Deutschland will Wunderbares, Phantastisches; sie
rettet ins Zauberland, sie sucht nach der blauen Blume. Nur wenig hat
davon die russische; sie kann ntu- wenig davon haben, denn der, welcher
als der Romantiker par excellence von ihr angesehen wird, nach dessen
Schritten einige Kritiker sogar das Geburtsjahr der Romantik datieren,
ist — Schiller. Man denke an imsere deutschen Romantiker und ihr
Verhältnis gerade zu Schiller! Noch heute wiH Ricarda Huch von ihm
als Romantiker nichts wissen.
Die deutsche Romantik wählt Goethe als Vorbild. Das tut die
russische gleichfalls, aber nur in einer Zweigart, erst da, wo sie in den
Realismus hinübergeht. Vertreter der idealen Romantik ist für sie Schiller.
Man sieht daraus, die russischen Kritiker denken bei dem Wort Romantik
kaum an das, was sie für uns ist ; sie haben nur die neue Poesie Schillers
und Goethes im Auge im Gegensatz ziun Pseudoklassizismus.
Die deutsche Romantik beharrt in ihren Phantasiegebilden, in ihren
phantastischen Träumen. Als sie diese in den Schreckensgespenstem
E. T. A. Hoffinanns überspannt, geht sie zugrunde. Die russische ent-
wickelt sich weiter, nach zwei andern Seiten hin: sie nimmt einmal das
„knisternde phantasmagorische Feuer" V. Hugos in sich auf und daim
den Weltschmerz Byrons, und was den beiden gemeinsam ist, das Leben
in der realen V/elt. Damit hat sie nicht ihre ganze Vergangenheit auf-
gegeben, wohl den Idealisten Schiller, aber nicht Goethe; nur haftet sie
weniger an seiner Romantik, mehr dagegen an seinem Realismus. Und
in dieser Richtung nennt sie nun auch große Dichtergestalten ihr eigen,
die größten, die Rußland gehabt hat, Puschkin und Lermontov.
§ 33 I Eingehender beschäftigte man sich in Rußland mit der
Romantik seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Vorboten erschienen
bedeutend früher: so bringt 18 12 der „St. Petersburger Bote*' Schillers
Aufsatz „Über das Erhabene'* und 18 13 der „Europäische Bote" seine
„Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen", Aufsätze,
deretwegen, wie gesagt, einige Kritiker das Geburtsjahr der russischen
Romantik in das Jahr 18 12 bzw. 18 13 legen. Inzwischen waren auch
andere Werke Schillers, seine Tragödien, mehr in das Publikum ge-
Die Romantik. — Shakowskij cc
drtmgen. Es wurden auch die Werke und Lehren Schlegels und Schel-
lings bekannt, und damit zieht eine außerordentliche Begeisterung für die
neue Dichtkunst und für die neue Philosophie ein. Gesellschaften kon-
stituieren sich zur Verbreitung der philosophischen Lehren SchelHngs ;
ganze Jahrgänge von Zeitschriften sind mit Aufsätzen über die neue
deutsche Philosophie, über die neuen deutschen Dichter Schiller, Goethe,
Herder und mit Übersetzungen aus ihren • Werken angefüllt.
Der „Moskauer Bote" (1827 — 1831), begründet von Pogodin,
bringt Teile aus Goethes „Faust**, aus „Wilhelm Meister", „Die Weis-
sagungen des Bakis**, den ganzen „Götz**, aus Schillers „Wallenstein",
aus „Maria Stuart**, „Die Klage der Ceres**, „Die vier Weltalter** und,
indem er der deutschen Entwicklung folgt, nach und nach dieses und
jenes von Jean Paul, Tieck, Wackenroder, E. T. A. Hoflönann. Er be-
schäftigt sich auf das eingehendste mit Aug. Schlegels „Kritischen Schrif-
ten**, seinen „Berliner Vorlesungen**, will alle die Forderungen, die dieser
an die neue Dichtung stellt, den Kult des Ich, den Kult der Freiheit des
künstlerischen Schaffens, den Kult Shakespeares, den Kult der christ-
lichen Welt, den Kult des Nationalen auch für die neue russische Poesie.
Das heifit kurz „fort vom Pseudoklassizismus *^
Einen ähnlichen Standpunkt vertreten andere Zeitschriften: „Das
Athenäum**, der „Europäische Bote**, „Der Sohn des Vaterlands'*,
„Die Galathea**, und ihrer Tätigkeit ist es zu danken, daß Anfang der
dreißiger Jahre ganze Sammlungen von Schillers und Goethes Werken in
Rußland erschienen.
Inzwischen war die neue Romantik V. Hugos entstanden, mit ihrem
stark realistischen Einschlag, und die deutsche neigte ihrem Ende zu.
Diese realistische Seite wird nun von Polewojs „Moskauer Tele-
graphen** (1825 — 1834) für die russische Dichtung gefordert mit Hin-
weis auf Hugo, Ch^nier, Balzac, Sue und auf Byron, Scott, Moore,
Coleridge. Aber auch das genügt bald nicht mehr; man schreitet schnell
vorwärts. Eine andere Zeitschrift, der „Teleskop**, schreibt: „Die
Morgenröte des neuen Tags ist nicht die trübe Röte des Byronismus, auch
nicht das knisternde, phantasmagorische Feuer Hugos, sondern die
WirkUchkeit , d. h. nicht die sklavische Kopie der Wirklichkeit, sondern
ihre künstlerische Wiedergabe, ihre Reproduktion aus dem Innern der
Phantasie heraus, eine Harmonie zwischen Realem und Idealem *^ Dazu
bietet nach seiner Ansicht gerade das russische Leben soviel Stoflf, nur
„nicht jedes gewöhnliche Leben, sondern da, wo sich eine besondere
Blüte zeigt**. Solche neue Dichtung gebe es aber bereits: in Puschkins
„Boriss Godunov**, in Sagosskins „Jurij Milosslawskij**.
Das Leben darstellen „wo sich eine besondere Blüte zeigt**, heißt
dem Realismus einen antiken Einschlag geben. Für die Mitbeteiligung
der Antike hat sich übrigens Puschkin selber stets ausgesprochen. Scharf
j6 Elftei Kapitel
trat dafür Nadjesbdin "), der erst flirPolewojs „Telegraphen" geschrie-
ben hatte, jetzt im „ Europäischen Boten " und in seiner in wissenschaßlichen
Kreisen bedeutendes Aufsehen erregenden Dissertation ^*] ein. Nadjeshdin will
unter allen Umständen eine glückliche Vereinigung vonRomantik und Klassik.
Es treten uns also viele Ansichten en^egen, und was ist das Ge-
meinsame aller? Die Beseitigung des Pseudoklassizismus. Daß der nicht
sofort die Waffen streckte, ist selbstverständlich. Das „Damenjournal"
pnd andere Zeitschriften bekannten sich offen als Gegner Goethes und
Herders. Schiller, soweit er Klassiker war, seine ,,von der romantisch-
klassischen Form beherrschte" Braut von Messina und den „vom roman-
tisch-klassischen Geist beherrschten" Wilhelm Teil, lieSen sie gelten. In
ihrem Kampf gegen die Romantik boten ihnen ja auch die Auswüchse
genug Stoff zum Angriff. Aber bei alledem zogen sie sich vom Pseudo-
klassizismus zurück, zurück zum Klassizismus. Aus diesem Streben
heraus sind die oben erwähnten vielen Übersetzungen des Homer, des
Horaz, des Ovid zu erklären.
Der Pseudoklassizismus war daim Mitte der dreißiger Jahre besiegt.
Die '„neue Schule" hatte gesiegt.
§ 34 j Einer der v/enigen, die diese Theorien in die Praxis umsetzten,
also wirkliche Dichtungen schufen, ist Shukowskij (1783 — 1852).
Ei selber nannte sich den Stammvater der Romantik in Rußland, ein
Wort, das doch etwas einzuschränken ist. Denn einmal ist Shukowskij
viel mehr Nacbdichter als Dichter *'), und dann laufen zwar seine Nach-
dichtungen wie die eigeüen Dichtungen in der romantischen Linie, aber
sie lassen nur zwei der Romantik anhaftende Züge hervortreten, den der
Melancholie, des Seboens nach einer andern Welt und den des Geheimnis-
voll-Schaurigen. Richtig ist, dafl er der Vater der romantischen
Ballade ist.
Shukowskij steht, trotzdem er aus dem Englischen, Französischen,
auch aus dem Indischen und Persischen übersetzt hat, — seme erste
Übersetzung war die von Greys „Dorfkirchhof" — dem Deutschen am
nächsten. ,,Dank Shukowskij", schreibt der Kritiker Bjelinskij, „ist die
deutsche Poesie uns zur Mutter geworden ", und der Moskauer Telegraph
nennt ihn den ,, russischen Schiller". Man achte darauf: er selber nennt
sich den „Stammvater der Romantik" und der Moskauer Telegraph neimt
ihn ..ri™ nissifrlien Schiller" — ein Beleg für die. oben gegebene Aus-
maß die russische Romantik etwas anderes ist als die
— der russische Schiller. Es gibt in der Tat kaum
Ballade, die er nicht übersetzt hat; er übersetzte auch sein
", sein „Siegesfest" usw. Ebenfalls hat er Schillers
rleans", dann Balladen Goethes („Erlkönig", ,,Der
i, Uhlands, Bürgers, Kemers, Zedlitz' °^ übertragen.
Die Romantik. — Shnkowskij ty
Der junge Gutsbesitzerssohn ^^) aus dem Gouvernement Tula hatte sich
schon auf der Moskauer Universität eingehend mit der deutschen Lite-
ratur beschäftigt. Eine bestinmite Richtung in der Literatur schlug er
ein, nachdem er Bürgers „Lenore" gelesen hatte. Er tiberarbeitete sie
1 808 unter dem Titel „ Ljudmila " und erzielte einen großen Erfolg, daß
er sogar Karamsins i,Arme Lisa" schlug. Von da ab war er auf
die romantische Richtung ein geschworen, in den Übersetzungen wie in
den eigenen Dichtungen. ,
Was nun Shukowskijs Übersetzungen so wertvoll macht, was sie
künstlerisch über die anderen Übersetzungen hebt, ist die peinlichste
Wiedergabe des Geistes, des Tons, des Ausdrucks des Originals. Sein
Vers ist außerordentlich klangvoll, musikalisch. Shukowskij beherrscht
jedes Versmaß, den reimenden und den reimlosen Jambus, den drei-
und vierfiißigen Anapäst; ganz neu war für Rußland seine Übersetzung
der „Jungfrau von Orleans" im Verse des Originals, dem funfiiißigen
reimlosen Jambus anstatt des sonst nach französischem Muster gebräuch-
lichen Alexandriners.
In dieser künstlerischen Vollendung stehen auch seine Übersetzungen
aus andern Sprachen da, vor allen die englischen. Byrons ,, Gefangener
von Chillon", Thomas Moores „Der Engel und die Peri" sind Muster-
tibersetzungen, ebenso was er aus Walter Scott und Goldsmith bietet.
Man kann an Shukowskijs eigenen Dichtungen nicht so ohne weiteres
vorbeigehen; die damalige Kritik schätzte sie sehr hoch ein. Dem Wunder-
land der deutschen Romantik kommt er am nächsten mit seinem^ ^, Märchen
vom Zarjewitsch Iwan und dem grauen Wolf" (1845) ^®), ^^^ ^^ dem
andern Märchen vom „Zaren Bjerendej, seinem Sohn Iwan Zarjewitsch,
den Ränken des unsterblichen Koschtschej und der Klugheit von Kosch-
tschejs Tochter Maria". Sein dichterisches romantisches Glaubens-
bekenntnis hat er ganz nach deutschem Empfinden im „Geheimnisvollen
Besucher" (1824 — gemeint ist mit dem Besucher die dichterische •
Phantasie) niedergelegt.
Shukowskij hat bestimmenden Einfluß auf die russische Literatur aus-
getibt durch seine Dichtungen, dann durch seine Redakteurstellung am
„Europäischen Boten". Er war von hoch und niedrig sehr geschätzt;
er wurde der Erzieher des Großfürsten -Thronfolgers Alexander. Mit
Deutschland war er auf das engste verknüpft; seine Frau war die Tochter
eines Düsseldorfer Malers. In den letzten Lebensjahren siedelte er ganz
nach Deutschland über; er starb in Baden-Baden, 1852.
§ 35 I Der Schaffensdrang der andern Romantiker äußert sich haupt-
sächlich im Roman. Zu ihnen rechnet Bjestushev-Marlinskij (1795
— 1^37)» der wegen seiner Teilnahme an der Dekabristen-Verschwörung
zum Tode verurteilt , aber zt| zwanzigjähriger Zwangsarbeit in Sibirien be-
gnadigt wurde. Hier in Jakutsk füllte er die traurigen und eir
rg Zwölftes Kapitel
Samen Stunden, am meisten seiner Stimmung entsprechend, mit Byron
aus, dann mit Moore, Hugo, Shakespeare, Schiller, Goethe. Das Beste,
das er geschrieben, sind seine hier verÜEißten „Novellen vaxd Skizzen",
worin viele Früchte seiner deutschen Studien. Sein „Räuber Mullach
Nur" ist Schillers Karl Moor, nicht allein ebenso edel, großmütig und
tapfer wie dieser, sondern direkt mit seinen Worten über die Gesellschafts-
ordnung und über das menschliche Laster philosophierend. Werthers
Anschauungen und Gefühle, Öfter wörtlich, finden wir in der „Schreck-
lichen Prophezeiung" imd in dem den Kampf der Tscherkessen gegen
die Russen behandelnden Roman „ Amalat Bey ". Die damalige Jugend,
unter ihr Lermontov, war begeistert von dem Temperament^ der unge*
stümen Leidenschaft, dem Bilderreichtum, der Anschaulichkeit seiner
Dichtungen. Bjestushev war mit seinem Kult des persönlichen künst-
lerischen Schaffens, seinem Kampf für die große Idee der Freiheit — er
trat gegen die Leibeigenschaft auf — ein echter Jünger der Romantik.
Seinen Namen „Bjestushev" hatte er, trotz des guten literarischen Klangs,
den er sich durch die Herausgabe des Almanachs „Der Polarstem"
erworben , in Sibirien fallen lassen ; er erweckte ihm unliebsame Erinne-
rungen. Er trug auch den neuen nicht lange ; der im Roman so Tapfere
und Waghalsige war es auch im Leben — er fiel bei der Erstürmung
einer Tscherkessenfestung.
Den Roman kultiviert gleichfalls der Schellingianer Fürst Odo-
jewskij (1804 — 1869). Er^i) setzte Schelling ein hübsches Denkmal:
„Im Anfang des 19. Jahrhunderts war Schelling dasselbe was Kolumbus
im 15.; er entdeckte .dem Menschen einen unbekannten Teil seiner Welt,
von dem nur gewisse sagenhafte Überlieferungen existierten, seine —
Seele." Odojewskij kultivierte Schelling tmd die Romantik nicht nur in det.
Zirkeln seines vornehmen Hauses, sondern auch in seinen Werken. Die
hervorstechendsten Züge seiner Poesie sind der Kult des Genius und der aus
dem Kult des Individualismus sich entwickelnde Universalismus. „ Eine geniale
Persönlichkeit ist zum allgemeinen Besten da." Solche Lebenswahrheiten ver-
kündet bei ihm gern ein Magier oder ein fahrender Ritter des Mittelalters.
Diese äußerliche Form hat er von der deutschen Romantik; aber auch
innerlich fußt ein Teil seiner Schriften auf deutschen Vorbildern. So ist sein
Roman „Giordano Bnmo und Peter Aretino" (1825 — 1827), ein Sitten-
roman, der die Reformation beleuchtet, eine Parallele zu Tieck-Wacken-
roders „Franz Stembalds Wanderungen", auch zu Novalis' „Heinrich
von Ofterdingen " , und Giordanos Gedanken sind Schellingsche Philo-
sophie. Solche einsamen Denker sind auch die Lieblingspersonen in andern '
Schriften, z. B. in seinen „ Apologien*', seinem ,, Einsiedler" und in seinem
Hauptwerk ,, Russische Nächte" (1831). Echt romantisch hierin ist, daß
seine Helden, diese geistig Einsamen, „ den Sinn des Lebens im Zusammen-
prall mit der Wirklichkeit finden". Die deutschen Romantiker sind
Der romantische Realismus
59
Musikenthusiasten — ebenso Odojewskij; er hat „Das letzte Quartett
Beethovens" und „Sebastian Bach" geschrieben,
Sagosskins (1789 — 1852) „Jurij Milosslawskij oder die Russen im
Jahre 1612" (1829) war für den „Teleskop", wie wir gesehen, das
Muster des romantischen Romans, weil er ein national-patriotischer Roman
ist. Er gab ein getreues, reales Bild Rußlands aus jener Zeit; russische
Leute und russisches Leben, durchweht von nationalem Geiste, stehen
vor unsem Augen; selbst die Sprache ist in ihrer Kernigkeit der Zeit
angepaßt. Eine Geschichte des Jahres bringt er aber nicht. Der
Roman fand auch die Bewunderung Shukowskijs und Puschkins, und der
Kaiser empfing den bescheidenen Dramaturgen. Inländische und auslandische
Zeitschriften waren einig in ihrem Lobe, und der Roman wurde bald in alle
Kultursprachen übersetzt. Sagosskin hatte dazu besonders Scott studiert.
Sagosskin hat versucht, das Jahr 181 2 ebenso zu behandeln, in
seinem Roman „Rosslawlev" — ohne Erfolg. Auch seine Komödien
und sonstigen Schriften sind belanglos; alle kehren aber den national-
russischen, hauptsächlich den altrussischen Standpunkt heraus.
Ein Romantiker ist ebenfalls Pole wo j, ein Vielschreiber, aus Armut.
Sein Roman „Der Eid am Grabe des Herrn" (Christi) gibt, ähnlich dem
„Jurij Milosslawskij", ein Bild vom russischen Leben des 15. Jahrhunderts;
Land, Leute, ihre Sitten sind mit Naturtreue geschildert. Sein unvollendeter
Ktinstlerroman „Abbadonna" (1835) spielt nicht nur in Deutschland,
sondern zeigt auch den Künstler, den Idealisten der deutschen Romantik,
im Kampf mit der rauhen Wirklichkeit.
§ 36 I Diesen Romanen stehen an innerem Wert, aber keineswegs
an Beliebtheit beim Publikum nach Graf Ssollogub mit seiner rühr-
seligen „Geschichte zweier Galoschen", voll Phantasie und Beobach-
tungsgabe, und seinem Hauptwerk (1845) ,,Tarantaß", (d. h. der Reise-
wagen ; zwei Brüder legen ihre Reiseeindrticke nieder, der eine alles k la
Don Quichote, der andere alles mit gesundem Menschenverstand auflfassend) ;
Lashetschnikov mit seinen historischen Romanen , vor allem mit
seinem „Eispalast" (1835), ^^s der Zeit der Kaiserin Aima; Massal-
skij gleichfalls mit historischen Romanen: „Die Regentschaft Birons"
(1834), ,,Die Strelitzen" (1837); und noch mehr gelesen Kukolnik
mit seiner ,,Eveline von Valjerol" (1840) und dem Kulturbild aus Ält-
litauen „Alf imd Aldona" (1842).
Zwölftes Kapitel
Der romantische Realismus '
§ 37 I Ist es Zufall gewesen, daß der romantische Idealismus so
wenig feste Wurzel schlug? War es nicht viel mehr innerste Notwendig-
keit, daß eine reale Stimmimg einsetzte, die realste, die es nur geben
6o Dreizehntes Kapitel
konnte, verbunden noch dazu mit der tiefsten Melancholie, dem tiefsten Pessi-
mismus Byrons? Wo sollte sich denn ein Plätzchen für die blaue Blume finden?
Alexanders I. Regierung (1801 — 1825) hatte so vielversprechend
begonnen. Der Rousseauzögling hatte für die höchsten humanen Ideale
geschwÄrmt, hatte für die Bildung des Volks Schulen, Universitäten ge-
gründet, hatte die schlimmste Fessel des freien, schaffenden Gedankens,
die Zensur, aufheben wollen, hatte zur Reformierung des ganzen Staats-
wesens den genialen Spjeranskij gerufen. Spjeranskij war Franzosen-
freund, hinderte den Kaiser jedoch nicht, die tüchtigen Leute da zu holen,
wo er sie fand. Alexander liebte seinen „Freund" Friedrich Wilhelm III.
und Deutschland. So tritt denn wieder deutsche Wissenschaft in den
Vordergrund. Schlözer und der Göttinger Staatsrechtslehrer Meiners
wurden zur Reorganisation der Universitäten, der Staatsverfassung, des
Handels herangezogen. Der Sturmdichter Klinger wurde zum Mmister
für Volksaufklärung berufen. An den neuerrichteten Universitäten in
Charkov und in Kasan lehrten deutsche Professoren Schellings und Kants
Philosophie. Freilich blieb das meiste nur Stückwerk. Die Zensur wollte
Alexander aufheben, wollte. Alexander liebte auch Djershawins Poesie ^^).
War das etwas für die stürmende Jugend ? Ihre Wünsche und Anschauungen
mußten natürlich nach wie vor handschriftlich herumgehen, und es
war ein sehr kühnes Unterfangen, eine Parodie zu Djershawins „Lieb-
haberverein des russischen Worts " (181 1) in dem Verein „Arsamass" ^^)
(spöttisch nach einem russischen Städtchen ä la Schiida benannt) zu
gründen, in dem man die alte Generation bitter geißelte; Shukowskij
und — viel schlimmer — Puschkin waren hier die Wortführer. Und
was wurde nun erst, als auf Alexanders „Gesicht anstatt des früheren
bezaubernden Lächelns Nachdenklichkeit und Kummer lagen", als er
überall revolutionäre Ideen und Bestrebungen witterte, als ati Stelle des
aufklärerischen, ehrenhaften Spjeranskij der grausame Finsterling Araktschejev
und der Mystiker Galizyn die Führung übernahmen, und als nun gar
Nikolaus I. den Thron bestieg? Kein Wunder, daß da in der russischen
Intelligenz die Stimmung Karl Moors herrschte, die alles mit Feuer und
Schwert ausrotten wollte, oder die vollste Apathie, die tiefste Verachtung
alles Irdischen und — Göttlichen.
Aus dieser Stimmung heraus ist die Dichtung Puschkins und Lermontovs
aufzufassen.
Dreizehntes Kapitel
Alexander Ssergejewitsch Puschkin
§ 38 I Der Dichter Puschkin ^^) war, wie jeder Mensch, nicht mit
einemmal fertig. In seinem dichterischen Schaffen sieht man deutlich
drei Perioden, deren erste man die italienisch - französische nennt, das
Resultat seiner Erziehung.
Alexander Ssergejewitsch Puschkin : 6l
Der am 26. Mai (a. St.) 1799 in Moskau geborene Alexander er-
hielt die Erziehung, welche alle alten russischen Adelsfamilien ihren Kin-
dern zuteil werden ließen. Er hatte ausländische Lehrer, den Deutschen
Schiller, der ihm russischen Unterricht gab, und eine deutsche Gouver-
nante , die nur französisch mit ihm sprach. Von sonstigem Einfluß der
beiden hört man nichts. Sehr großen Einfluß hat dagegen, besonders
auf die poetische Entwicklung des Jungen, seine Wartefrau gehabt, die
ihm russische Märchen und Sagen erzählte und volkstümliche Lieder vor-
sang. Die dem Knaben angeborene Phantasie — die Mutter hatte orien-
talisches Blut in ihren Adern, sie war die Enkelin des „Mohren" Peters
des Großen — wurde durch diese Anregungen stark befruchtet. Die
vorwiegend französische Erziehung setzte sich auf der Militärschule in
Zarskoje Ssjelo fort: er dichtete hier schon französische Verse. Der sehr
geweckte junge Mann beschäftigte sich aber auch, so weit ihm die häu-
figen und wüsten Trinkgelage, die Stubenmädchen und Schauspielerinnen
Zeit ließen, gern mit andern Sprachen, auch eingehend mit dem Deut-
schen. Genau denselben Beschäftigungen lag er,, nach bestandenem
Examen 18 17, ob, als er, unvermögend um die gewöhnlich von Zarskoje
Ssjelo gewählte Laufbahn des Gardeoffiziers einzuschlagen, in das Departe-
ment der auswärtigen Angelegenheiten eintrat.
Aus dieser Zeit stammt nun, abgesehen, von vielen kleinen „Gelegen-
heitsgedichten" verliebter, tändelnder, spöttischer, klagender Art — alle
in französischem Geleise — sein erstes größeres Gedicht, das seinen
Namen sogleich berühmt machte, sein Märchenepos „Russlan und Ljud-
mila" (1820). Der Stoff ist' romantisch: Fürst Russlan ist der Freier der
Ljudmila. Sie raubt der Zauberer Tschemomor. Russlan sucht seine Braut,
und auf dieser Suche besteht er die seltsamsten Abenteuer. Die Aus-
führung läuft in dem Geleise seiner früheren Jahre: viel Spielerei, aller-
dings geistreich, viel Gekünsteltes, recht viel echt französische Erotik und
Lüsternheit. Auf diesen französischen Geist hin, und weil ihm als Vor-
bild zum „Russlan" Ariosts „Orlando furioso" gedient hatte, spricht man
gern von der italienisch- französischen Periode seiner dichterischen Ent-
wicklung; man könnte sie ebensogut die französisch -italienisch-deutsche
nennen, denn zum „Russlan" hat auch bedeutend Wielands ,,Oberon"
mitgeholfen.
Wenn das Publikum von der Dichtung begeistert war, so hatte es
ein Recht dazu, denn die Sprache, der Vers waren äußerst gefallig und
lebendig, der Witz war prickelnd und geistreich, der Stoff war neu ge-
formt; aber wenn es darin schon das nationale Epos erblickte, so sieht
man, daß es noch nicht recht wußte, was national ist — es war im
Gegenteil französisch.
Puschkin fühlte sich. Spöttisch, ironisch, satirisch war seine ganze
Natur. Dieser Charakteranlage ließ er jetzt freien Lauf, in Oden und
/
62 Dreizehntes Kapitel
Epigrammen, gegen den Klaiser und Araktschejev , für die Dekabristen
und Pestel , gegen , die Tyrannen und für die Freiheit , gegen das ge-
knechtete Rußland und für die französische Revolution. Der „ Arsamass ''
mit seinen Bestrebungen blieb auch nicht unbekaimt, da konnte er noch
froh sein, daß er nicht eines guten Tags in Sibirien erwachte , sondern
nur in Südrußland, in Jekatjerinosslawl. Puschkin studierte hier. Byron;
er lernte den Kaukasus, dann die Krim kennen, und damit ist die
französische Anakreontik abgetan. An ihre Stelle tritt Byron.
Die zweite Dichtungsperiode Puschkins beginnt mit zwei größeren
Epen: „Der Kaukasusgefangene" (1822) und „Die Fontäne von Bach-
tschissaraj" (1824) — beide nahm das Publikum wieder mit der größten
Begeisterung auf. Der Titel des ersteren kennzeichnet den Inhalt. Mit
dem zweiten ist die historische Tränenquelle im Schloßhof der alten
Tatarenchane der Krim gemeint, die ein Chan zur Erinnerung an eine
schöne Christensklavin hat errichten lassen, die ihm eine andere, eifersüchtige
Sklavin, hat ermorden lassen, v Schon das Thema ist echter Byron;
dazu nun die ganze Auffassung des Stoffes, die Stimmung, die Auf-
machung, das. Versmaß, imd wir haben den „Giaour** oder „Die Braut
von Abydos" oder „Den Korsar"! Großartig und selbständig ist aber
Puschkin in der Naturbeschreibimg, in der Schildertmg der Sitten tmd
Gewohnheiten der Kaukasusbewohner, in der Schilderung der Land-
schaftsschönheiten der Krim. Das russische Publikum erfuhr hier zum
erstenmal etwas von der Naturerhabenheit seines südlichen Reiches.
Ebenso scharf, wie er hier das Bergvolk des Kaukasus und die
Bewohner der Krim zeichnet, zeichnet er in einem andern im Byronschen
Stil geschriebenen Gedicht „Der Zigeuner" {1824) die Sitten dieser
Leute; er selber soll mit ihnen herumgewandert sein.
Nachdem Puschkin aus der Verbannung zurückgekehrt war und in
Moskau seinen Wohnsitz genommen hatte, schrieb er seinen großen
Roman in Versen „Eugen Onjegin" ^^) (1832 vollendet). Einen Inhalt
hat der Roman kaum. Es wird uns nur das nutzlose, blasierte, ge-
wissenlose Leben und Treiben eines jungen reichen Mannes aus der
vornehmen russischen Gesellschaft jener Zeit vor Augen geführt — ein
Typ für alle. Eugen Oujegin ist Childe Harold, ist Don Juan. Und
doch geht Puschkin schon über Byron hinaus; es zeigen sich die An-
fänge des nationalen Dichters. Eugen Onjegin ist ein Russe mit russischer
Empfindtmg und russischer Anschauung. Und es zeigt sich noch ein zweites,
das hiermit eng zusammenhängt, das eigentlich der Boden ist, aus dem erst
sein nationales Empfinden herausgewachsen ist. Puschkin hat 8 Jahre am
„ Eugen Onjegin " gearbeitet — in dieser Zeit hatte er sich auf das eingehendste
mit der deutschen Romantik beschäftigt, aus ihr sehr viel gelernt. „An
dieser Dichtersonneupracht (der Goethes und Schillers) War Puschkins
eigene Glut erwacht" Er nahm selber, auch literarisch, engen Anteil
Alexander Ssergejewitsch Faschkin
63
am Kampf zwischen Pseudoklassizismus und Romantik ; er schrieb heftige
Artikel gegen den ersteren im „Sohn des Vaterlands'*; er überließ „dem
Moskauer Boten ''9 dem Propheten Goethes, seine dichterischen Produk-
tionen; er sandte, als Wjenjewitinov den „Moskauer Telegraphen" grün-
dete und „den Sänger Byrons und Chdniers*^ aufforderte, „auch dem
großen deutschen Alten Goethe" ein freundliches Wort zu sagen, ihm
sofort seine „Szene zwischen Faust und Mephistopheles ". Es stammen
aus dieser Zeit verschiedene Bekenntnisse seines dichterischen Glaubens,
und sie alle sind die Forderungen der deutschen Romantik, voran ihre
Auffassung vom Dichterberuf. .
Der Rebe Spriefien und den Gang
Der Meergeschöpfe, nachtgeboren . . .
Stumm, leblos lag ich fort und foprt,
Als ich vernahm des Höchsten Wort:
,Steh auf, Prophet, und sieh und höre.
Voll meines Willens, allerwärts
Zeug über Länder, über Meere
Und rede Glut ins Menschenherz'/'
„Mit zartem Finger, wie im Traum,
Berührt er (der Seraph) meine Wimpern
kaum —
Und Sehkraft ward dem Augenpaare,
Wie sie verliehn dem jungen Aare.
Mein Ohr berührt er, — und Gedröhn
Durchscholl's und wundersam Getön :
Den Flog der Engel, lichterkoren,
Vernahm ich, und der Sphären Klang,
Diese erhabene, überirdische Stellung des Dichters, die er hier im
,, Propheten" (1826) ausspricht, kehrt noch weihevoller, göttlicher, ferner
dem alltäglichen Leben, ferner dem Treiben der Menge in semem „Dichter**
(1827) und in „Der Pöbel** (1828) wieder, und diese Auffassung ist
^us der deutschen Romantik geholt. Wie sehr ihm deutscher Geist und
deutsches Wesen zusagten, das zeigt andrerseits launig eine Stelle im
„Eugen Onjegin**, da wo dem Genußmenschen Eugen gegenüber sein
Freund Lenskij geschildert wird:
Er war schön, wunderlich, voll Schwung
Der Rede und Begeisterung . . .
In nnentweihter Liebe pflegte
Er alles was nur schön und gut.
Und durch die Welt mit seiner Leier
Zog er zu Schillers, Goethes Feier;
An dieser Dichtersonne Pracht
War seine eigene Glät erwacht."
it
Von Gemüte
Göttinger Bnrsch, der in der Blüte
Der Hoffnung und des Lebens steht,
Verehrer Kants ist und Poet!
Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder
Mit Fruchten der Gelehrsamkeit,
Freiheitsideen unserer Zeit.
Sein Haar hing bis zum Nacken nieder.
Zu diesem Freunde sieht Eugen in allen guten Stunden mit Be*
geisterung auf — in böser Stunde freilich fordert er ihn und tötet ihn.
Wenn dann aber die guten wiederkommen, wenn sich seine Seele sammeln
will, wenn Friede in sein Gemüt einzieht, dann schließt er sich von allem
ab und liest — Schiller.
„Eugen Onjegin** ist der erste psychologische Roman
Rußlands.
In Byrons Stil sind noch die liederlichen Epen: „Graf Nulin" und
„Das Häuschen von Kolomna". Damit wirft Puschkin aber den Mantel
Byrons ab. August Schlegel hatte als das eigentliche Wesen der Romantik
^ f Dreizehntes Kapitel
das Nationale betont, dies jedoch nur den romanischen und germanischen
Völkern zugestanden; Puschkin zeigte, daß es auch für das slawische
galt: er schrieb 1831 aus Altruölands Geschichte das Drama y,Boriss
GodtmoT*' — die dritte Periode seiner dichterischen Entwicklung.
,, Nationale Romantik*' zeigen auch schon vorher zwei auf russische
Geschichte sich stützende Epen, der in Gedanken und Form gleich
großartige „Gesang vom Weisen Oleg" — dem Oleg, der auf die Weis-
sagung hin, er werde durch sein treustes Schlachtroß den Tod finden,
dies nie wieder besteigt und doch durch dasselbe stirbt, indem lange
Jahre nachher unter seinem Totenschädel die giftige Schlange hervor-
schießt und Oleg umwindet — und das zweite Epos „Poltawa". Ursprüng-
lich hatte der Dichter es richtiger „Maseppa^* genannt, denn die Schlacht
ninunt nur einen Gesang ein. Er hatte den Titel fallen lassen, um einen
Vergleich mit Byrons „Maseppa*' zu vermeiden.
Aber am schönsten tritt die nationale Romantik in „Boriss Godunov'*
hervor. Es ist kein Drama im strengen Sinne der früheren Zeit, d. h.
seine Handlung ist nicht einheitlich, steht nicht im ELausalzusanmienhang,
aber es ist ein Drama im Sinne unserer Jetztzeit, wie es Gorkij, Tschechov,
unsere deutschen Modernen schreiben, und wie es ehedem Goethe in
seinem „Götz** geschrieben hat, der Puschkins Vorbild gewesen ist Es
sind mehr oder weniger fest aneinander gereihte Szenen, die ein Bild
von jener Zeit aufroUen, wo der Usurpator Boriss Godunov nach Er-
mordung des letzten Rurik seinen Thron gegen den falschen Demetrius
verteidigen muß. Welche Lebenswahrheit, welche Naturtreue herrscht in
diesen Bildern, die streng auf der Geschichte, wie sie Puschkin bei
Karamsin gefunden, au%ebaut sind! Die Menschen sind Menschen, keine
Helden, keine Halbgötter, wie sie bis dahin die russische Bühne in Nach-
ahmung der französischen gesehen. Boriss Godunov, Demetrius, alle
übrigen haben Menschenblut, haben menschliche Vorzüge und mensch-
liche Schwächen und reden die Sprache der Menschen. So hatte der
Dichter die Menschen bei Shakespeare und bei Goethe gefunden, und
so hatte er sie nicht im französischen Drama gefunden. Dem letzteren
schlägt er überall ins Gesicht: keine Einheit des Orts, keine Einheit der
Zeit, kein Alexandriner, keine Einteilung in Akte, sondern nur, genau wie
„Götz** Szene neben Szene, und was ein französisches Drama nie erlaubt
hätte, Volksszenen, richtige Volksszenen mit Trunkenbolden imd mit faulen
Witzen — alles Shakespeare, alles „GötÄ"!
Mit dem Erscheinen von „Boriss Godunov** war das französische
Drama in Rußland abgetan. Puschkms übrige Dramen' haben dazu kaum
beigetragen;, sie stehen dem „Boriss Godunov" nach: die Tragikomödie
„Der geizige Ritter" (1830 — der Ritter häuft Gold auf Gold und
wird dadurch der Feind seines Sohnes), „Mozart und Salieri" (1830 —
der Haß Salieris gegen Mozart), „Der steinerne Gast" (1830 — Don
Michael Jorgewitsch LermontoT ge
Juan), das unvollendete „Die Wassernixe" (1832 — aus Altrußlands
Märchenwelt) und die oben erwähnte „ Szene zwischen Faust und Mephi-
stopheles" (1825).
Puschkin hat mit „Boriss Godunov" seine Höhe erreicht. Er war
älter, und die Zeiten waren schlimmer geworden. Er hatte auch 1831
geheiratet, Fräulein N. N. Gontscharowa. Da wollte er gern in Peters-
burg bleiben, und so hieß es Kompromisse schließen, mit der Regierung,
mit dem Kaiser. Nikolaus I. war freundlich zu ihm : er wurde Kammer-
junker, was freilich nicht viel bedeutete.
Er zog sich, ähnlich wie Karamsin, in das Fach der historischen
Belletristik zurück. Es entstanden seine „ Geschichte des Dorfes Gorochino "
(1830), die „Geschichte des Pugatschov- Aufstandes " (1833), „Die Kapi-
tänstochter** (1836 — Szenen aus dem Pugatschov-Aufstande), die „Histo-
rischen Anekdoten" (1834), auch „Die Pikdame" (1834). Er gründete
die rein literarische Zeitschrift „Der Zeitgenosse". Aber weder das
Publikum noch die Kritik zeigten die frühere Begeisterung; das Publikum
zog den Stürmer dem Geklärten, dem etwas reaktionär Angehauchten vor,
und einzelne Kritiker sprachen ihm sogar die Empfindtmg, selbst den
WohUaut seiner Sprache ab — was eine spätere Kritik wieder gutmachte.
Aufsehen erregte erst wieder sein tragisches Ende. Klatschereien,
welche die Ehre seiner Frau berührten, ließen ihn den Verleumder, den
Gesandtschaftssekretär Dantj^s, fordern. Dessen Kugel traf ihn tödlich.
Er starb am 29. Januar 1837.
Puschkins Dichtungen ^^) aus seiner guten Zdit sind ein großer, reicher
Schatz für Rußland gewesen und es geblieben. Seine Poesie wurde auf
ihrem Höhepunkt national und vertrieb dadurch und durch ihre Natür-
lichkeit die Unnatürlichkeit des französischen Klassizismus. Puschkin ist
der Maler der Wirklichkeit, der russischen Wirklichkeit; er wählte von
der Romantik die reale Seite, aber er wühlte nicht in ihren Tiefen; er
kannte auch die Höhen, und diese sind umstrahlt von der Ursonne, aus
welcher der Realismus entflossen ist, von der reinen Romantik. Der
Romantik oberste Forderung heißt Phantasie ; mit ihr umschließt Puschkin
den Himmel und die Erde, mit ihr zauberte er bis dahin unbekannte Ge-
bilde hervor, die Schönheiten der kaukasischen Bergesnatur. Puschkins
Sprache ist die Sprache der Wirklichkeit, aber bei aller Natürlichkeit und
Einfachheit, fem von jedem überflüssigen Beiwerk, ist sie von unendlicher
Grazie, von unendlichem Wohllaut ^®).
Vierzehntes Kapitel
Michael Jurgewitsch Lermontov
§ 39 I Die gewaltige Kraft dichterischen Talents, die Puschkin inne-
wohnte, hat auch Lermontov ^^) ; freilich geht sie in etwas anderen Bahnen.
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 5
66 Vierzehntes Kapitel
LermontOY wird gewöhnlich als der bedeutendste Vertreter Byronseber
Zerrissenheitspoesie, Byronschen Weltschmerzes hingestellt. Nicht mit Un-
recht. Nicht allein ist ein Teil seiner Werke direkt nach Byron gearbeitet^
überhaupt der Geist seiner Dichtungen ist der Byrons, der düstere^
▼erzweiflungsvoUe, zersetzende« alles Hohe verachtende und verhöhnende.
Aber diesen Geist hat er nicht allein durch das Studium Byrons; er ist
dadurch nur bestärkt worden; die Zerrissenheit, der Weltschmerz wäre
über einen so stolzen, leidenschaftlichen Menschen, wie er war, auch
ohne Byron gekonunen. Den gaben ihm die Zustände in seinem Vater-
land, die ganze Nikolaitische Zeit, die Verhältnisse, unter denen er lebte.
Lermontov hat nur ein kurzes, unruhiges Leben gelebt. Der in
Moskau 1814 geborene Knabe verlor bald Mutter und Vater. Die sehr
reiche und adelsstolze Großmutter verhätschelte ihn, so daß er hochmütig,
eigensinnig, spottlustig wurde. Sehr befähigt kam er früh zur Universität,
trat jedoch bald in ein Petersburger Gardehusarenregiment ein, wo er
tolle, ausschweifende Jahre verlebte« Diesen Stempel trägt eine ziemlich
große Zahl von Dichtungen jener Zeit: „Das Petershofer Fest", „Die
Ulanin", „Die Frau des Kassierers". Das war aber nur die eine Seele
in Lermontovs Brust — er lebte noch ein zweites Leben, fem von diesen-
Nichtigkeiten und Fadheiten, ein tief innerliches, tief ernstes, ein Leben,,
wo er sich mit den großen Denkern aller Kultumationen beschäftigte,,
mit Byron und Shakespeare, mit Lessing, Goethe, Schiller, mit Rousseau,.
Voltaire und von den eigenen Landsleuten vor allen mit Puschkin. Eine
tiefgehende Wendung rief daher der unter so tragischen Umständen er-
folgte Tod Puschkins auf ihn hervor. Er feierte den Dichtergenius in
einer Ode „Auf den Tod des Dichters" (1837), imd in dieser Schob-
er den Tod direkt der vornehmen Gesellschaft wegen ihrer ehr- und ver-
nunftwidrigen Anschauungen und wegen der Verderbtheit ihrer Sitten zu.
Mit dieser Ode war Lermontovs Dichtemame bekannt, sein Dichterruf
begründet.
Aber den jungen Leutnant traf die Strafe. Die entrüstete vornehme
Gesellschaft setzte bei Nikolaus seine Versetzung nach dem Kaukasus
durch. Für den Leutnant war das hart, für den Dichter von unendlichem
Wert. Diesem Aufenthalt verdanken wir die schönsten Perlen seiner
Poesie, die Schilderungen der Naturschönheiten des Kaukasus und der
Sitten seiner wilden Völker, eine Naturmalerei, wie sie selbst Puschkin
nicht gelungen ist. Lermontovs Großmutter, die sehr viel bei Hofe galt,,
brachte ihn zwar bald wieder nach Petersburg zurück; aber Lermontov
neigte zum Spötteln und Höhnen, eine Folge seiner falschen Erziehung,
und so kam es zu einem Duell zwischen ihm und dem französischen
Gesandten. Er wurde wieder nach dem Kaukasus strafversetzt, kam wie-
der zurück, ging wieder dorthm, hatte wieder, aus ganz nichtigen Gründen,,
hier ein £)ueU und fiel darb, 27 Jahre alt (1841).
Michael Jnrgewitsch LermontoT 0^
Lermontov ist, wie gesagt, ByroD. Schon den Jungen sah man oft
mit Byrons Gedichten unter dem Arm, und der junge Mann drapierte
sich gern mit dem Byronschen Mantel. Auch Puschkin war in Bpon
aufgegangen , hatte sich dann aber aus ihm herausgeschält. Das hätte
vielleicht aucn^ Lermontov; nur ließ ihm das Schicksal nicht Zeit genug
dazu. Die russische Kritik von früher erklärte ihn fUr einen sklavischen
Nacharbeiter des englischen Dichters, so daß an ihm selber nichts Gutes
übrig blieb; die heutige verfällt gerade in den entgegengesetzten Fehler,
indem sie jede Anlehnung an Byron, auch an Lessing, Goethe, Schiller
leugnet. Beides ist falsch, aber Lermontov bleibt bei aller Anlehnung
doch ein großer Dichter.
Wie Byron mit Vorliebe seine Stoffe aus dem fernen Osten wählt,
weil er dort noch die reine, unverfälschte Natur im Menschen sah,
während ihn der Mensch seiner Umgebung anekelte, so geht Lermontovs
„Korsar" ^®) fort von der Heimat, zu den grauen Felsgestaden der Donau
und dann weiter nach Griechenland und weiter, weiter zum wilden Meer ;
so führen alle seine „östlichen" Gedichte „Chadsi Abrek", „Ismael
Bey", „Der Dämon", und das herrlichste von allen „Mzyri" in die wilden
Berge des Kaukasus, nach Grusien ^^). ^
„Ghadsi Abrek" ist der junge Kaukasier, der die Pflicht der Blut-
rache am Mörder seines Bruders erfüllen will und dabei entdeckt, daß
der ihm auch seine Geliebte geraubt hat, die aber glücklich mit jenem
ist. Da tötet er nicht ihn, sondern sie. „Ismael Bey" ist der junge
Grusinier, der vom Vater nach Rußland geschickt ist,, dem aber Heim-
weh das Herz zersprengt; vergrämt, verzweifelt kehrt er unter unsäglichen
Mühen und Drangsalen in den heimatlichen Aul (Dorf) zurück. Dem
„Dämon" liegt die grusinische Sage von einem gefallenen Engel (d. i. der
Dämon) zugrunde, der die georgische Ftirstentochter Tamara liebt; der
Überirdische zerstört das Glück der Irdischen, er trägt jedoch dafür die
Schmerzen eines Irdischen. Und endlich „Mzyri" ist der von den Russen
gefangene und in einem russischen Kloster erzogene Tscherkessenknabe,
den, wie Ismael Bey, die Sehnsucht nach der Heimat packt. £r flieht
Und über reißende Gießbäche und tiefe Felsschluchten eilt er und durch
Urwälder und über die nackten Höhen des Kaukasus, in sengender Mittags-
glut und in der Eiseskälte der Nacht. Er sieht schon das heimatliche Dorf.
Da stürzt plötzlich aus dem Dickicht ein Tiger, und ein wildes Ringen
beginnt Er siegt, aber sinkt toderschöpft auf das Gras. Sein brechendes
Auge blickt in den Bach. Da schwimmen die Fische herbei und ein gold-
schuppiger sieht ihn wehmutsvoll an.
„Mein eigen sei,
Mein Kind, bei mir bleib da:
Im Wasser ist das Leben frei,
Und hier ist Kühl' und Ruh.
Ich rufe meine Schwestern her:
Und Tanzesreih'n und Scherz
Klärt deinen Blick so kummerschwer,
Erfreut dein müdes Herz.
5*
68
Yierzehotet Kapitel
Schlaf Weich dein Bett bereitet steht,
Die Decke klar und rein,
Im süßen Traum die 2^it vergeht,
Die Welle wiegt dich ein!
Ich liebe dich, da janges Blat,
Dich mir za eigen gib !
Bist mir wie frische Wasserfiat,
Mir wie mein Leben Iiebl'<
Das ist Goethes „Fischer" und Goethes „Erlkönig". Ler-
montov kannte Goethe, Schiller, Lessing genau; das wird sich an
seinen Dramen noch näher zeigen. Lermontov kannte auch Byron
genau und hat sich gern an ihn angelehnt. Alle die eben gezeichneten
Gestalten, wie auch femer den „Bojaren Orscha" und den Träger
der Handlung im Roman „Der Held unserer Zeit" sehen wir bei Byron
im „Korsaren", im „Giaour", in „Lara", in der „Braut von Aby-
dos'*, im „Childe Harold" usw. Eine Kritik, die das leugnet, legt
sich selber die Binde vor die Augen. Trotzdem ist er, wie gesagt, ein
großer Dichter.
Ganz sein ist die eigenartige romantische Gestaltung des Stoffes
und dann vor allem die die farbenprächtige Beschreibung der Natur-
schönheiten des Kaukasus und die lebenswahre, lebenstreue und doch
in romantischem Lichte glänzende Zeichnung der Bergbewohner und
ihrer Sitten.
Im Kaukasus spielt auch Lermontovs bestes Werk, sein Roman „Der
Held unserer Zeit" (1839 — 1840). Der Held unserer Zeit ist ein Mann, wie
ihn Lermontov nicht will, wie ihn aber das Rußland seiner Zeit wollte. Der
Träger der Handlung, Pjetschorin, ist Offizier, gesund, kräftig, klug, ge-
wandt, aber innerlich hohl, ohne Herzensbildung, ein kalter Egoist, ein
Genußmensch, der, um zu seinem Genuß zu kommen, weder die Ehre
noch das Leben der andern — Weib oder Mann — schont. Pjetschorin
ist in seiner Philosophie, seiner Lebensauffassung der Don Juan, der
Junker Harold Byrons. Auch die Abenteuer, die er in seiner Kaukasus-
gamison erlebt, ähneln denen Byrons ; sie sind grausam, herzlos. Lermon-
tov hat sich übrigens zum Teil in Pjetschorin selber porträtiert. Das alles
würde abstoßen. Aber Lermontov will diese Fehler dadurch, daß er sie
aufdeckt und offen bespricht, gerade brandmarken; er sitzt über ihnen
wie über sich zu Gericht und verdammt sie. Das Schönste am Roman
sind wieder die lebensvollen und lebenswarmen Naturschilderungen, das
Lyrische. Die schönsten Stellen in allem, was Lermontov geschrieben
hat, sind überhaupt die lyrischen.
Lermontovs vornehmstes Gebiet ist die Lyrik. Oben ist das tief-
innige, wehmutsvolle Liedchen aus „Mzyri" zitiert. Andere Kleinodien
sind: aus seiner Frühzeit „Der Tod" (1830), „Der Engel" (1831); aus
den späteren Jahren „Ein Gebet" (1837), „Die drei Palmen" (1839),
„Die Wolken" (1840), „Das Kasakenwiegenlied" (1840), und die stolzen
Verse, die der Bekenncr und der Prophet der Romantik, im „Dichter"
(1839) spricht:
Michael Jnrgewitsch Lermontov
69
„Wie schlugen eiost der Sänger
klangmächt'ge Worte ein,
Entzündend zn der Glut des Kampfes!
Das Volk bedorfte ihrer
wie des Pokals zum Wein,
Wie beim Gebet des Opferdampfes.
Sie schwebten über ihm
gleichwie der Geist des Herrn,
Und zum Gebet, gleichwie zum Sturme
Der Schlacht, entflammten sie
Die Völker nah und fern
Wie Glockenklang Yom hohen Turme/'
und im „Propheten" (1841):
„Mir, nach des Ew'gen Ratschluß, dort
Beugt sich die Kreatur der Erde —
Die Sterne horchen meinem Wort
Mit freudestrahlender Geberde.'*
Der nationale Dichter, zu dem sich Puschkin so kraft- und macht-
voll hindurchgearbeitet hatte, leuchtet bei Lermontov nur selten hervor —
die Zeit seines Ringens war, wie gesagt, zu kurz; aber die wenigen Ge-
dichte, zwei, die er geschrieben, „Borodino** (i 831) und „Das Lied vom
Zaren Iwan Wassiljewitsch , dem jungen Opritschnik und dem tapfem
Kaufmann Kalaschnikov", sind Meisterwerke. Wie gewaltig hebt sich trotz
der so einfachen , gemütlichen Einleitung und Einkleidung des Ganzen,
trotzdem die Geschichte in der stillen Dämmerstunde am warmen Ofen
im kleinen Zimmerchen erzählt wird, das Ringen der Heere bei Borodino
heraus und wie strahlt trotz des Unglücks Rußlands Größe! Und der
Kaufmann Kalascbnikov, der so friedlich, ruhig alles hinnimmt, wie wird
der mutig und entschlossen, als ihm die Ehre seiner Frau vom jungen
Opritschnik angetastet ist ! Russischer Gleichmut imd russische Tapferkeit !
Lermontov ist kein Dramatiker; er konnte es gar nicht sein, weil
seine Poesie Subjektivdichtung ist. Er hat jedoch ein paar Dramen ge-
schrieben, Jugendwerke, die für uns eigentlich nur der russischen Kritik
wegen Interesse erwecken. Er steht in diesen Dramen ganz auf deutschem
Boden ^*). Das sind seine „Spanier" (1830) und „Die zwei Brüder" (1830).
„Die Spanier" beruhen aber nicht, wie die russische Kritik von heute
noch immer annimmt, auf Schillers „Räubern" und „Kabale und Liebe",
sondern auf Lessings „Nathan" und auf „Emilia Galotti", und die „zwei
Brüder" beruhen nicht auf Schillers „Braut von Messina", sondern auf
den „Räubern". Außer diesen beiden Stücken hat er noch ein Drama
mit dem deutschen Titel „Menschen und Leidenschaften" {1830) ver-
faßt, die Geschichte der traurigen Verhältnisse in seinem Elternhause, des
Zerwürfnisses zwischen seinem Vater und seiner Mutter; und schließlich
noch „Die Maskerade" (1834). Der Held der „[Maskerade** ist ein
zweiter Dämon.
Lermontov hat bei uns in Deutschland sehr gute Aufnahme gefunden,
größere und frühere als bei seinen Landsleuten. Schon 1840, also noch
bei seinen Lebzeiten, gab Vamhagen unter dem Tilel „Bela" einen Ab-
schnitt aus „Dem Helden imserer Zeit" heraus. Es folgen dann Auf-
sätze über ihn, Übersetzungen einzelner Gedichte, bis 1853 der mit ihm
^o F&nfzehntes Kapitel
befreundete Bodenstedt eine hervorragende Übersetzung eines großen Teils
seiner Schöpfungen brachte ^^). Freilich wird die Authentizität einiger von
ihm gebrachter Gedichte von russischen Literarhistorikera bezweifelt.
Lermontovs Werke sind auch ins Französische, Englische, Polnische,
Serbische tibersetzt. Heute, wo man in Rußland den Wert seiner Dich-
tungen erkannt hat und ihn anders einschätzt als früher, ist die Literatur
über ihn ins Ungeheure gestiegen ^*).
Fünfzehntes Kapitel
Um Puschkin herum
§ 40 I Die „neue" Poesie Puschkins breitet sich aus. Trotz der
jammervollen äußeren Verhältnisse — vielleicht auch gerade durch sie —
war der russische Geist erwacht und verlangte nach Arbeit und Schaffen.
Eine ganze Schar wirklicher Dichter tritt mit Puschkin zusammen auf den
Plan, die, zum Teil seine Freunde und Anhänger, nach ihm eine förm-
liche Schule bilden, oder, in loserem Zusammenhang mit ihm, doch das
Gemeinsame haben, daß sie mit der alten Zeit, d. h. dem französischen
Klassizismus gebrochen haben. Am wenigsten nahe stehen ihm Ba-
tjuschkov und Gribojedov; ganz sein sind Delwig, Jasykov, Baratynskij,
Rylejev, Wjenjewitinov u. a. m. '^)
§ 41 I Batjuschkov (1787 — 1855) gehörte zwar mit Puschkin
zum Kreise Shukowskijs, zum Verein Arsamass, er wurde auch von Pusch-
kin zärtlich geliebt, aber seine Dichtungen laufen nur zum Teil in dieser
Richtung. Wohl hatte er etwas vom Romantiker an sich; er war ein
Zerrissener, dessen Zerrissenheit sogar im Irrsinn endete. Es ist aber
nicht der hervorstechendste Zug seiner Dichtungen: der Übersetzer von
Tibull und von Horaz hat seine Kraft in der leichten Anakreontik, in der
Erotik; er neigt zu den Franzosen imd sucht in ihrer heiteren und ge-
fälligen Form zu glänzen. Es zog^ ihn aber auch zu Byron und Tasso ;
sein Gedicht „Der sterbende Tasso" ist tief melancholisch, tief pessi-
mistisch. Es zog ihn auch zu den Deutschen, zu Goethe, Schiller, Voß,
Matthisson. Sein „Übergang über den Rhein", den er als Stabskapitän
18 14 mitmachte, gibt ein herrliches, romantisches Bild vom Fluß, von
seinen Ufern, seinen Bergen. Er wütet hier gegen dia Franzosen, um
dann, als er in Paris einzieht, den „Franzosenfreund" zu besingen —
ein unsteter, kranker Mann, sich aufbäumend gegen die Regierung, gegen
die politischen und sozialen Verhältnisse, gegen sich selber, und dann
wieder weich nachgebend und hin und her schwankend, aber in allem
ein Dichter, ein hervorragender Lyriker.
§ 42 I Ein anderer ist Gribojedov ^^) (1795 — 1829), Puschkins
großer Rivale in der Gunst des Publikums; Puschkins „Eugen Onjegin"
hatte eine Zeitlang einen schweren Stand gegen Gribojedovs Drama
Um Paschkin heram
7»
IJ
Verstand schaffi Leiden". Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts stand
die Bühne einmal wieder im Vordergrund des Interesses. Nicht allein
in den großen und kleinen Städten spielte man, auch jeder größere Guts-
besitzer bildete sich aus seioen Leibeigenen Schauspielertrupps, die ihm
Possen, Vaudevilles, am liebsten Balletts vorspielen mußten. Hier und da
ging über die russische Bühne aber auch Goethe, Schiller, Lessing, noch
lieber Kotzebue; da Shakespeares Königsdramen vom Hofe und von
der Regierung als revolutionär einfach verboten waren, hat sich erst eine
spätere Zeit auch an die unschuldigeren herangewagt. Ein guter Dra-
maturg und ein guter Förderer junger Talente war Fürst Scha-
chowskoj. In seinem vornehmen Hause unterstützte er gern durch
Rat und Tat emporstrebende Talente wie Gribojedov, Gnjeditsch,
Katjenin, Kokoschkin, Sagosskin, Chmjelnizkij; schade, daß
er auch ein Dichter sein wollte und dieses glaubte durch 80 — sage
achtzig — Stücke beweisen zu müssen.
Gribojedovs „Verstand schafil Leiden" ^^ (1824) stellt zwei Gene-
rationen der vornehmen Gesellschaft einander gegenüber, die ältere in
Famussov, dem als höchstes, einzigstes Ideal der Rang, die Rangstufen
erscheinen, der verächtlich auf alles andere, vor allem auf die Wissen-
schaft herabsieht, dem vom Wissen nur die französischen Brocken und
Gesellschaftsßoskeln imponieren. Auf der andern Seite steht der die
jüngere Generation repräsentierende Tschazkij, der diese Sucht, das Fran-
zösische nachzuäffen, die knechtische Verehrung des Auslands auf das
schärfste geißelt, sich aber mit seinem gesunden „Verstände" bei seinen
verbohrten Landsleuten nur „Leiden schafft". Daß Gribojedov mit seiner
bittem Satire in ein wahres Wespennest gestochen hatte, beweist der großartige
Beifall der einen, beweisen die heftigen Anfeindungen der andern; diese
und jene ironische Bemerkung, dieses und jenes Bonmot gingen so
von Mund zu Mund, daß sie zum Sprichwort geworden sind. Man muß
sagen, daß aus mancher spöttischen Redewendung, aus dem Dialog oft
französischer Esprit hervorleuchtet. Deshalb aber und weil er die Regeln
von den drei Einheiten beobachtet, Gribojedov für den Pseüdoklassizis-
mus in Anspruch nehmen zu wollen, geht zu weit. Goethe hat im
„Torquato Tasso" auch die drei Einheiten. Und wenn er nun einmal
zum Pseudoklassizismus sich bekennen wollte, warum ließ er es dann bei
dieser einen Äußerlichkeit bewenden und nahm nicht auch die zweite,
den Alexandriner? Dafür hat er jedoch Jamben mit wechselnder Länge.
Eher könnte man sagen, er gehörte, obwohl er aus Voltaire, aus Viktor
Hugo übersetzt hat, zu den Deutschen; denn abgesehen davon, daß er
deutsch erzogen war, daß Schlözer, Buhle auf der Universität seine Lehrer
waren, daß er für Goethe, Schiller, Wieland, Shakespeare eine aus-
gesprochene Vorliebe hatte, abgesehen hiervon sein „Verstand schafft
Leiden" baut sich auf Wielands „Geschichte der Abderiten" auf.
72 Fünfzehntes Kapitel
Als die AnfeinduDgen wegen seines Stückes außerordentlich heftig
wurden, zog sich Gribojedov eine Zeitlang in stille Abgeschiedenheit zurück,
und hier suchte er und fand er Erholung in der Übersetzung des Pro*
logs von Goethes „ Faust *S und das war keine augenblickliche Laune,
sondern seine Künstlerbeichte. Romantik, nicht die Byronsche, sondern
die Shakespeare - Goethesche , atmet auch seine unvollendete Tragödie
„Eine Nacht in Grusien'^ Die erhabene Natur der kaukasischen Berge
ist grofiartig gezeichnet.
Gribojedov kannte durch seinen längeren Aufenthalt als Gesandt-
schaftssekretär Grusien sehr genau. Als er von dort in die Stellung
eines bevollmächtigten Ministers nach Teheran ging, wurde er hier von
einem fanatischen Volkshaufen ermordet.
§ 43 I Delwig (1798 — 1831) hat in manchem seiner „Russischen
Gedichte" den echten Ton des Volksliedes getroffen. Er ist vor allem
Lyriker, auch in seinen Idyllen. In einer Sanmilung von Gedichten und
Prosabeiträgen, die er mit Unterstützung seiner Freunde Shukowskij,
Puschkin u. a. unter dem Titel „Blumen des Nordens" herausgab, ist
der hervorstechendste Zug „die deutsche Sentimentalität und die roman-
tische Melancholie". Die deutsche Sentimentalität lag ihm durch die
Geburt; seine Voreltern gehörten zum westfälischen Baronsgeschlecht der
Dalwig. Er gab auch im Sinne der „neuen" Poesie 1830 die „Lite-
raturzeitung" heraus. Als er bald nachher starb, war Puschkin, der ihn
von der Schule in Zarskoje Ssjelo her kannte, geradezu untröstlich.
Jasykov (1803 — 1846) wird der „russische Anakreontiker" ge-
nannt. Als Sänger des Bacchus, der Freundschaft, der Liebe hat er sich
durch seine klangvollen und dabei innigen „Gedichte" (1833) wohlver-
dienten Ruf erworben. Puschkin schenkte ihm seine Aufmerksamkeit,
und von da ab wandte er sich ganz dessen „netier" Poesie zu. Als
Redakteur des „Moskauer Boten" arbeitete er für diese Richtung. Außer
den Anakreontika zeigen auch seine Elegien, seine vaterländischen Ge-
dichte („Meine Heimat" — «Oleg") tiefes Empfinden und wahres Ge-
fühl. Leider wurde aus dem oft recht lockeren Sänger der Liebe ein
Frömmler und aus dem Freiheitsdichter ein Reaktionär, der sogar seine
früheren Freunde denunzierte: sein Charakterbild schwankt also nicht.
Baratynskij (1800 — 1844) wurde von Puschkin höher als Delwig
und Jasykov eingeschätzt. Er vertritt die „neue" Poesie, aber mehr nach
der Byronseite hin. Seine Gedichte sind auf den traurigen, melancholischen
Ton gestimmt, voller Reflexionen, voller Selbstzerfleischung ; Puschkin
nannte ihn gern seinen „Hamlet". In seinem Gedichtband „Abend-
dämmerung" (1842) ist manches Hübsche, Zarte, Stimmungsvolle. Er
war ein großer Verehrer Goethes; sein Gedicht „Auf den Tod Goethes"
(1833) ist tief empfunden. Durch einen längeren Aufenthalt in Finland
— er war dort Offizier — war er mit der finländischen Natur und dem
Um Puschkin hemm
73
Wesen seiner Bevölkerang sehr vertraut geworden ; er hat beides in seinem
größeren Gedicht „Eda'^ ausgezeichnet gemalt.
Eine Byronnatur, wie Baratynskij, aber nicht wehmütig und sich zer-
fleischend, sondern feurig, kraftvoll, ein Mann der Überzeugung und der
Tat ist Rylejev (1795 — 1826). Seine Überzeugungstreue besiegelte er
mit dem Tode; er wurde als Hauptbeteiligter an der Militärverschwörung
von 1825 mit den andern Führern in der Peter-Pauls-Festung gehenkt.
Sein episches Gedicht „Woinarowskij " (1825 — Woinarowskij war der
Waffengefährte Maseppas gegen Peter und wurde, geschlagen, zu entsetz-
lichem Schicksal nach Sibirien verbannt) ^ atmet Byronschen Geist und
geht im Stile seiner Romantik. Chamisso hat es trefflich übersetzt (mit
dem Titel „Die Verbannten"). Der nationale Dichtef spricht aus seinen
„Träumereien" (1825), die sozusagen eine Geschichte Rußlands in Versen
sind ; er träumt sich in die Heldenzeiten der Ahnen zurück und will sein
Volk durch diese Beispiele gegen die jetzigen Machthaber entzünden. Ein
unparteiischer Historiker ist er freilich nicht.
Die Vorhergehenden überragt der jung verstorbene Wjenjewitinov
(1805 — 1827). Er ist ein großer Verehrer Schellings, Goethes, Pusch-
kins. Sein „Dichter" gibt sein romantisches Bekenntnis ganz in dem
Sirme von Puschkins „Dichter" und von dessen „Propheten". Obwohl
von Naturanlage viel mehr eine Byronnatur, schwärmte er für Goethe;
er hat vorzüglich Szenen aus „Faust", dann die dramatischen Spiele
„Künstlers Erdenwallen" und „Künsüers Apotheose" übersetzt. Zum
Kult der „neuen" Poesie gründete er noch kurz vor seinem Tode den
„Moskauer Telegraphen" (1827), für den ihm Puschkin seine „Szene
zwischen Faust und Mephistopheles" zur Verfügung stellte.
Durch das Studium Puschkins reifte die dichterische Kraft eines
andern, seltsamen Menschen aus, des Autodidakten Kolzo v (1809 — ^^4^)$
des russischen „Bums". Er ist der beste Volksliederdichter'®)
Rußlands. Aus dem Volke hervorgegangen und immer in engster Be-
rührung mit ihm — sein Vater wie er waren Viehhändler — , fühlte er
alle Freuden und Sorgen mit ihm und wußte er diese in innige, schlichte,
einfache Töne zu kleiden. Seine „Russischen Lieder" sind tief aus der
Seele des Volks geschöpft, wachsen hervor aus dem weiten, grünen Boden
der heimatiichen Wiesen und Felder („Die Ernte", „Des Landmanns
Lied", „Der Wald"). Der so weich- und zartfühlende Dichter ging
frühzeitig an der Schwindsucht zugrunde; die Gedichte des Mannes, der
erst in späteren Jahren schreiben lernte, wurden 1846 von Bjelinskij
herausgegeben. ^
Es gehört noch eine ganze Reihe von keineswegs unbedeutenden
Namen hierher : der früh erblindete K o s 1 o v („Der Mönch" nach Byron);
D. Dawydov („Soldatenlieder"); Herr und Frau Glinka (sie — Über-
setzerin von Schiller); und vor allen der durch tiefe Gedanken, innige
yj Sechzehntes Kapitel
Gefühle, lebenswarme Naturschilderungen ausgezeichnete Tjuttschev
(auch guter Übersetzer von Goethe, Schiller, Heine; eine Auswahl seiner
Gedichte ist ins Deutsche übertragen) ; dann der recht klangvolle, aber etwas
erotisch angehauchte Wjerdjerewskij; der auch als Elritiker $ehr tätige
Fürst Wjasemskij; die beiden Brüder Tumanskij; Tjepljakov u. a.
Sechzehntes Kapitel
Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. —
Die Slawophilen
§ 44 I „Die naturalistische Schule". So wurden Gogol und seine
Anhänger zunächst spöttisch von der Kiitik genannt. Der Spott hörte
bald auf.
GogoP^) (1809 — 1852) ist der größte Humorist Rußlands gewesen,
ein wehmütiger Humorist; sein Lachen ist ein Lachen unter Tränen,
denn was er schreibt, ist eigentlich furchtbar traurig, ist zum Weinen; es
wird nur durch den darüber hinflutenden Humor erträglich.
Gogol ist der Vater des russischen Realismus Auch Pusch-
kin ist Realist, aber Puschkin malt nicht, wie er, nur die Schattenseiten
des Lebens, im Gegenteil, er bevorzugt die Sonnenseiten. Gogol dagegen
zeichnet, vor Dostojewski] und lange vor Zola und Gorkij, mit Vorliebe
den Abhub der Gesellschaft, das menschliche Laster, die menschliche
Schande. Freilich werden die Schärfen, das Bittere, das Herz und
Seele Zermürbende solcher Gemälde durch den über alles und alle hin-
strömenden Humor milder, sanfter, versöhnlicher, wie es annähernd etwa
nur Dickens versteht.
Der junge Gogol ist ein anderer als der Gogol der mittleren Jahre
und gar als der spätere. Der junge war, bevor er sich und seine Eigen-
art fand, Romantiker, deutscher Romantiker. Seine ersten Werke sind
direkt dem Deutschen entlehnt. Er hat die Deutschen nie geliebt, aber vor
deutscher Bildung und deutschem Wissen großen Respekt gehabt. „ Schlözer,
Müller, Herder", schreibt er in seinen „Arabesken" (1832), „sind die
großen Baumeister der Weltgeschichte". Ebenso nahe stehen ihm Goethe
und Schiller, und sein erster literarischer Versuch ist das von ihm
nachher wegen erfolgter schlechter Kritik verbrannte romantische Idyll
„Hans Küchelgarten" (1827), das nicht allein den Stoff, sondern die
einzelnen Personennamen direkt aus Voß' „Luise" entnommen' hat; Voß'
„Luise" war 1820 in russischer Übersetzung erschienen. Ebenso ist
seine Novelle „Das Porträt" (1834), das die Seelentragödie eines jungen
Künstlers schildert, welcher Verrat an der echten, reinen Kunst übt,
E. T, A. Hoffmann.
Romantisch sind auch die „Abende auf dem Meierhof bei Dikanka"
Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — Die Slawopbilen yc
(1832) und ihre Fortsetzung, die Sammlung „Mirgorod" (1834), mit
mehreren Erzählungen, unter denen die besten „Altmodische Gutsbesitzer"
und die historische Erzählung aus dem 16. Jahrhundert „Taraß Bulba**
sind: die ersteren - — Schilderungen des idyllischen kleinrussischen Lebens ^%
mit alten Sagen und Legenden durchwoben j die letzteren — Gemälde
voll dramatischer Kraft vom alten Kasakentum und seinen wilden Kämpfen
für Land und Glauben mit den Tataren, Türken, Polen, auch sie mit
poetischen Volkssagen durchzogen. In allem, in der Charakteristik der
Personen wie in der Naturbetrachtung, regiert das Träumerisch-Phantastische
der Romantik.
Land und Menschen in diesen Bildern sind Gogols Heimat, sind
seine Landsleute. Gogol wurde im Gouvernement Poltawa geboren; sein
Vater war da ein wohlhabender kleiner Gutsbesitzer. Hier hörte er von
den alten Bauern und Bäuerinnen die Volkslieder und Volkssagen der
Ukraine; hier beobachtete er die Natur Kleinrußlands, die Sitten tmd
Gewohnheiten seiner Bewohner. Der Humor leuchtet auch schon golden
in diese Frühwerke hinein; wie launig zeichnet er in den „Altmodischen
Gutsbesitzern" die eigenen Eltern, mit welcher Wehmut verweilt er bei ihnen!
Verlassen wird jedoch bald die Romantik, verlassen auch die klein-
russische Heimat, und es tritt an ihre Stelle der Realismus in den „Petersburger
Erzählungen" (1836). Der Realismus steigert sich noch in seinem Lust-
spiel „Der Revisor" (1836). Das Stück hatte einen gewaltigen Erfolg;
es wird noch heute gern gespielt, auch bei uns. Es geißelt die Bestech-
lichkeit und die Borniertheit der russischen Beamtenwelt mit rücksichts-
loser Schärfe. Alle Häupter einer Provinzstadt haben vieles auf dem
Gewissen und sind daher in Angst vor einer Revision. Sie halten einen
unbedeutenden Menschen für diesen Revisor, sie erweisen ihm die größten
Ehrenbezeugungen, sie umwedeln ihn, geben ihm Geld ; zu spät sehen sie
ein, daß sie von einem Windbeutel betrogen sind.
Das Stück hat wenig Inhalt, auch eine dürftige Verwicklung, aber
es ist voll sprudelnden Humors und eine bittere, sehr bittere Satire, und
dabei hat sich Gogol, wie er selber versichert, noch manchen Zwang
auferlegen müssen, um es vor der Zensur zu retten *^).
Gogol hat sich noch in einigen Komödien versucht: „Die Spieler" —
„Das Lakaienzimmer" — «Die Hochzeit"; sie hatten wenig oder gar
keinen Erfolg.
Neben dem sehr großen Beifell, den „Der Revisor" fand, entstanden
ihm aber auch Unarmehmlichkeiten, * die ihn bei seiner krankhaften Ver-
anlagung empfindlich trafen. Der gesunde Gogol wäre darüber hinweg-
gekommen, waren doch seine äußeren Verhältnisse keineswegs mißlich —
Shukowskij und Puschkin hatten ihm eine Professur für Literatur an der
Petersburger Universität verschafft — , aber den krankhaft gereizten ließ
es nicht niehr im Vaterland, er ging ins Ausland, und von nun ab führt
^6 Sechzehntes Kapitel
er ein ruheloses Dasein. Er nahm Aufenthalt in Rom, besuchte andere
Städte Europas, war in Marienbad, in Wien. Seine Gesundheit besserte
sich nicht, seine Gemütsver&ssuug wurde schlimmer. Er kehrte nach
Rußland zurück, verließ es wieder und fuhr nach Jerusalem. Von da
ging er nach Konstantinopel, dann zurück nach Odessa, nach Moskau.
Hier starb er, in geistiger Umnachtung, 1852.
Obwohl er krank war, hat er noch mehrere große Werke geschrieben ;
den meisten ist der Stempel der Krankheit aufgedrückt.
In Rom hat er sein unvollendet gebliebenes Sittengemälde „Die
toten Seelen" begonnen (1835 — 1842). Es ist ein Buch voll köstlicher,
satirischer Typen. Der äußere Rahmen ist: Tschitschikov , ein armer
Beamter, will reich werden ; in seinem Steuerdienst ist das nicht möglich.
Er beschließt nun, bei mehreren Gutsbesitzern die „toten Seelen" auf-
zukaufen, d. h. Bauern, die nach der Volkszählung, die in Rußland nur
alle zehn Jahre stattfand, gestorben sind. Mit den Kaufpapieren will er
dann in irgendein wenig bevölkertes Gouvernement gehen und sie dort
^ur Ansiedlung verkaufen. Deshalb reist er in Rußland herum, verkehrt
mit den verschiedensten betrügerischen Gutsbesitzern, kauft sehr billig
natürlich diese Seelen und verkauft sie teuer wieder. Endlich verfällt er
dem Gericht.
Den Gedanken hierzu wie zu seinem „ Revisor*' hatte ihm übrigens
Puschkin gegeben; Puschkin selbst war einmal fiir einen solchen Revisor
gehalten worden.
Die „toten Seelen" erregten ungeheures Aufsehen; von einzelnen
Kritikern wurde Gogol neben Homer und Shakespeare gestellt. Auch
Puschkin war entzückt; freilich fühlte er zu seinem größten Schmerz
heraus, daß „ganz Rußland so aussah". Natürlich gab es auch Tadler,
die Gogol vorhielten , er verstehe nur schlechte Menschen hinzustellen^
und nun passierte das, was nur seine Krankheit erklärlich macht, er kam
auf die Idee, den „toten Seelen" eine Fortsetzung in einem 2. und 3.
Bande zu geben, wo diese Leute, durch die Religion und den Glauben
geläutert, in Tugend glänzen. Dieser Gedanke wurde tiefgründig theo-
logisch, mystisch durchgeführt; er selber gefiel sich als Heiland. Als
das Buch fertig war, schien es ihm nicht religiös genug, er warf es ins
Feuer, schrieb ein neues tmd warf es wieder ins Feuer. Wir haben
heute nur Entwürfe. D^mit seine Freunde aber ja seine Umkehr sähen,
veröffentlichte er „ Ausgewählte Stellen ' aus einer Korrespondenz mit
Freunden" (1847), eine mystische, finstere, trübselige Arbeit. Das Resultat
war, daß er alle Freimde verlor; selbst der Kritiker Bjelinskij, der ihn
einst vergöttert hatte, sagte sich von ihm los.
Gogols Zustand wurde immer schlimmer; er starb, wie gesagt, in
geistiger Umnachtung ®2),
Die Realisten (Naturalisten). — Die Westlinge. — Die Slawophilen »jj
§ 45 I Wie die Romantiker ihre Kritiker hatten, durch die sie erst
ihre richtige Wertung beim Publikum erlangten, so wird der Herold des
Realismus (Naturalismus) Bjelinskij.
Bjelinskij und Herzen, die Häupter der „Westlinge",
kamen aus dem „aufgeklärten" Moskau. Es zeigt sich wieder, wie schon
öfters, ein tiefgehender Unterschied zwischen Petersburg und Moskau.
Moskau war weit vom Zaren, und daher lastete hier der Druck nicht
so wie am Sitze der Regierungsmaschinisten. Wir sind in der Zeit, wo
Wissenschaft und Kunst unter Obhut und Fürsorge einer hohen Peters-
burger Polizei standen, wo diese die Philosophie nur von Theologen
lehren ließ, wo die Zensur allen, nur sich keine Schranken auferlegte,
wo man nicht ins Ausland reisen durfte, als Ersatz dafür aber auch von
ausländischen Büchern ferngehalten wurde, und wenn im Lande etwas
gedruckt werden konnte, es seine Au&ahme in der von den Regierungs-
redakteuren Bulgarin und Gretsch geleiteten „Nordischen Bien«" finden
mußte.
Moskau ist, ohne Eisenbahn, weit von Petersburg ; außerdem lag es
da ganz hinten, in der „Provinz", besonderer Beachtung weiter nicht wert.
Da lehrte man denn ruhig Schellmg, Fichte, besonders Hegel. Nadjeshdin,
Dawydov, Schewyijov trugen über die „revolutionäre" Romantik und die
neuere Literatur und Geschichte vor. Zu ihren Schülern zählten Bjelinskij
und Herzen.
Bjelinskij hatte schon einen Vorgänger gehabt, der auch nach dem
Westen blickte und der russischen Zivilisation und Intelligenz mit dem
größten Skeptizismus gegenüberstand, Tschaadajev; seine „Philo-
sophischen Briefe", von denen nur der erste gedruckt wurde, im „Tele-
skop" 1836, zeigen das; aber er sah die Hilfe nur im westlichen Katho-
lizismus, also sehr einseitig. Anders Bjelinskij.
Bjelinskij ®3) (181 1 — 1848) gilt als der bedeutendste Kritiker Ruß-
lands , wegen der Schärfe und der Folgerichtigkeit seines Urteils. . Das
ist natürlich kein starres gewesen und geblieben. Als Jünger Schellings
und als Schüler Nadjeshdins vertrat er zunächst den idealen Standpunkt
beider, der, auf die russische Literatur angewendet, die glückliche Ver-
bindung von Romantik und Klassik, wie sie durch Puschkin repräsentiert
wurde, forderte. In diesem Geleise laufen die Aufsätze, die er flir
Nadjeshdins „Moskauer Teleskopen" schrieb, laufen seine „Literarischen
Träumereien".
Bjelinskij war eine Kampfnatur, er suchte den Kampf — wo konnte
er den besser haben als in Petersburg? Selbst das Schicksal des ver-
armten, verspotteten, verfehmten Polevoj®*) (1796 — 1846) — das war
dessen Los nach dem Eingehen des „Moskauer Telegraphen" — schreckte
ihn nicht zurück; er selber kannte Not zu genau, seitdem er von der
Univeisität wegen seines Dramas „Dmitrij Kalinin", in dem er gegen
^3 Sechasehntes Kapitel
die Leibeigenschaft geeifert hatte, relegiert war; er hatte auch einen
siechen, schwindsüchtigen Körper. Das alles hinderte ihn nicht ; er ging
nach Petersburg, und nun wurde hier aus dem Romantiker-Klassiker der
Naturalist. Nicht gleich; zunächst nahm er nur den Kampf gegen die
Regierungsredakteure Bulgarin und Gretsch in den' „Vaterläiidischen
Annalen'^ auf, mit Erfolg. Dann rückt er aber so nach und nach von
Schelling ab ; er beschäftigt sicl^ unter dem Einfluß Bakunins mit Fichte,
darauf mit Hegel („das Wort ^Wirklichkeit wurde mir gleichbedeutend
mit Gott"), und als er nun Gogols Werke in sich aufgenommen hat,
kämpft er in aller Leidenschaft in seinem „Zeitgenossen" für diesen, für
Dostojewskij , Gontscharov, Herzen, für ihren Naturalismus, für ihren
Realismus. Von diesem Standpunkt aus — er ist ja einseitig — ver-
steht man, daß er Puschkin, den er einst vergöttert hatte, jetzt vorwarf,
er habe nicht genug Bezug auf die Gegenwart genommen, und daß er
den Gogol der „Korrespondenz mit den Freunden" vollkommen fallen
ließ, wenn auch schweren Herzens. Der Schwindsüchtige starb schon 1848.
Herzen®^) (181 2 — 18 70) hatte sich, genau wie Bjelinskij, als Student
an den Freiheitsdichtungen Schillers berauscht, obwohl seine Erziehung
eigentlich französisch gewesen war ; die deutsche Mutter hatte auf deutsche
Erziehung wenig Gewicht gelegt — übrigens eine etwas sonderbare Ehe, diese
elterliche ; sein Vater, der reiche Fürst Jakowlev, hatte die Stuttgarterin, die
er gern mein „ Herz(ch)eQ " nannte, in Rußland nicht legitimieit. Herzen hatte
weniger als ßjelinskij sich an Schelling angeschlossen ; er war Hegelianer —
Hegel stand damals in Rußland auf der Höhe seines Rufes — tmd vor
allem Naturwissenschaftler, aber noch keineswegs Atheist. Selbst nach
jahrelanger Intemierung in Pjerm und in Wjatka wegen Verdachtes der
Zugehörigkeit zu einer Saint- Simonistischen Gesellschaft schrieb er noch
religiöse Dramen. Auch sein Roman „Wer ist schuld?" steht dem noch
fern. Er entwickelte sich erst nach und nach dazu. Der Roman ist der
erste einer langen Reihe von Romanen, die den Leser zum Kampf auf-
rütteln wollen nicht allein gegen die herrschenden Gesellschaftszustände,
die sozialen Verhältnisse, sondern vor allem gegen den russischen
Charakter. Der Held — vielleicht Herzen selber — ist ein guter,
ehrenhafter, geistreicher Mensch, aber ein „überflüssiger", weil er
keine einzige edle Absicht verwirklicht, aus Mangel an Tatkraft, an
Arbeitsfreude. Wer ist schuld, fragt der Verfasser, nämlich an unserm
Unglück? Die russischen Verhältnisse, der russische Mensch, das russi-
sche Herz, der russische Charakter. Und wodurch kann man dem Elend
entgehen? Nur indem man schafiFt, wirkt, arbeitet, wie es die — Deut-
schen tun.
Angewidert von den russischen Verhältnissen, verließ er seine Heimat,
ging nach Deutschland, Italien, Frankreich, endlich nach London. Aus
dem Romandichter, dem philosophisch -ästhetisierenden Schriftsteller —
Die Realisten (Naturalisten). — Die Wcstlinge. — Die Slawophilen 7^
er hatte inzwischen wieder zwei sehr hübsche, vom Publikum verschlungene
Werke „Vom andern Ufer" und „ßriefe aus Italien und Frankreich",
die beide zuerst deutsch erschienen (Hamburg 1850), veröffentlicht —
entwickelte sich nun der Politiker. Neben mehreren Einzelschriften hat
vor allen seine Zeitschrift „Die Glocke", mit dem Schillerschen Motto
Vivos voco, von 185 1 ab ungeheures Aussehen tiberall hervorgerufen;
sie griff die sozialen russischen Mißstände, die Verbrechen der Leib-
eigenschaft in so scharfer imd dabei so überzeugender Art an, daß deren
endliche Aufhebung zu einem guten Teil auf ihr Konto zu setzen ist.
Die Politik wurde von jetzt Herzens Beruf, und in ihr hat er auch seine
schönsten Lorbeeren geerntet, aber er hat dabei nie den Ästheten
vergessen. Wir verdanken seiner Londoner Tätigkeit die ersten Ver-
öffentlichungen von Puschkin, Lermontov usw. ohne die Lücken der Zensur.
Herzen, der Flüchtling, übrigens vielfach in der „Glocke" von der nächsten
Umgebung des Thrones unterstützt, beherrschte in Wirklichkeit Jahre hin-
durch ganz Rußland; erst als er in seinem Gerechtigkeitssinn zur Zeit
des polnischen Aufstandes sich auf die Seite Polens stellte, schwanden
seine „Glocke" und sein Ansehen. Herzen wanderte wieder, nach Genf,
nach Paris; er konnte sein Ansehen nicht herstellen. Er starb in
Paris, 1870.
Herzen war aus Rußland entflohen, mit der größten Hoffnung auf
den Westen. Der Westen hatte ihm ja auch die Freiheit gegeben, zum
Segen des Vaterlandes. Aber er sah auch hier Verhältnisse, die ihm
bald das Wort vom „faulenden" Westen eingaben, die ihn so wenig
glücklich machten, daß manche seiner Äußerungen ein Zurück-
sehnen nach dem verlorenen heimatlichen Boden verraten, daß manche
seiner Äußerungen auch ein Slawophile getan haben könnte. Diese
Gedanken, ein Bekenntnis seines innersten Herzens über Kunst,
Wissenschaft, Religion, Politik, über Hohes und das Alltäglichste, sind
in seinem sprachhch wie gedanklich gleich hochstehenden Buche „Die
Vergangenheit und Gedanken darüber" (1852 — 1855) niedergelegt.
Alle Schriften Herzens bis in die ftinfziger Jahre hinein erschienen
unter dem Pseudonym Jskander.
Noch einen bedeutenden Schritt weiter geht Michael Bakunin
(1814 — 1876), der Apostel des Anarchismus. Er war wie Herzen Mos-
kauer Student gewesen, hatte Schelling, Kant, Fichte, besonders Hegel
studiert, den letzteren persönlich in Berlin gehört. Von der Philosophie
ging er jedoch bald zur Politik über. Eine Reihe teilweise deutsch
geschriebener Bücher bekundet den extremen Kommunisten, den An-
archisten.
§ 46 I Auf der Moskauer Universität war von derselben Mutter, von
der Romantik, der feindliche Bruder der Westlinge, der Slawop^ilis-
mus, geboren. Die Romantik hatte das Nationale betont. Das taten
gO Seduetintei Kapitel
die Slawopbilen auch, nur betonten sie es zu scharf, &Sten sie es zu
einseitig auf^ setzten sie neben das heimische Glück den Ha8 des Frem-
den. Bei den Slawophilen tritt bald ganz die Politik in den Vordergrund,
übrigens nicht so unberechtigt, denn Alezander I. hatte unbedingt die
Deutschen bevorzugt, und Nikolaus L schützte und unterstützte bewuSt
zwar das AUrussentum, unbewufit aber machte er es wie Alexander; nur
war er weniger einseitig, er schätzte alles Fremde.
Der Chorführer der Slawophilen war der Moskauer Alcademieprofessor
fÜrTheologic und flir Sprachen Chomjakov**) (1804— 1860), der Schwager
Jasyko»s. Er ist Romantiker; sein Gedicht „Begeisterung" wurde vom
Moskauer Boten ab der Typ deutscher Romantik bezeichnet. Sein Haupt-
feld ist, wie gesagt, das Nationale. „Der Grund seiner Poesie und seiner
ganzen Tätigkeit war der unetschütterhche Glaube an die welthistorische
Bedeutung der rech^läubigen Kirche und Rußlands. Seine Verse sind
Hymnen auf das Christentum und das russisch- slawische Volkstum."
Dieses Geistes sind seine „Lyrischen Gedichte" (1844), die seinen Namen
weit über die Grenzen Rußlands getragen haben, auch seine Dramen
„Jermak" (1833 — Jermak war der Eroberer Sibiriens) und der
„Pseudo-Dmitrij" (1833). Chomjakov vertrat das Allslawentum — er
fordert die Bulgaren, Serben, Kroaten auf zum Kampf gegen das türkische
Joch — übrigens nicht bloS in Liedern, sondern er focht 1818 selber
mit gegen die Tütken. In späteren Jahren war er Vorsitzender der
„Gesellschaft der Liebhaber der russischen Poesie", einer der vielen
Vorkämpferinnen für die „neue" Poesie.
Ein sehr eifriger Slawophile, Gründer des Moskauer Slawenkomitees,
ist auch der angesehene Moskauer Gescbicbtsprofessor Michael Petrowitsch
Pogodin*') (1800 — r87s) gewesen. Er war hterarisch außerordentlich
tätig. Der „Moskauer Bote" stand gerade in den schwersten Kampfes-
jahren der „neuen" Poesie unter seiner Leitung (1827 — 1830). Welche
Bedeutung man ihm beimafl, zeigt eine andere Zeitschrift „Der Tele-
skop": „Die neue Poesie war da mit Puschkins „Boriss Godunov", mit
Sagosskins Romauen und mit Pogodins „Marfa Possadniza" (r83i).
Denselben Stoff^ d. h. die muüge Verteidigung Novgorods gegen Iwans IV.
Ansohlte, hatte auch Karamsin behandelt. Pogodin wußte in der
deutscheu Literatur sehr gut Bescheid; er übersetzte Goethes „Götz" (1838).
Zahlreich sind seiue historischen Schriften.
n:. T.~i:tjt ^^j jjieg bei Konstantin Akssakov dem Sohn. Schon
ergej Akssakov (r79i — 1856) ist slawopbil. Aber da
lies noch in liebenswürdiger, ruhiger, humorvoller Form aus ;
It (1856) herausgegebene „Familienchronik" ist ein Meister-
schen Familienlebens, auf den alten Herrensitzen im süd-
Sland. Ebenso bieten seine „Kinderjahre Bagrows des
ist poetische Bilder aus der eigenen Kindheit. Meisterhaft
Der realistische (oataralistische) Roman. — Turgenjev. — GontscharoY 3l
zeichnet er auch das geheimnisvolle Leben und Weben in der Natur in
seinen „Aufzeichnungen eines Jägers im Gouv. Orenburg" (1852). In
der Landschaftsmalerei, kann man sagen, hat ihn weder Gogol noch
Turgenjev erreicht.
Ein anderer ist Konstantin Akssakov (1817 — 1861). Konstantin
war gleichfalls von der Romantik ausgegangen; er hat mehrere Schiller-
sche Gedichte gut tibersetzt. Die eigenen lyrischen Gedichte zeigen gleich-
falls gedankenvollen, stimmungsvollen Ernst. Sein Beruf, sein Kampffeld
wurde aber die Politik. Von 1846 ab ist er Mitarbeiter aller Zeitschriften
slawophiler Richtung, gibt er den Ton für alle Versammlungen und Be-
schlüsse der großen slawophilen Partei an und predigt die Kulturmission
des slawischen Volkes für alle übrigen Völker. Selbst seine wissenschaft-
lichen Arbeiten, z. B. seine Schrift über „Das Leben der alten Slawen
überhaupt und der Russen insbesondere** (1852), zeigen seine aus-
gesprochene Kampfesnatur.
Nicht so scharf tritt sein Bruder Iwan Akssakov hervor; er wirkte
aber auch mit seiner panslawistischen Zeitung „Der Tag" (1861) ganz
im Sinne Konstantins.
Der reaktionärste unter allen istKatkov(i8i8 — 1887). Ursprüng-
lich Moskauer Universitätsprofessor für Philosophie, Schellingianer, — er
hatte übrigens auch in Deutschland, in Königsberg und in Berlin, studiert
und sich in letzterer Stadt besonders für Schelling und Werder interessiert —
hatte er sein Amt quittieren müssen und wurde nun mit der Monats-
schrift „Der russische Bote" und dann mit der „Moskauer Zeitung"
einer der ersten Streiter für die Russifizierung Polens, Litauens, der Ostsee-
provinzen, und trotz seiner einsägen Verehrung deutschen Wissens ein
wütender Femd alles Deutschtums.
Als Führer der Slawophilen traten auch noch der Dichter Tjuttschev
(S 43) und ein etwas zweifelhafter Charakter, aber sehr begabter Mensch,
Kirejewskij, hervor, der erst in seinem „Europäer" (1832) ganz
Westling gewesen war und wenig Zutrauen zur russischen Intelligenz gehabt
hatte, nach Verbot seiner Zeitschrift jedoch ins entgegengesetzte Lager ge-
zogen war.
Siebzehntes Kapitel
Der realistische (naturalistische) Roman. —
Turgenjev. — Gontscharov
Die „neue'* Zeit sucht sich ganz besonders eine' Form aus, in
der sie wirken will: den Roman. Für den Roman ersteht eine Blütezeit
durch Turgenjev und Gontscharov.
§47 I Iwan Ssergejewitsch Turgenjev (1818 — 1883). Gogols
Romantypen waren hauptsächlich Beamte gewesen. Turgenjev wählte die
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte O
g2 Siebzebnte« Kapitel
seinigen mit Vorliebe aus den EdeUeulen, den adligen Gutsbesitzern — er
selbet war der Soha eines solchen. Das Kind hatte auf dem Gute des
Vaters, nicht weit von Mzensk im Gouv. Orlov, die Gutsbesitzer, die dort
ein- imd ausgingen, kennen gelernt; er hatte auch die schlechten Be-
ziehungen zwischen den Gutsbesiticni und ihren Bauem-Leibeigcnen, schlecht
infolge der Roheiten der ersteren, beobachtet. Ein beredtes Beispiel bot
das eigene Haus, die harte und grausame Mutter, die auch den Sohn nicht
anders behandehe. Sein erstes bedeutendes Werk, „Die Memoiren eines
Jägers", zeigt uns diesen Verkehr zwischen Herren und Knechten; es
ist ein flanmiendet Protest gegen das Los der unterdrückten, geprügelten,
verkäuflichen Menschen, gegen die Leibeigenschaft mit allen ihren tollen
Auswüchsen.
Turgenjev ist in seinen „Memoiren eines Jägers" schon Realist
Das war er nicht gleich im Anfang. Seine ersten lyrischen und epischen
Versuche neigen nach der romantischen Seite hin. Der Held seines
gröBeien Gedichtes „Parascha" (1843) ist vollkommen der Eugen On-
jegin Puschkins oder der Pjetschorin Lermontovs, freilich nicht mehr zum
Schlufi. Da ist er ein dicker, fetter Spießer geworden, und seine An-
gebetete Parascha eine behäbige, nichtssagende Hausmadame. Es kommt
also hier der Spnttvogel heraus. Aber im großen und ganzen ist alles
noch Romantik, mit der er sich während seiner Studienjahre in Moskau,
Petersburg, Berlin gründlich beschäftigt hatte. Turgenjev ist Überhaupt
einer von den wenigen Russen , die etwas gründlich studiert und gelernt
und die eine wirkhche Allgemeinbildung besessen haben; die ganze Tur-
genjevsche Familie, sein Vater, seine vier Brüder waren gebildet, west-
lich, stark deutsch. Er selber hätte gern die Universitätskarriere ein-
geschlagen; da die Mutter nicht das Geld dazu gab, arbeitete er im
Ministerium des Innern. Als sie starb, konnte er, der nicht Unbemittelte,
den Beruf des freien Schriftstellers wäblea.
Turgenjevs erste poetische Versuche hatten keinen Erfolg. Jedoch
gewaim sich die im „Zeitgenossen" 1847 veräffenüichte Bauemskizze
„Chor und Kalinytsch" viele Freunde, und nun ließ er bis 1851
eine ganze Reihe solcher folgen, die er zusammen 1852 unter dem Titel
„Memoiren eines Jägers" — ■ Turgenjev war leidenschaftlicher Jäger —
herausgab. Der Bauer, der gewöhnliche Mann ist hier mit großer Liebe
umfaßt; er ist nicht etwa ohne Fehler dargestellt, sondern wie die Wirk-
hchkeit ist. mit gesunder Natürlichkeit, mit offenem Kopf, mit gutmütigem,
:hem Herzen, und ein solcher Meusch hat ein überaus
IS bereitet, durch den Eigennutz und die Roheit des Herrn.
smd durch diesen Blick in die sozialen Verhältnisse eines
Is der russischen Bevölkerung überaus wertvoll , sie werden
aller durch die vollendete Darstellung der Schönheiten der
'Tatur.
\
Der realistische (nataralistische) Roman. — Tnrgenjey. — Gontscharov 33
Die abfällige Kritik, die er hierin an eiper so einfluÖreichen Kaste,
wie die der Landedelleute war, übte, zog ihm manchen Haß zu, und als
er nun mit einem Nekrologe auf Gogol auch die Regierung verletzte,
wurde er unter Polizeiaufsicht gestellt. Tief verletzt verließ er nach Auf-
hebung des Anests Rußland und ist nur noch ein paarmal flüchtig da
gewesen. Er lebte lange in Deutschland, in Baden-Baden, und nach 1870
in Paris.
Turgenjev hat viele, bedeutende Romane ®®) geschrieben, durch die das
Ausland überhaupt erst Aufschluß und richtigen Einblick in die sozialen
und politischen Zustände Rußlands erhalten hat. Er ist der genaue
Kenner und Schilderer der russischen Menschen tmd russischer Verhält-
nisse vor der großen Reform, vor Aufhebung der Leibeigenschaft; selbst
die Werke, die er viel später geschrieben hat, Ende der sechziger Jahre
und im Anfang der siebziger Jahre, und die eigentlich die Menschen
dieser Zeiten wiedergeben soUen, wurzeln in jenem Boden.
Rußlands Menschen jener Zeit sind „ überflüssige *' Menschen. Alle
seine Romanhelden in „Rudin" (1856), in „dem Adelsnest'* (1859), in
„Am Vorabend" (1860), in „Väter und Söhne" (1862), in „Rauch"
(1867), in „König Lear" (1870), in „Neuland" (1876) u. a. sind „über-
flüssige" Menschen, sind „Hamletnaturen". Sie haben keinen schlechten
Charakter, sie haben ein gutes Maß Bildung,- sie haben auch mancherlei
Talente, aber sie sind ohne Tatkraft, ohne Energie, sie tändeln mit ihrer
Bildung, sie reden und schwatzen, sie können nicht handeln, und des-
wegen kann das Vaterland sie entbehren, deswegen sind sie überflüssig.
Nur sehr, sehr selten gibt es davon eine Ausnahme ; z. B. Basarov in „Väter
und Söhne " ^^). Das kann natürlich kein Adliger sein, Basarov ist eines
Kleinbürgers Sohn. Im Kleinbürgerstand steckt eine gewisse Kraft, die
der Adel längst eingebüßt hat Aber Basarov ist kalt, nur berechnend,
nur an sich denkend, und daher kann das Vaterland auch ihn und seines-
gleichen nicht gebrauchen. Diese beiden Gruppen sind Rußlands gebildete
Gesellschaft — an solcher moralischen Krankheit muß es zugrunde gehen.
Turgenjev ist also ausgesprochener Pessimist; nur in einem ist er
Idealist, und zwar Idealist vom reinsten Wasser, in seinen Frauengestalten,
Seine Frauen überragen weit, weit alle diese Männer, an Charakter und
an Herzensbildung, Im „Adelsnest", wo die Männer alle so einfaltig
oder so faul oder so arrogant sind, ist Lisa der Ausbund aller Tugenden,
und wie sie, so ist Marianne in „Rauch", und so sind sie alle. Tur-
genjev ist der Herold der Frau. In seinen Männern steckt, nach seiner
eigenen Äußerung, ein Stück von ihm, und bei seinen Frauengestalten
spricht auch ein Stück von seiner Lebensgeschichte mit; er hat sein Leben
lang — möchte man sagen — im Banne von Frau Garcia- Viardot *^) ge-
standen; ihretwegen ist er auch 1870 vom Deutschenfreund ein Franzosen-
freund geworden.
6*
Siebzehntes Kapitel
„Väter und Söhne" ist Tuigenjevs bester Roman; er charakterisieit
die Zeit der jungen Generation und ihrer Väter. Aber der Realist und
Wahrheitsfanatiker hatte bei allen die Farben richtig verteilt, und so
wurden nun beide verstimmt Die Kritiken haben ihm grofien Schmerz
bereitet. Sein Gleichgewicht hat er erst ganz zum Schluß wieder ge-
wonnen in seinen „Gedichten in Prosa" (1878). Senilis hat er sie selber
genannt — senil sind sie aber keineswegs, sie haben nur das Friedlicb-
Ausgleichende, das Versöhnende des Alters.
Turgenjev ist der erste, der RuSiand im Ausland erst wirklich be-
kannt gemacht hat. Zunächst bei ims; seine Romane haben zum Teil
ii^ Deutschland eher und fester Fu8 gefaßt als im eigenen Land. Seine
vielen Freunde, Bodenstedt, Adolf Menzel, Paul Heyse haben natürUch
dazu beigetragen ^^). Als er dann Deutschland Lebewohl sagte und sich in
Paris niederließ, hat er, der Freund Flaubeits, Goncourts, Daudets, Mau-
passants, nicht etwa bloß fiir sich gewirkt, er hat auch Tolstoj die Wege
geebnet. Seinem Vatcrlande stand er stets zurückhaltend gegenüber. Erst
in den letzten Lebensjahren besuchte er es wieder, und nun wurde ihm
eine glänzende Aufnahme zuteil. Als er 1880 eine Festrede zur Ent-
hüllung eines Denkmals von Puschkin hielt, holte man Versäumtes nach;
er wurde Ehrenmitglied der Moskauer Universität und der „Gesellschaft
der Liebhaber der russischen Literatur", und als er 1S83 starb, begrub
man ihn mit ungewöhnlichem Pomp.
In Rußland fand, nachdem sich einmal die Geister beruhigt hatten,
nicht blofi, wie bei uns, seine Epik, sondern auch seine Lyrik und selbst
seine Dramatik Anklang; man führte recht oft seine kleinen, der Jugendzeit
angehörenden Lustspiele auf: „Das Frühstück beim Adelsmarschall" (184.9],
„Ein Monat auf dem Lande" (1856), humoristische Bilder der ländlichen
Sitten aus guter, alter Zeit.
Turgenjev gibt in allen seinen Werken eine wirkliche Zeitgeschichte
Rußlands, seiner vierziger und fünfziger Jahre. Sie waren ein Ringen
und Streiten der Jugend mit den Anschauungen der älteren Generation, ein
Kämpfen der erst jetzt in Rußland allgemeiner werdenden Wissenschaft
gegen Unwissenheit und Vorurteil. Träger dieses Wissens war für Rußland
die studierende Jugend. Die Helden von Turgenjevs Romanen sind also
vorwiegend Studenten. Auch bei uns wurden ja zur selben Zeit die
Studenten rotnane beliebt; vielleicht ist Spielhagen durch Turgenjev be-
einSußt worden, vielleicht liegt Wechselwirkung vor. Da die Bildung
tudenten aber keine ausgereifte war, da sie keine Früchte
te wegen der eigentümlichen Veranlagung des ganzen russi-
len, da sie anstatt zum Segen nur zur Verneinung, zum
ozialen, moralischen Umsturz, in das Nichts führte, so hat
n früher nur literarisch verwendeten Ausdruck Nihilismus
, der von jetzt ab zu so trauriger Berühmtheit gelangt ist.
Der realistische (naturalistische) Roman. — Torgenjev. — Gontscharov g^
Turgenjevs Romane haben keine sensationellen Verwicklungen, sie
sind nur groß in der Schilderung der Zustände und der diese charak-
terisierenden Personen. Hinzu kommt eine hübsche, innige Zeichnung
der Natur und des mit ihr unmittelbar verbundenen Landlebens. Und dazu
ist er ein vollendeter Meister der Form, einfach im Ausdruck, klar im Ge-
danken, hierin Dostojewskij und Tolstoj weit hinter sich zurücklassend.
§ d8 I Gontscharov (1812 — 1891) hat dieselben Themata, die-
selben Zeiten, die vierziger und fünfziger Jahre, wie Turgenjev ; er hat auch
dieselben Menschen, nur wählt er sie aus einem andern Beruf, dem, welchen
Gogol bevorzugt hatte und der sein eigener war, aus den Beamten.
Er ist, auch wie Turgenjev, in der Romantik groß geworden. Der in
Ssimbirsk in wohlhabender Kaufmannsfamilie Geborene hatte in Moskau Ge-
schichte und Philologie studiert, beiNadjeshdin und Schewyrjov gehört und bei -
ihnen Schiller, die deutsche Dichtkunst, vor allem die Romantik lieben gelernt.
Im Beruf — er war im Finanzministerium, dann in der Gberpostverwaltung,
eine Zeitlang auch Redakteur der offiziellen „Nordischen Post 'S erst in
späteren Jahren Privatmann — versagte sie ; das reale Leben will anderes ^^),
Das ist zum Teil das Thema seines ersteren größeren Romans; er-
schöpft ist es damit nicht. In seiner „Gewöhnlichen Geschichte" (1847) ^st
der junge Edelmann Adujev ein solcher romantischer Schwärmer ; er ist aus
der Provinz nach Petersburg gekommen, um etwas zu werden, und er wird in
der Tat etwas, sogar Geheimrat, aber nur weil er Onkels Rezept befolgt:
„Zieh deine Träumereien aus, Jugend, imd die Vizeuniform an!" Hat
man erst die Uniform, dann kann man alles ruhig an sich herantreten
lassen, dann ist der Zweck erfüllt — eine höhere Aufgabe gibt es für Ruß-
land nicht. Der Dichter geht zum zweiten Thema über: Adujev hat
nach jenem Rezept reich geheiratet, aber er will diese Frau ganz nach
sich, ganz nach seinem Willen und seinen Wünschen formen und modeln
— auch das gelingt ihm, aber was wird dabei aus der Frau? Ein voll-
kommen apathisches Wesen, eine leblose Masse, eine Gliederpuppe, ein
Nichts. Das ist also dasselbe Thema, wie es Drushinin in „Pauline
Saks" hat, und wie es, nur unendlich dramatischer, in Ibsens „Nora"
durchgeführt ist. Wahrscheinlich hat er übrigens den ganzen Roman
nach George Sands „Horace" gearbeitet.
Sein zweites, sehr großes Aufsehen erregende Werk war „Oblomov"
(1859). Oblomov ist Kollegiensekretär in Petersburg, hat aber noch
irgendwo hinten ein Gut von 350 Seelen. Er galt auf der Universität
für sehr begabt, er ist es noch jetzt. Er hat den Kopf voll von großen
Projekten, für seine Stellung, für sein Gut; sein Herz zittert in freudiger
Erregung über alle großen Zukimftstaten , aber er — liegt auf dem Sofa
und räkelt sich und will sich anziehen und räkelt sich wieder und schläft
wieder ein, und so liegt er tage-, wochenlang, und um ihn herum
vergeht und verfallt alles in Unordnung. Auch Freund und Gelieb***
gg Achteeluite« KapiEel
können ihn nicht aus der „OblomoTcrei" reiBen. Und „so sind sie
alle in Rußland". Tatkraft wohnt nur in seinem Freund Stolz, und das
ist ein Deutseber. Die Person des Stolz möchte man ein hohes Lied auf
deutsches Wesen, deutsches Wissen, deutsche Kultur nennen ; selbst-
verständlich hat er auch Fehler und berührt bisweilen etwas spieSbUi^erlich.
In allem also dieselbe Erkermtnis, dasselbe Resultat wie bei Turgenjer.
Ein ähnliches Bild haben wir im „Abgrund" (1869). Nur ist hier
der Held, Rajskij, kein Beamter, sondern ein Künstler — der Roman
war ursprünglich „Der Künstler" beti'.elt — und kein Nichtstuer im
Sinne Oblomovs ; im Gegenteil, er ist geschäftig, sehr geschäftig, jedoch
zerspaltet er seine Kräfte überall und wird so ein Nichtstuer, ein „Über-
flüssiger", Die überragende Rolle bat hier, wie bei Turgenjew, die Frau.
Selbst die unbedeutenden stehen höher als Rajskij, sie lassen ihn mit
seinen Bewerbungen abfallen , und nun gar erst die kluge , gemütvolle,
charakterfeste , Willensstärke Wjera ! Jedoch stürzt sie , indem sie sich
Rajskijs Gegenbild, dem starken, tatkräftigen Wolochov zuwendet, in den
Abgrund; Wolochov ist ein egoistischer Zyniker.
Gontscharov hat nicht viel mehr als diese drei grofien Romane
geschrieben. Erwähnenswert sind noch seine scherzhafte Skizze „^n lite-
rarischer Abend" {r88o) und mehrere Uterarische Aufsätze im „Euro-
päischen Boten" und in der „Niwa" und sein großes Jugeudwerk „Die
Seereise auf der Pallada" (1852), nicht nur eine der besten Reise-
beschreibungen in der russischen Literatur, sondern auch ausgezeichnet
durch Humor und tiefes Nation algefühl, das überall, selbst m der weitesten
Feme, durchleuchtet. Mit seinen drei Romanen sticht er gegen die
vielen Turgenjevs ab. Er unterscheidet sich auch sonst von ihm.
Turgenjev hat eine freiere, weitere Auffassung von Menschen und Leben,
Gontscharov wird mehr von den Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten des
. Alltäglichen angezogen. Freilich ist er darin ein vorzüglicher Kenner und ein
kunstvoller Erzähler. So ist er ein Genremaler. Er liebt nicht, wie Turgenjev,
die Natur, sondern nur den Menschen, und den studiert er bis in den
innersten Kern, er zerlegt alle Fasern seines Herzens. Freilich macht er
denselben Fehler wie Turgenjev; er will uns im „Abgrund" Leute von
1869 zeichnen, es sind jedoch Menschen aus den vierziger und fünfziger
Jahren.
Achtzehntes Kapitel
lageliteratur", ihre Ausströmungen und
[enströmungen. — Die Narodniki
t hatten die Regierung, die gesellschaftlichen Zustände auch
Lermontov und Turgenjev und Gontscharov. Ihre Anklagen
h in zweiter Linie; in erster Linie standen für sie die
yyAnklageliteratar*', ihre AasströmaBgen a. Gegeaströmnngen. — Die Narodniki 3t
Analyse der menschlichen Seele, das innere Erlebnis, das Künstlerische.
In der Anklageliteratur ^^) ist es eher umgekehrt : sie hat praktische Zwecke
im Auge, sie will Mißstände aufdecken, sie scharf beleuchten, um sie
dann zu bessern; das Künstlerische kommt erst hinterher.
§ 49 I An der Spitze der Ankläger steht Ssaltykov (1826 — 1889),
anfangs unter dem Pseudonym Schtschedrin^*) schreibend. Seine Satire
überragt alle vorhergehende, in der Form wie im Inhalt. Sie wäre noch
viel schärfer, schneidender gewesen, hätte nicht aus Furcht vor der Zen-
sur so manche bittere PiUe vom süßesten Zucker umgössen werden
müssen. Vieles tritt aus diesem Grunde in der Form der Allegorie auf und
wird, je weiter wir uns von jener Zeit entfernen, um so unverständlicher.
Die weitschweifige Sprache, die uns heute recht veraltet erscheint, ist
gleichfalls zum guten Teil auf dies Konto zu setzen.
Rußland hat zu Ssaltykovs Lebenszeit verschiedene Phasen der politi-
schen und sozialen Entwicklung durchgemacht; sie alle begleitet sein
Spott, bei allen findet sein durchdringender Blick die Mängel und Fehler
heraus, und sie geißelt seine scharfe Zunge mit glänzendem Witz, mit
glänzender Schlagfertigkeit. Bisweilen geschieht es mit überlegenem Humor,
bisweilen aber auch mit dem Herzblut, denn er ist Patriot, der seinem
armen Lande helfen will, und das geht nicht mit Vertuschen und laisser
aller, sondern nur mit dem schonungslosen Aufdecken aller Lüge, aller
sittlichen Gebrechen.
Der junge Staatsbeamte hatte sich recht früh durch Gedichte be-
kannt gemacht, dann durch satirische Erzählungen, deren Stoff und Art
der Behandlung an Dostojewskij und Njekrassov erinnern. Diese satirischen
Erzählungen gefielen der Regierung so wenig, daß sie ihn — 10 Jahre,
von 1848 bis 1858 — in der Gouvernements Verwaltung von Wjatka
festsetzte. Die Früchte der Verbannung waren ftir den dann bald
den Staatsdienst quittierenden die „ Skizzen aus dem Gouverne-
ment'' {iSs6 bis 1857); sie machten seinen Namen sofort in Rußland
populär. Sie sind, sich nur wenig von Gogols Typen unterscheidend,
ein Hohn auf den Dünkel der Beamienwelt, ihre moralische Minder-
wertigkeit, ihr Nichtstun, ihre Bestechlichkeit, ihre Trunkenheit. Dei
durch die „Skizzen" erworbene Ruhm steigerte sich fortgesetzt, nach-
dem er mit Njekrassov die Herausgabe der „Vaterländischen Annalen''
übernommen hatte.
Der verlorene Krimkrieg zeitigte eine gewaltige Umwälzung nicht nur
in politischer Hinsicht, sondern im ganzen Volksdenken. Wie verlief
jedoch diese Aufwärtsbewegung? Wie sieht Ssaltykov dies? Die Leute
sind jetzt alle liberal , haben neue Ideen , berauschen sich an ihnen,
schwatzen, debattieren und tun — nichts. Diese Leute geißelt er in
„der Stadt Glupov" (Dummstadt) und, auf die Beamten besonders ange-
wendet, in „den Zeichen der Zeit".
g3 Achtzehntes Kapitel
Die Jahre schreiten fort: die Aufhebung der Leibeigenschaft ist ge-
kommen, mit ihrem wirtschaftlichen Umschlag. Stark leidet darunter der
Landadel f der sich nun neue Existenzbedingungen und Existenzmittel
suchen muß. Er wendet sich nach Petersburg und hofit dort die Mög-
lichkeit zu finden, das frühere Leben fortzusetzen, durch Nichtstun und
durch Vergnügungen; andere versuchen aber auch, im geheimen oder
offen, die Wirkimgen des Gesetzes zunichte zu machen und die früheren
Zustände zurückzuftihren. Diese Leute trifft er mit seinem Spott im
„Tagebuch eines Provinzialen in der Hauptstadt" und in „den Briefen
aus der Provinz" (1869). Besonders werden hier wie in seinen „Männ-
lichen und weiblichen Pompadours" und in „den Herren Taschkentem"^^)
die Gouverneure (Pompadours) mit ihren Frauen und die Beamten (Tasch-
kenter) mitgenommen, die sich liberal und freidenkend geberden, im
Grunde genommen aber die früheren Taschkenter geblieben sind; denn
„Taschkent ist das klassische Land der Hanmiel, die immer zum Ge-
schorenwerden bereit sind und denen nach dieser Operation von neuem
die Haare mit erstaunlicher Schnelligkeit wachsen. Zu dieser Operation
braucht man weder Ehre nocfi Gewissen, noch Verstand noch Wissen —
nötig sind nur fest zupackende Hände".
Dieselbe scharfe Waffe führt er weiter in „ der Geschichte einer Stadt
nach den Originalurkunden" (gemeint ist wieder Glupov), in „der Zu-
flucht Monrepos" (1879),^ ^ „Jenseits der Grenze". Der Haüptangriff
gilt immer und immer wieder den Beamten, dann auch den Kulaks, d. h.
den gewissenlosen Landaufkäufem und Schiebern; er schrickt aber auch
nicht vor den höchsten Personen zurück — es war sehr gewagt, mit
Decknamen natürlich, Alexander I. und seine Pfeiferscha, d. i. Frau von
Krüdener, dann Araktschejev usw. anzugreifen.
Aus den siebziger Jahren stammt ein Roman „Die Herren Golowlev".
Ssaltykov gibt darin ein sehr düsteres Sittengemälde vom Verfall einer
begüterten Landadelsfamilie, die durch Nichtstun, Trunksucht, durch
Mangel an Kraft, sich in die neuen durch Aufhebung der Leibeigen-
schaft bedingten Verhältnisse zu fügen, durch Mangel an — Liebe,
die nun einmal zu allen menschlichen Lebensaufgaben nötig ist , « zu-
gnmde geht.
Schwer traf ihn das Verbot der „Vaterländischen Annalen" im Jahre
1884, nachdem er sie anderthalb Dezennien mit großem Geschick durch
alle Fährnisse hindurchgesteuert hatte. Sein Lebenszweck und sein Lebens-
imterhalt waren damit unterbunden. Der müde Mann zog sich zurück
und schrieb neben kleinen, religiösen Charakter tragenden „Märchen"
nur noch seine „Erzählungen aus Poschechonien " (eine Art Abdera), ein
Kulturbild aus der Zeit vor der Reform, fast ebenso düster und mit ähn-
lichem Hintergrund wie „Die Herren Golowlev", aber doch versöhnend,
voll christlicher Liebe und Humanität.
,,Anklageliteratiir", ihre Aasströmangen u. Gegenströmungen. — Die Narodniki 30
Ssaltykov ist wieder einmal eine Kolossalfigur, die aus der Zeit heraus-
ragt. Dieselben Bestrebungen haben jedoch viele, keineswegs unbedeutende
Männer, nur reichen sie nicht an seine Größe. Die radikale Jugend, welcher
der revolutionäre Herzen zu .wenig revolutionär geworden war, sammelte
sich jetzt um Ssaltykov und bald um noch schärfere Ankläger.
Njekrassov (1821 — 1877) hatte den von Puschkin gegründeten
„Zeitgenossen" 1847 übernommen, und wenn sich dieser in den ersten
Jahren auch noch ziemlich harmlos gab, so hatte er doch von 1855 ab
die Maske immer mehr fallen lassen und zwar so, daß 1866 sein Schick-
sal besiegelt war; er wurde suspendiert. Dann redigierte Njekrassov, wie
wir gesehen, mit Ssaltykov zusammen „Die Vaterländischen Annalen". Er
selber beteiligte sich daran jedoch meist nur belletristisch, durch Gedichte,
schön in Form und Inhalt, aber bitter, gallig, worüber später (S 51).
Böse, aber der Jugend sehr genehme Kritiker waren Tschemyschewskij,
Dobroljubov und später Pissaijev, reine Tendenzkritiker, deren ästhetische
Urteile durch den parteipolitischen Standpunkt beeinflußt wurden; sie
wollten vor allem parteipolitische Agitatoren sein.
An Gelehrsamkeit, Schärfe des Urteils, an Charakter überragt
Tschemyschewskij ^®) (1828 — 1890) bei weitem die andern. Er war
Gelehrter; er hat ein Werk über Lessing geschrieben (1857), dann Adam
Smiths „Untersuchung über den Volksreichtum" bearbeitet, im Alter
Schlossers „Weltgeschichte" übersetzt. Auch treffliche Aufsätze über
Gogol, über Bjelinskij sind aus seiner Feder geflossen, und in diesen literari-
schen Betrachtungen tritt der Anhänger der Lessingschen Lehren markant
hervor. Aber die Literatur fesselte ihn nur in der ersten Zeit ; nachdem ist
er ganz und gar Sozialpolitiker geworden. Seine politisch- ökonomischen Auf-
sätze nehmen in den Jahren 1855 bis 1864 einen weiten Raum im „Zeit-
genossen" ein und erregten großes Aufsehen. An den „Vaterländischen
Annalen" konnte er sich nicht mehr beteiligen, da saß er schon in Sibirien
— 20 Jahre. Neben seinen politischen Aufsätzen trug sein Roman „Was
tun?" (1863) die Schuld daran. Dieser radikale Roman mit seiner äußerst
scharfen Beleuchtung der neuen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse,
mit der neuen Auffassung von der Ehe und dem Heraustreten der Frau in die
Öffentlichkeit — die Materie ist ungefähr dieselbe wie in Turgenjevs „Neuland"
und inTolstojs „Lebendem Leichnam" — wurde für staatsgefährlich erachtet.
Noch schärfer, aber weniger gelehrt und weniger gründlich — an
beiden hinderte ihn ein früher Tod — ist sein Schüler Dobroljubov
(1836 — 1861). Er führte sich auch mit einigen und zwar glänzenden
Aufsätzen über Literatur, über Turgenjev, Gontscharov, Ostrowskij ein, aber
mehr zogen ihn die Philosophie und vor allem reale, die Masse des
Volks berührende Fragen an, wie Pädagogik, politische Ökonomie. Im
„Zeitgenossen" leitete er die satirische Abteilung, „den Pfiff"", und
schrieb hier unter dem Pseudonym Konrad Lilienschwager schonungslose,
OO Achtzehntes Elapitel
ätzende Artikel gegen das langsame Fortschreiten der Reform, gegen die
Minderwertigkeit der liberalen Errungenschaften. — Eine noch schärfere
Tonart als „Der Pfiff'* schlug nach Dobroljubovs Tod „Der Funke" an.
Den extremsten Standpunkt von diesen veitritt Pissarjev (1841
— 1868). War für Tschemyschewskij das Schöne einzig und allein das
Leben gewesen, hatte Dobroljubov den Zweck jeder Kunst und jeder
Literatur nur als einen untergeordneten, „dienenden" angesehen, so be-
streitet Pissarjev (im „Zeitgenossen", nachher im „Russischen Wort")
jeden Nutzen der Poesie und verwirft aus diesem Grunde den ganzen
Puschkin. Das sind natürlich durch die Hitze des Kampfes erzeugte Über-
treibungen, konnte er sich doch für Turgenjevs Basarovfigur begeistern.
Aber er will auch gar nicht Ästhet sein; sein Interesse gehört den Natur-
wissenschaften, die er in die Tiefe des Volkes hineintragen will. Für die
brausende, vorwärts stürmende, materialistische, sozialistische, atheistische,
nihilistische Jugend war er eine unbedingte Autorität, so laut sie auch
schrie, sie erkenne nirgends eine Autorität an.
§ 50 I Satire und Kritik kommen von Gelehrten und gehen zu Ge-
lehrten ; für die Masse des russischen Volks waren sie unverständlich und
einflußlos. Eine die breiteren Schichten interessierende, diese zum Kampfe
gegen die imgeheuren Mißstände und Mißbräuche aufrüttelnde „ Anklage "-
literatur mußte also eine andere Form finden. Das war der Roman.
Der Roman hatte schon vorher einen recht breiten Raum einge-
nommen; jetzt drängt er die andern Dichtungsarten vollends beiseite und
bekommt eine außerordentlich weite und große Tragkraft. Der Roman
wird ein anderer als früher. Er ist auch realistisch, naturalistisch, aber
schon der Stand, die Geburt, die Lebensbedingungen seiner Autoren
geben ihm eine besondere Färbung. Die früheren Romanschriftsteller
waren gebildete Leute gewesen, viele hatten die Universität hinter sich;
sie hatten zum großen Teil dem Adel, dem wohlhabenden Adel ange-
hört, waren daher in der Lage gewesen, durch Reisen ins Ausland ihre
Bildung zu erweitern und zu vertiefen; sie hatten infolge ihrer Um-
gebung und ihrer Kenntnisse einen allgemein menschlicheren Blick, all-
gemein menschlichere Auffassungen und Anschauungen gewonnen. Andrer-
seits aber war der Blick nach einer Richtung hin einseitig geblieben: der
Abstand zwischen ihnen, zwischen ihrer Lebensatmospbäre und der jener
Leute da unten war zu groß, als daß etwas anderes als eine höchst ober-
flächliche Kenntnis dieser herauskominen konnte. Jetzt wurde der Mann
des mittleren, des unteren Standes, der Proletarier Schriftsteller, der Mann,
der selber die Not und das Elend und den Hunger mit angesehen und mit
durchgekostet hatte, der imter der schwersten Arbeit und den schwersten Ent-
behrungen sich allenfalls bis zur Universität durchgerungen hatte, um dort doch
zu scheitem,weil die Existenzmittel nun ganz versagten. Diesen Unterdrückten,
den Proletariern, zu denen sie also selber zählten, gehört ihr Mitgefühl;
^,AQklageliteratar*^ ihre AasstrÖmaagen a. Gegenströmangeo. — Die Narodniki qx
die Armen und ihre Leiden wollen 3ie der übrigen Welt zeigen, damit man
ihnen hilft, damit man Stellung, nimmt für sie und gegen ihre Unterdrücker.
Unterdrücker waren die Regierung sowohl wie die Gesellschaft. Gegen beide
richtet sich also der Roman, er wird damit politischer Tendenzroman.
Meist sind die Autoren recht objektiv, was nicht so schwer war,
weil das Elend der Unterdrückten ebensosehr wie die Herzlosigkeit und
Grausamkeit der Mehrzahl der Unterdrücker nur allzusehr in die Augen
sprang. Daß sich anderseits manche diese Objektivität nicht bewahren,
sondern einseitig ungerecht übertreiben, verwundert auch kaum.
Wir bekommen also Bilder nur der Not und des Elends, Bilder von
hungernden, dürstenden^ frierenden Menschen, Bilder auch von Trunken-
bolden und Dieben, Bilder der gemeinen Wirklichkeit — lange vor Zola
und ohne seine Pornographie.
Der imterdrückteste, rechtloseste aller Stände war vor der Reform
der Bauernstand gewesen; ihm gilt daher der größte Teil der Schilde-
rungen. Man hat für alle diese Schriftsteller den etwas weit fassenden
Namen Narodniki (Volksmaler) geprägt.
Grigorowitsch (1822 — 1899) ^^i^ gelernter Maler und wandte
sich auch später wieder von der Literatur zur bildenden Kunst zurück. Es
waltet daher in ihm bei aller realistischen Auffassung doch ein ausgeprägtes
ästhetisches Gefühl vor. Seine erste Erzählung „Das Dorf" (1847) wurde
von Bjelinskij freudig begrüßt. Es folgten in den fünfziger Jahren u. a.
^, Anton Gorjemyka" (Kummervoll), ,,Die Fischer**, ,,Die Proletarier**,
„Nebenwege** — alle in denselben Bahnen; das Elend der Bauern, die
Härte der Verwalter, die Laune der Gutsherrn sind ihre Stimmungs-
themata. „Die Fischer** zeichnen sehr schöne landschaftliche Bilder aus.
Auch das Beamtentum und den Beamtendienst kennt er gut; die Skizze
,,Die Nachbarin** zeichnet beides vorzüglich.
Bedeutender als Grigorowitsch ist Pi SS je mskij (1820 — 1881). Er
hat Ähnlichkeit mit Dostojewski] ; nur kennt er nicht dessen feine Seelen-
analyse , sondern schildert die Welt der Tatsachen in ihren unbarmherzigen
Folgen. Seine ersten Romane laufen noch in romantischer Richtung,
und zwar in der Byronschen, aber seine „Tausend Seelen** (1858) zeigen
schon die sog. gebildete Gesellschaft in ihrer Oberflächlichkeit, ihrem
Egoismus, ihrer Genußsucht in derb realistischer Weise; ein aus kleinen
Verhältnissen heraufgekommener Vizegouvemeur eines Provinzstädtchens
— 1 000 „ Seelen" — ist der Typ dieser Leute. Der Roman fand großen Beifall.
Die Reform ging ihm zu langsam vorwärts, weil allzuviele unwissende
und unfähige Leute sie lenkten, weil allzu vieles total mißverstanden
wurde. Sein bester Roman „Das aufgewühlte Meer** (1863) — das ist
der Aufruhr, der in der Reformbewegung tobt — spiegelt dies wieder.
Zu dem Mißverstandenen der Reform zählt er auch die Art und Weise,
wie sich die Frau emanzipiert. Das ist scharf gegeißelt, mit erotischem
02 Achtzehntel Kapitel
Einschlag, in der „Ehe aus Leidenschaft", in „Ist sie schuldig?" Er
wühlt dabei recht tief im Schmutz herum. Dieses scharfe Urteil über
die Frau mildeit dann der Roman „Im Strudel" (1863). Pissjemskij will
das feste Band der Familie. Aus den siebziger Jahren stammt noch eine
ganze Reihe von Romaaen und Dramen; die Dramen, z. B, „Die
Bürger", „Die Freimaurer" hatten keinen Erfolg,
Jünger ist Pomjalowskij (1835 — 1863), Sohn eines Diakonus und
selber im geistlichen Seminar erzogen. Daher die Lebenstreue seiner „ Skizzen
aus der Burssa" (d. i, dasPriestetseminar), die in grellen Farben die verkehrte
Erhebung in den Seminaren beleuchteten; sie fanden in dieser Zeit der
Schulreform groSen Anklang. Pomjalowskij hat mancherlei geschrieben —
am gelesensten war sein ,,Molotov" (1861), einer von jenen Helden, die
nachher Gorkij so propagiert hat, ein Barfliöler, der Armut und Hunger
bis zur Neige auskostet, der aber alle Leiden und Mühsale ohne viel
Klagen erträgt imd immer weiter arbeitet, weil er etwas hat, was Gorkijs
Helden nicht haben, ein Ideal, kein besonders hohes, aber doch eines:
er will so viel erwerben, daß er im Alter behaglich wie ein Bürger leben
kann. Molotov ist dabei keine Idealfigur, er ist vollkommen realistisch
hbgestellt mit all den unangenehmen Eigenschaften des Proletariers , mit
seinem Mißtrauen , seinen plebejischen Manieren , seiner Ungebildetheit.
Diese Ungebildetheit erscheint Pomjalowskij als die Wurzel alles Übels,
und deshalb suchte er ihr auch praktisch in seinem Privatleben entgegen-
zutreten; seine Lieblingsidee war, Schulen ftir Arme einzurichten.
An die Figur des Molotov erinnern sehr die Gestalten A. Micbaj-
lovs (Pseudonym für Scheller). Er wurde hauptsächlich durch zwei Ro-
mane bekannt: „Faule Sümpfe" {1S64) und „Das Leben Schupovs"
(1865}. Die Gutsbesitzer sind die Despoten und Bösewichter, die Guts;-
besitzerinnen sehen alle Bauern imd Diener als Pöbel an und verachten
und peinigen sie, während fUr diese das Leben nur eine Kette bitterer
Prüfungen und Leiden ist. Seine Gestalten verraten übrigens hier tmd
da die Einwirkung Dickens'. Auch er wollte praktisch helfen, er hielt
eine Schule für arme Kinder.
Ebenso malt, mit Übertreibung, das Elend des Dorflebena Sasso-
dimskij. In seinem besten Roman „Die Chronik des Dorfes Ssmurin"
(1874 — unter dem Pseudonym Wologdin erschienen) tritt die ideale
Figur eines allen andern voraneilenden Schmiedes auf im Gegensatz zu
dem reichen, rückschrittlichen, lasterhaften Fabrikanten.
Kl — I. jii..^ __u:ij— A ,. — 1 ^lend Reschetnikov in semem
das sind die als Burlaken (Barken-
Kama vermietenden Bauern —
[ädchen erstrebt, das es sich aber
i'reüdenmädchen wird, wohl ein
f^Aaklageliteratar", ihre Ansströmangeo a. Gegenströmangen. — Die Narodniki 03
Dieselben trostlosen Bilder von Armut, Trunk, Laster gibt Lewitovin
seinem ,, Kummer der Städte und Dörfer ^^ So sehr der Inhalt beider Schritt-
steiler aber zusammenläuft, ebensosehr geht ihr Stil ausebander. Der Reschet-
nikovs ist entsprechend der nördlichen Heimat des Verfassers rauh und hart,
während der Lewitovs den Wohlklang und die Musik des Südens hat. Weniger
schroff tritt das Elend in seinen „Steppenskizzen** (186 1) hervor, wo lieb-
liche Naturbilder, glückliche Idyllen dann und wann hineinleuchten.
Traurig, wiederum ganz traurig stinunt Naumov in seinen Romanen
„Im tiefen Abgrund** und „Im vergessenen Land" (1858). Das ver-
gessene Land ist Sibirien. Naumov zeigt die Armut, die Unterdrückung der
sibirischen Bauern, die allerdings nie Leibeigene im europäischen Sinne
waren, dafUr aber unter der Faust der reich gewordenen Bauern lebten, die
Landstrich für Landstrich ankauften und aussogen. Wir bekommen auch
sonst treffliche £inblicke in das Land und in die Sitten des fernen Ostens.
GlebUsspjenskij (1840 — 1902) steht über den Vorhergehenden;
er ist nicht bloß Photograph, er will auch zeigen, daß es in diesen ver-
lumpten, schmutzigen, betrunkenen, betrügerischen Gestalten trotz alledem
etwas vom Seelenleben gibt. Er malt den Auswurf der Stadt mit seiner
moralischen Verwilderung, mit seinen tierischen Trieben in „den Sitten
aus der Rasstjeijajewa-Straße** (liederliche Straße) und in „dem Bankerott**
(beide 1866 im „Zeitgenossen** erschienen). In ebenso erschreckender
Weise schildert er das ländliche Proletariat, so daß man ihn eine Zeit-
lang für einen Anhänger der Leibeigenschaft gehalten hat. Das war er
aber keineswegs ; er wollte nur die Illusionen, denen man sich gern über
die Befreiten hingab, zerstören, er wollte diese richtig zeigen, damit man
ihnen an richtiger Stelle helfen konnte. Seine besten Werke sind hierin
„Neue Zeiten und neue Sorgen** und „Die Macht der Erde** (1882),
eine Anklage für beide Teile, für die Gutsbesitzer wie für die Bauern.
Usspjenskij geht mit den scharfen Waffen der Satire, auch des bissigen
Humors den öffentlichen Einrichtungen des mit der Bauernemanzipation
zusanunen geschaffenen Mir und der Obschtschba zu Leibe, d. h. der
Gemeindeverwaltung, in deren Hand das den Bauern überwiesene Anteil-
land war; der einzelne Bauer selber war nicht Besitzer. Er griff diese
Institutionen an, weil sie die Kräfte des Individuums zu sehr lähmten
und weil sie andrerseits die unmoralische Geldwirtschaft großzogen.
Der Seelenanalytiker und zwar der der kranken Seelen wird er ganz
in seinen letzten Novellen „Das kranke Gewissen**. Wenn es ein Heil-
mittel in all dieser Trostlosigkeit gibt, dann kann dies nur Bildung, Bil-
dung, Bildung sein, und Genesung in der schönen, freien Natur.
Slatowratskij möchte man beinahe den Antipoden Usspjenskijs
neimen. Er sieht das Heil gerade im Mir, in der Obschtschina, im
Artjel (Arbeitergemeinschaft); Voraussetzung ist dabei der Geist der
brüderlichen Liebe. Usspjenskij will der Intelligenz helfen, Slatowratskij
QA Achtzehntes Kapitel
achtet sie gering; Wert hat fiir ihn nur die Arbeit des Arbeiters. Usspjenskij
mildert die Schrecken des Elends etwas durch den darüber flutenden
Humor, Slatowratskij verstärkt sie noch durch sein Pathos. Seine erste,
1866 im „Funken" veröffentlichte Skizze „Die Viehseuche" gab er unter
dem Pseudonym „Der kleine Schtschedrin" heraus, etwas gewagt, denn
von der Ssaltykov doch gerade charakterisierenden scharfen Satire hat er
wenig. Slatowratskij hat viele, dicke Bände geschrieben, in denen be-
sonders der reich gewordene Bauer der Peiniger ist. Sein bestes Werk
ist „Fundamente" (1884). Hübsche Schilderungen bieten „Die Wochen-
tage auf dem Lande" (1882). Land und Landleben zeichnet er treff'lich.
§ 51 I Die „anklägerische" Lyrik konzentriert sich eigentlich in
einer einzigen Person, allerdings einer bedeutenden, Njekrassov"(i82i
— 1877). Als Herausgeber kennen wir ihn (§ 49). Njekrassov ist vor
allem aber Lyriker ^^ und zwar ein Lyriker von Gottes Gnaden. Seine
Dichtungen reißen durch die Macht des Gedankens, die Tiefe der Emp-
findungen, die Musik der Form hin. Mit heiligem Eifer tritt -er für den
Armen, den Darbenden, den Geprügelten ein, kämpft er gegen die Roheit
und Unwissenheit der Herrschenden wie der Beherrschten. Dem Bauern
gilt seine Liebe, weil da die Not am größten ist. Das wußte er aus eigener
Erfahrung : er war der Sohn eines verarmten Gutsbesitzers. Gedichte wie
„Die Heimat" und „Die Ungläubigen" sprechen von dieser Not.
Njekrassovs erste Gedichte gefielen Bjelinskij, und der half dem
jungen darbenden Studenten. Aber Bjelinskij starb bald, und Njekrassov
stand wieder dem Nichts gegenüber. Da rettete ihn „ Der Zeitgenosse ",
der durch seine Gewandtheit bald zu der gelesensten Zeitschrift Rußlands
wurde. Nach dem „Zeitgenossen" übernahm er, wie wir gesehen, die
„Vaterländischen Annalen", und so war er gegen äußere Not gesichert;
die sehr anstrengende Tätigkeit zermürbte jedoch seine Kräfte.
Njekrassovs Muse ist die Muse der Trauer, der russischen Melan-
cholie, sie ist aber zugleich auch die Muse der Anklage und der Rache.
Er geht auf das schärfste mit den Sünden der Väter ins Gericht, er
geißelt jedoch nicht minder die Sünden der Jugend, er geißelt alle Lüge,
allen Schmutz. Viele herrliche Gedichte geben uos solche Stimmungen
wieder: „Das vergessene Dorf", „Vor dem Regen", „Im Hospital",
das in Gedanken, Empfindung, Versmaß einzig großartige „Begräbnis",
dann die größeren Dichtungen „Die Bauemkinder", „Der Korbflechter",
„Der Frost", „Die Stille", und bitterste Satire enthält sein großes Epos, an
dem er von 1866 bis 1876 gearbeitet hat, „Wer lebt glücklich in Ruß-
land?" mit der Antwort „Der Trunkenbold".
Alle diese Dichtungen^®) zeigen aber nicht allein, welch feines Ohr ihr
Schöpfer für die traurigen Erscheinungen des Menschenlebens hatte, son-
dern auch welch scharfes Auge er für die Schönheit und die große, ver-
söhnende Güte der die Menschen umgebenden Natur besaß.
yyAnklageliteratnr'^, ihre Änsströmimgen n. Gegenströmoogen. — Die Narodniki gc
Njekrassov ist der Anwalt des Bauern, der Herold des Proletariats,
aber nur, soweit sie in der Not sind — wenn die Not andere Personen
trifit, dann ist er auch bei ihnen zur Hand : die Dekabristenfrauen Fürstin
Trubezkaja und Fürstin Wolkonskaja und ihr und ihrer Männer furcht-
bares Los sind mit derselben Liebe, demselben tiefen Mitgefühl behandelt
wie irgendein gequälter Proletarier.
Am ehesten reicht an Njekrassovs Poesie noch die Nikitins tmd
Pleschtschejevs. Hervorragend sind Nikitins ^^) Volkslieder; Ge-
fühlstiefe und Einfachheit sind ihre Merkmale; sie sind fast den Kolzov-
schen ebenbürtig. Im „Kulak" ( — Landaufkäufer — 1858) greift er ,
scharf in die Zeitfragen hinein.
Pleschtschejev ist aach ein „Ankläger", ein sehr scharfer, frei-
lich nur im Anfang. Er hatte schon in seinen ersten Gedichten (1846)
für „die höchsten Ideale des menschlichen Herzens" geschwärmt und
seine „Brüder vorwärts ohne Furcht imd Zweifel auf zum Heldenkampf"
gerufen, d. h. zur Revolution. 1849 batte er dann an der Verschwörung
Petraschewskijs persönlich teilgenommen. Die Folge war, daß er zum
Tode verurteilt, dann aber zu zehn Jahren Verbannung nach Orenburg
und nach dem Kaukasus begnadigt wurde. Allzuviel Hoffnung hatten ihm
diese zehn Jahre nicht eingebracht; nach seiner Rückkehr sehnte er sich
nicht nach dort. So sind seine späteren „Gedichte" (1858) und seine
„Neuen Gedichte" (1863) düster, melancholisch, jedoch nicht mehr in
dem Grade aufreizend ^wie früher. Sie sind voll Tiefe der Empfindung,
bringen stimmungsvolle Naturbilder, haben weichen, musikalischen Klang.
Seine Novellen und Lustspiele sind von wenig Wert, degegen Übersetzungen
aus Heine, Lenau, Herwegh, Hebbel („Maria Magdalena"), Byron („Sar-
danapal"), Tennyson, Alfieri gut.
Auch Ogarjov (f 1877), der Freund Herzens, der mit ihm in die
Verbannung ging und mit ihm den „Kolokol" herausgab, kann hierher
gezählt werden, eine Lermontovsche Gestalt. Er ist verzweifelt, möchte
Trost im Träumen suchen, aber auch dies tötet ihm die kalte Vernunft.
Am verzweifeltsten klingen seine „Monologe". Er ist der Sänger der
Armut, der Not, des Todes und — was zu den Anklägern sonst weniger
gehört — der verratenen Liebe, ganz Lermontov.
§ 52 I Das „anklägerische" Drama vertritt Ostrowskij, ein großes
Talent, durch den die schlummernde dramatische Dichtung erst wieder Leben
erhielt und, in neuen Bahnen gehend, eine bedeutende Höhe erreichte.
Das Theater war ja in Rußland seit seinem Entstehen außerordent-
lich beliebt gewesen ; jedoch die Zuschauer stellten geringe Anforderungen^
sie hatten auch nicht das richtige Verständnis, denn bessere Stücke wie
die Gogols und Gribojedovs schlugen nicht allzutief Wurzel. Man liebte
mehr Schau- und Singspiele, einheimische wie übersetzte, vollkommen
wertlose Sachen ^®®). An solche schwachen Stücke verschwendeten gute
V
/
o6 Achtzehntes Kapitel
Mimen wie Martynov, Schtschepkij, Karatygin ihre Kräfte. So
hielten sich durch ihre hervorragende Darstellung die mäßigen Dramen
eines Obodowskij, wie sein „Belisar", aus dem Deutschen über-
arbeitet, sein „Verzaubertes Haus", aus dem .Französischen überarbeitet,
bis in die sechziger Jahre mit bestem Erfolg. Etveas höher stand
Polewoj, der uns bekannte Literat, mit seinen Stücken patriotischen
Inhalts: „Der Großvater der russischen Flotte " (1839), „Der Kaufioaann
Igolkin", einer Episode aus der Schlacht bei Poltawa, und mit seinen
Überarbeitungen Shakespeares „Hamlet", „Romeo und Julie", auch
Moli^res und Schillers. Der Kriegs- und Siegesdramatiker Kukolnik
hatte wegen seiner Themen den größten Erfolg. Dahin gehören „Die
Hand des Höchsten rettete das Vaterland" (1834), „Fürst Skopin
Schujskij" (1835); am meisten schlug seine ad hoc gemachte „Seefeier
in Ssewastopol" (1854 — Sieg über die Türken bei Sinope) durch. Er
kam auch noch auf den Gedanken, italienische Künstler und Dichter zu
dramatisieren, z. B. Tasso, hatte aber trotz der eleganten Verse wenig Erfolg.
Meilenweit über allen ist Ostrowskij (1823 — 1886). Seine Dramen
sind anklägerisch ; sie leuchten unbarmherzig in die Sünden und Gebrechen
eines Standes hinein, um den sich bis jetzt niemand gekümmert hatte, der
aber ein „wahres Reich der Finsternis " bildete, in den Kaufmannsstand.
Ostrowskij ^^^) ist wie Gogol Vertreter der realistischen (naturalistischen)
Schule. Aber Gogol lag vor allem an der Komik der Situation; seine
Personen sollten die Lachmuskeln der Zuhörer in Bewegung setzen. Derlei
geht jedoch nicht ohne einen gewissen Zwang an den Personen wie an
der Handlung. Ostrowskij ist objektiver; er bleibt streng sachlich, real,
er nimmt die Vorgänge wie sie sind und verzichtet auf jede Effekt-
hascherei. EiSekte brachten seine Vorwürfe an und für sich schon genug ;
seine Umgebung war wie dazu gemacht. Die Moskauer Handelsleute,
reich, geschwollen reich, aber geizig, unwissend, borniert, dummstolz, roh,
sittenlos, abgefeimt, betrügerisch — so sah sie der Junge jeden Tag;
sein Vater war eine Art Rechtskonsulent, den sie häufig gebrauchten.
Später lernte er sie noch näher kennen, als er im Handelsgericht arbeitete.
So ausgerüstet, trat er schon 1846 mit einigen kleinen Sachen hervor,
die starken Unwillen bei den Betroffenen erregten. Von emer wirklichen,
erfolgreichen Tätigkeit kann man jedoch erst seit 1852, seit dem Er-
scheinen seiner „Armen Braut", sprechen.
Ostrowskij ist der fruchtbarste Dramatiker, speziell Komödienschreiber
Rußlands gewesen ; natürlich ist manches von untergeordneter Bedeutung.
Ein erstklassiges dramatisches Talent verrät schon sein Stück „Armut ist
keine Sünde" (1854). Es hat als Hauptaufgabe, die Sünden des Kauf-
mannsstandes zu geißeln. Es blickt aber auch etwas vom Slawophilen
hindurch, der er trotz aller „Anklägerei" im Grunde seines Herzens
immer gewesen ist; es läuft auf das Lob der alten Zeit, ihrer Lieder,
«
i
\
^?
Anklageliteratar^', ihre Ansströmangen a. Gegenströmungen. — Die Narodniki m
ihrer Spiele hinaus und auf das Bedauern, daß von allen nur die Er-
innerung geblieben ist. Das zeigen noch deutlicher seine historischen
Stücke, sein „Kosma Minin" (1862 — einer der Befreier Rußlands aus
schlimmster Zeit, der des Interregnums), sein „Pseudodemetrius^^ (^367)
(sozusagen eine Fortsetzung von Puschkins „Boriss Godunov'% auch
seine ^,Wassilissa Mjelentjewa" ^•2) (s. S 58). Aber von diesen historischen
Stücken wollte weder die Kritik noch das Publikum etwas wissen, mit Recht :
was er nicht selber sah, konnte er nicht beleben. Als bestes Stück wurde
von beiden sein „Gewitter" ^®') (1859) angesehen; Dobroljubov nannte es
einen Lichtstrahl im „Reich der Finsternis". Durch ein schweres Natur-
gewitter wird ein inneres Gewitter, d. h. die Herzensangst einer jungen Ehe-
frau wegen eines Fehltritts so gesteigert, daß sie alles gesteht und dann die
Sühne im Tod sucht. Ostrowskij fallt damit aber keineswegs ein Ver-
dammungsurteil über sie, sondern klagt vielmehr die sie umgebenden Ver-
hältnisse an und die Personen, welche die ärmste durch ihre Verbohrtheit,
ihr allzu starres Festhalten am Herkömmlichen, durch ihre Kälte zu diesem
Schritt verleiten. Diese schlimmen Personen gehören, wie immer bei ihm,
dem Kaufmannsstand, dem „Reich der Finsternis" an.
Ostrowskij folgte auf das lebhafteste allen Fortschritten, welche die
Reform brachte, und schloß sich auf das innigste allen neuen Lebens-
erscheinungen an, blieb aber gegen die Mißstände in ihrem Gefolge nicht
blind. In dem Stück „Eine einträgliche Stelle" (1860) sind die Wort- tmd
Maulhelden, die von jenen Zeiten ordentlich gezüchtet wurden, bitter gegeißelt.
Auch andere Stücke: „Ein alter Freund ist besser als zwei neue"
(1860), „Hartes Brot", „Tolles Geld" (1874), „Das Herz ist' kein Stein"
(1880), die alle dem Kaufmannsstande und seinen Mißständen gelten,
sind wertvoll.
Trotz aller Anerkennung, die der Dichter fand, kam er aus pekuniärer
Notlage erst gegen Ende seines Lebens heraus, als ihn schon die auf-
reibende Arbeit gebrochen hatte. Da fielen ihm auch endlich Ehrungen
zu: er wurde Intendant der Moskauer Theater und Vorsitzender der
„Gesellschaft russischer dramatischer Schriftsteller".
Ostrowskijs Stücke haben unendlich dazu beigetragen, den Geschmack
des Publikums zu heben. Wenn es heißt, er habe keine wirklichen
Dramen geschrieben, sondern nur lose Szenen aneinander gereiht, so ist
das ein Vorwurf, der vom heutigen Standpunkt aus schon wiederholt
zurückgewiesen bt. Ostrowskijs Gestalten haben noch eben Vorzug: sie
sind nicht durchweg schwarz in schwarz gemalt ; seine Bösewichte sind nicht
ganz Bösewichte und nur Bösewichte, sondern sie haben auch hier tmd
da einen Vorzug, eine Tugend, sie sind eben reale Menschen. Ostrowskijs
Sprache ist so mannigfaltig und abwechslungsreich wie die Puschkins.
Dasselbe große Verdienst, das sich Ostrowskij um das russische
Lustspiel erworben hat, steht Leo Tolstoj für die Tragödie zu; nur
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 7
q3 Achtzehntes Kapitel
hat ihn das russische Publikum viel später, erst in der letzten Zeit,.
schätzen gelernt. Ausfuhrliches darüber § 62.
Hinter diesen beiden stehen alle übrigen weit zurück. Zwar hat
auch Turgenjev (s. § 47) Komödien verfaßt; sie sind jedoch tief unter
seinen Romanen und Erzählungen. Sie geben nicht üble Bilder von der
alten Zeit, aber die alte Zeit tritt so sehr als die gute alte hervor, daß
an ihr eigentlich nicht viel auszusetzen ist, und vom Einlänten einer neuen
ist noch viel weniger die Rede. Es steckt auch Humor und Satire darin^
aber ihre Signatur ist Harmlosigkeit.
Ebensowenig kann man hierher die Stücke rechnen, die Ostrowski] in
Gemeinschaft mit N.J. Ssolowjov und die der letztere allein geschrieben
hat. Ganz hübsch ist z. B. die gemeinsame Komödie „Ein glücklicher
Tag" (188 1) und ebenso niedlich ist Ssolowjovs eigene „Auf der Schwelle
zur Tat" (1881), aber sie sind nur niedlich, womit wohl genug gesagt ist.
Anders ist es mit Pissjemskij. Wenn auch mehrere Stücke all- *
gemein gehalten sind, wenn sie nur allgemeine^ Schäden hervorheben wie
den Kult des Gottes Baal, so ist doch sein „Bitteres Loos" (1858) ein
sehr schwer anklagendes „Bauerndrama'', das erste effektvolle dieser
Gattung noch vor Tolstojs „Macht der Finsternis".
In der Komödie steht Ostrowski] am nächsten Potjechin. Daß
seine Stücke bitter waren tmd bei der Regierung keine angenehmen Ge-
fühle auslösten, beweisen die Schwierigkeiten, welche die Zensur ihrer
Aufführung bereitete; ein Teil wurde überhaupt nicht zugelassen. Schon
sein erstes Stück „Menschengericht ist kein Gottesgericht" (1853) Wagt
an, ebenso sein „Flittergold" (1858). Am besten zeichnet den Kampf
zwischen der alten und der jungen Generation seine Komödie „ Das los-
gerissene Glied" (1865), freilich sind ihm die Typen der alten Gene-
ration besser gelungen als die der neuen. — Man darf übrigens auch
nicht ganz an seinen Romanen vorübergehen, z. B. an „Den armen
Edelleuten" (1859), an „Den Blutsaugern im Dorf " (1880). Schon die
Titel sprechen eine deutliche Sprache.
Speziell das Beamtentum wählt sich zur Zielscheibe Mann in mehreren
oft aufgeführten Stücken. Sein „Spinngewebe" (1865) ist ein scharfer An-
griff auf die Gerichte, die alles Leben mit ihrem Gespinst überziehen, ein-
schnüren und töten. Es ist lebendig geschrieben, hat viele gute Einfälle, nur
neigt es stark zur Vaudeville-Gattung. Eine andere Komödie „Die Schwätzer"
(1868) geißelt, wie der Titel schon sagt, die mit der Reform zusammen ein-
setzende öffentliche Redewut, die sich im Debattieren und in Erörterungen
gar nicht genug tun konnte, dafür aber destoweniger oder gar nicht zum
Handeln fährte. Man hat ihn wegen dieses Stückes zu den Reaktionären
werfen wollen, es ist aber nur Objektivität, ebenso wie er rein objektiv
in seinem „Allgemeinen Wohl" (1869) die unter dieser Firma segelnden
egoistischen Bestrebungen des Provinzbeamtentums bloßlegt.
,, Anklageliteratur ^^, ihre Aosströmnugen u. Gregenströmongen. — Die Narodniki qq
Ungefähr denselben Strang zieht GrafWl. A. Ssologub (s. S36)
in seiner Komödie „Der Beamte" (1857); sie hatte wenig Erfolg.
Desto größeren hatte der äußerst gewandte und sehr fruchtbare
Viktor Krylov(f 1906). Er griflf mit den Komödien „ Die Land^chafts-
abgeordneten'' (1874) und ,, Gegen den Strom" in den Kampf der tobenden
Geister. Später trat bei ihm die Politik zurück. Er übersetzte vorzüglich
Lessings „Nathan" und überarbeitete eine Reihe französischer Stücke.
§ 53 I Die „Anklageliteratur" erzeugte selbstverständlich Gegendruck;
ihre äußersten Konsequenzen, Atheismus, Nihilismus konnten nicht ohne
Antwort bleiben. So zeigt sich deim der extreme Gegensatz, der von
einer Reform überhaupt nichts wissen will; neben ihm gemäßigtere Ele-
mente, die vor der Reform sich von dieser eine durchgreifende Bessenmg
versprachen oder nach ihrer Einftihnmg, da sie gegen manche übrig-
gebliebenen oder auch neuerstandenen Mißbräuche nicht blind waren,
doch eine langsam vorschreitende Gesundung erhofilen, jedenfalls keine
Über- oder Umstürzung, keine dilettierenden Versuche, keine nebel-
haften Neuerungen wollten. Das Proletariat hatte bei d^n „Anklägern"
die Führerrolle gehabt; diese übernimmt bei ihnen wieder der Gebildete.
Stark hervortretende Geister gibt es freilich unter ihnen nur wenige.
Einer von diesen wenigen ist'
Katkov (s. § 46), an Schärfe und an Schlagfertigkeit Ssaltykov
nicht so femstehend. Er nahm den politischen Elampf in der
Monatsschrift „Russischer Bote" und in der Tageszeitung „Moskauer
Nachrichten" auf. Auf seine Rechnung ist zu setzen, daß „Der Zeit-
genosse", „Die vaterländischen Annalen" verboten, Tschemyschewskij
nach Sibirien verbannt wurde. Freilich wurden auch seine „Moskauer
Nachrichten" suspendiert, jedoch nur auf kurze Zeit, um dann desto
schärfer wieder in streng nationalem, reaktionärem, absolutistischem Sinne
zu arbeiten. Natürlich halfen ihm die politischen Verhältnisse; Kara-
kassovs imseliges Attentat kam; Dmitrij Tolstoj, auf den Katkov sehr
großen Einfluß hatte, wurde „Verfinstenmgsminbter^^
§ 54 I Die „ Ankläger ^^ fanden auch ästhetische Gegner, deren
Stimme allerdings im Winde verhallte, nicht etwa, weil sie unbedeutende
Männer waren; die Zeit war gegen sie. Annjenkov (1812 — 1887)
und Drushinin (1824—1864) anerkannten der Kunst gegenüber nur
den rein ästhetischen Standpunkt; sie wollten nicht Tendenzkritiker sein
wie Ssaltykov und Tschemyschewskij, sie wollten sich auch nicht von
Pissaijev belehren lassen, daß ein paar Stiefel wertvoller sei als die Verse
Puschkins. Der Politik standen sie fem. Annjenkov hat sehr wertvolle
Aufsätze in den „Vaterländischen Annalen", im „Zeitgenossen", im
„Boten Europas" über Turgenjev, über Ostrowskij, über Gogol geschrieben.
Er gab auch Puschkins Werke heraus. In seinen Kritiken trägt er oft
eine von Bjelinskij abweichende Meinung vor.
7*
JOO Achtzehotes Kapitel
Dnishinins erste Tätigkeit gehörte dem „Zei^enossen^S solange
dieser noch nicht im radikalen Fahrwasser segelte, dann schrieb er für
„die Lesebibliothek", für den „Funken", für „den Russischen Boten".
Er war ein sehr guter ELenner auch der westeuropäischen Literatur; er
hat mehrere Stücke Shakespeares übersetzt, und manches sehr Lesenswerte
über Balzac, Thackeray geschrieben. Daß er ein bedeutendes Erzähler-
talent besafi und vorzüglich Menschen zu charakterisieren und das mensch-
liche Herz, besonders das weibliche, zu analysieren verstand, beweist sein
Roman „Pauline Saks" (1849). ^^ rollte mit diesem zum ersten Male
in der russischen Literatur die weibliche Frage auf. Die jtmge Frau liebt
einen andern. Der Ehemann hält sich nicht für berechtigt, sie zu ver-
dammen und ihr die Möglichkeit zu nehmen, dem geliebten Mann zu
folgen. — Dnishinins treffliches Herz und gesunder Verstand ließen ihn
die „Gesellschaft zur Unterstützung notleidender Schriftsteller und Ge-
lehrten" ins Leben rufen.
Auch Apollon Grigorjev (1822 — 1864) ist ein Gegner der
„Ankläger". Er bekennt sich aber auch nicht zur rein ästhetischen
Kritik der Vorhergehenden, sondern vertritt die Carlylesche oi^nische
Kritik, d. h. er sieht zwischen der Kunst und der Kritik eine organische
Verwandtschaft, in der Erkenntnis des Idealen. Es steckt auch vieles
vom Slawophilen in ihm. Seine kritischen Abhandlungen in den „Vater-
ländischen Annalen", im „Russischen Wort", im „Russischen Boten"
konnten gegen die. gegnerischen nicht aufkommen.
§ 55 I Von den Dichtungsarten ist der Roman hier gleichOalls am
besten vertreten. Mancher „klagt" auch „an" und nicht etwa bloß den
Nihilismus und den Atheismus, sondern genau dieselben Sünden und
Gebrechen, gegen die sich die „anklägerische" Literatur wandte, aber
doch ist ein bedeutender Unterschied zwischen beiden: er hält Maß in
seinen Anklagen, er sieht nicht überall Mißstände, er sieht auch lichtere
Seiten; er klagt nicht an bloß der Anklage wegen.
Noch auf dem Boden der Ideale der vierziger Jahre steht Kljusch -
nikov. Sein bester Roman „Luftspiegelung" (1864) spricht von den
Leuten, die mit hohen Idealen im Herzen sich mit dem ganzen Feuer-
eifer ihrer Seele in die revolutionäre Bewegung stürzen tmd dort nun
nach und nach erkennen, daß alle diese Ideale an der alltäglichen Wirk^
lichkeit zerschellen, daß die ganze Bewegung — Luftspiegelung ist.
Wie Kljuschnikov kämpft gegen den Nihilismus, gegen seine sinnlose
Zerstörungswut, gegen seine blutigen Konsequenzen Krestowskij. (Nicht
zu verwechseln mit der gleichfalls Romane schreibenden, weniger be-
deutenden Frau Chwoschtschinzkaja, deren Pseudonym Krestowskij ist.)
Bekannt machte er sich durch seine „Petersburger Spelunken" (1864 bis
1867), worin er nach Sues „Pariser Geheimnissen" die schaurigen
Nachtseiten der Hauptstadt schüderte. Er war ein guter Keimer der
„Anklageliteratnr^^, ihre Aasströmnngen n. GegeDströmnngeu. — Die Narodniki iqi
französischen Literatur, wie die meisten dieser Schriftsteller wieder über
eine gediegene Bildung verfügen, auch im äußeren Leben wieder mehr
hervortreten; Krestowskij nahm 1877 als offizieller Hofhistoriograph am
russisch - türkischen Kriege teil. Lesenswert sind seine Romane: „Nicht
der erste und nicht der letzte" (1859), ,, Durchtriebene S(;helme" (1887).
Den Bauern gilt natürlich auch das Mitgefühl dieser Schriftsteller.
Ssalov schrieb von 1877 ab in den „Vaterländischen Annalen** eine
Reihe von Erzählungen, so „Die Mühle des Kaufmanns Tschessalkin^S
„Der Pächter" u. a., die uns das hungernde Dorf, die zerlumpten Kinder,
die vernagelten Fenster der dem Einsturz nahen Häuser malen gegenüber
dem feisten, aufgeputzten, Festmahle feiernden Volksaussauger, dem Kulak.
Er bekämpft also auch die Auswüchse der Reform, aber nicht die Re-
form selber. Seine Naturschilderungen, seine Bilder aus dem ländlichen
Leben, Bilder vom Fischfang, von der Jagd sind trefflich.
Den Trotz und Starrsinn des russischen Bauern, ebenso des Klein-
kaufmanns, geißelt mit starkem Humor Lejkin. Sein „Stück Brot" (^869)
wurde viel gelesen. Tiefen Ernst und tiefe Trauer atmet sein Roman „Auf
Lohn" (189X), in dem das Los der armen Bäuerinnen geschildert wird, die
nach Petersburg kommen, um Arbeit zu suchen, und dort nur Leid erfahren.
Arm waren nicht bloß die Bauern, arm war infolge der Aufhebung der
Leibeigenschaft auch der Kleinadel geworden ; Unfähigkeit, angeborener Leicht-
sinn trugen natürlich ein gut Teil dazu bei. Davon sprechen die Skizzen,
die Tjerpigorjev (unter dem Pseudonym Atawa) in den „Vaterländischen
Annalen" brachte, und die er dann unter dem Titel „Verarmung** (188 1)
zusammenfaßte. Auch Ssaltykov hatte das Thema berührt, aber nur all-
gemein, während Tjerpigorjev konkrete, lebende Bilder zeichnet.
L e s s k o V und M j e 1 n i k o v behandeln ganz besondere Themen. Lesskov
(Pseud. Stjebnizkij) hat auch nihilistische Typen, die unreifen Jünglinge mit
den imverstandenen Ideen, manche, 'die nach Wahrheit verlangen und das
Gute wollen, manche, die meisten, die nur den eigenen Vorteil und den
eigenen Genuß suchen, beide ihre Kräfte nutzlos verschwendend und ein
Chaos für Mann und Weib herbeiführend; er bringt jedoch noch ein
anderes Element hinein, die Geistlichkeit, die nur selten bis jetzt berührt
ist. Sie spielt schon in seinen ersten großen Roman hinein „Nirgends
wohin" („Kein Ausweg" — 1865). Ihr ganz gewidmet ist der Roman
„Die Kirchenleute" (1876). Außerordentlich anschaulich und zugleich
sympathisch ist hier ihr häusliches Leben mit Frau und ELindern, ihre seel-
sorgerische Tätigkeit, ihr Kampf mit dem Unglauben, dem Sektenunwesen,
dem Nihilismus geschildert. Am wenigsten befriedigt eigentlich sein Roman
„Auf Messern" (1872), und dabei hat er die meisten Auflagen erlebt.
Besonders dem Sektenwesen widmet sich Mjehiikov (Pseudonym
Pjetscherskij). Um dieses noch vollkommen im Dunkel liegende Ge-
biet genau kennen zu lernen, ist er in die fernsten, abgelegensten
I02 Acbtzehntes Kapitel
Orte, besonders der Wolgagegend, gewandert, zu den Bauern und
kleinen Kaufleuten, den zähesten Schismatikem. In seinen Büchern
„Alte Jahre" (1857), »i^^r Bärenwinkel" (1857), später in „Den
Wäldern" (1872), „Auf den Bergen" (1875 — 1881) gibt er eine
vorzügliche Schilderung ihrer Sitten imd religiösen Gebräuche, wahre
Kulturgemälde. In die Erzählungen flicht er eine ganze Reihe von
Volkslegenden und Sagen, viele russische Sprichwörter ein. Leider
verteilt er zuviel Licht auf die Sektierer, zuviel Schatten auf die
Geistlichen, denen er vor allem Trunksucht anhängt. Mjelnikov hat
auch mehrere wissenschaftliche historische Arbeiten über die Schisma-
tiker verfaßt.
Es verdienen auch die Namen von Marko v und von Golowin
(Pseudonym Orlowskij) erwähnt zu werden, die beide für den „ Russischen
Boten" diesen und jenen hübschen Roman geschrieben haben.
§ 56 I Im. Roman bietet sich noch eine neue Seite. Die russische
Frau tritt in die Erscheinung. Turgenjev hatte sie sogar zur Herrin des
Mannes gemacht. Das war vordem anders, ganz anders gewesen. Das
Leben der russischen Frau noch in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts war genau dasselbe, wie es im 16. Jahrhundert der „Domostroj"
vorgezeichnet hatte, d. h. das der oft geprügelten Dienstmagd gegenüber
dem strengen und rohen Gebieter. Eine Bresche in diese von den Männern
stark verteidigte Festung schlugen die am Ende der vierziger Jahre in
Rußland eindringenden Werke George Sands, die nicht allein die Frau
über sich selbst aufklärten, sondern auch den Männern ihr unrechtes
Handeln zur Einsicht brachten. Die ersten Früchte dieser Aufklärung
waren Drushinins „Pauline Saks", Herzens (Iskanders) „Wer ist schuld?"
gewesen und, stark an „Pauline Saks" erinnernd, Awdjejevs „Stein
unter Wasser" (1860). (Ein anderer Roman Awdjejevs „Tamarin" [1852],
gleichfalls eine starke Nachahmung [von Lermontovs Pjetschorin] ist trotz
der Anlehnung interessant und damals vom Publikum hoch eingeschätzt
worden.) Dann kam Turgenjev und neben ihm Gontscharov, die nun aus
der unterdrückten Sklavin eine erhabene Gebieterin machten. Und ähnlich
stellte sich selbst Pissjemskij, der die Männer mit schonungsloser Satire
verfolgt, die Frauen in allem entschuldigt. Im übrigen machte sich nicht
bloß theoretisch im Roman der Fortschritt bemerkbar, sondern auch draußen
im praktischen Leben; schon 1858 wurden die ersten weiblichen Gymnasien
errichtet, also lange bevor man bei uns überhaupt nur eine Ahnung davon
bekam. Die Entwicklung ging mit Sturmschritten weiter. Die Frau be-
gnügte sich sehr bald nicht mehr mit der eben erst zugebilligten Stellung
in der Familie und der Gesellschaft, sie wird selber handelnd, treibend,
sogar politisch treibend. Die Frau auch dieser Art, nicht mehr die Herz
und Sinne bestrickende, eher die abstoßende, unweibliche, unreif politi-
sierende kennt man zur Genüge aus Turgenjev.
,,ADklageliteratar", ihre Ausströmungen a. Gegenströmungen. — Die Narodniki 103
f
Diesen Auswüchsen femstehend, dringt jetzt die arbeitsame, kluge,
unabhängige Frau selbständig auch in unser Gebiet; sie tritt selber lite-
rarisch für die Rechte ihres Geschlechtes ein.
Schriftstellerinnen hatte es ja lange vorher gegeben. Katharina 11.,
die Fürstin Daschkova ragten hervor. Aus einem Ssmirdinschen (Buch-
händler-) Katalog ersieht man, daß am Ende des i8. Jahrhunderts und
im Anfang des 19. sehr viele Frauen ihre Gedichte, Erzählungen, Dramen
drucken ließen, durchweg dürftig und tendenzlos. Die Frauenfrage be-
handeln zum ersten Male in ihren Romanen Frau Chwoschtschinskaja,
Frau Ssochanskaja, Frau Markovitsch.
In den vielen Romanen der Frau Chwoschtschinskaja (Pseu-
donym Ws. Krestowskij — alle diese Damen schreiben pseudonym, wie ja
auch viele Männer dieser Zeit) sieht man deutlich zwei Perioden. Die der
ersten („Der Dorflehrer" 1850, „In Erwartung des Besseren" 1860) zeigen
noch das unter der starren Aufsicht der tyrannischen Mutter duldende
junge Mädchen, dem auch der schwache Vater nicht helfen kann; da-
gegen tritt im Roman „Der große Bär" (1871) schon die neue Frau auf,
die für das Allgemeinwohl arbeitet, die auf dem Boden der neuen Be-
wegung steht, die im Kampfe ist mit dem noch die Ideale des Domostroj
vertretenden Manne. Frau Chwoschtschinskaja hat ein scharfes Auge für
die Fehler jener Zeit. Die großen Phrasenhelden und die kleinen Seelen
zeichnen ihre letzten Werke, der Romanzyklus „Die Provinz in der alten
Zeit" (1884) und „Pflichten" (1888). Überall haben wir in abgerundeter,
anmutender Darstellung treffende Bilder aus dem Leben in der kleinen
Provinzstadt, im Dorfe; besonders das Treiben der höheren Schichten
ist gut beobachtet und gut wiedergegeben. Mehrere ihrer Romane sind
ins Deutsche, auch ins Italienische übersetzt.
Mit grelleren Farben malt ihre Bilder aus der vom Leben ab-
geschnittenen fernen Provinzstadt, aus dem fernen Dorf, aus dem dort
vegetierenden Dasein Frau Ssochanskaja (Pseudonym Kochanowskaja).
Die unglückliche Ehe, die aus dem in Rußland heilig gewordenen Her-
kommen resultiert, das junge Mädchen nur nach dem Beschluß der Eltern,
nicht nach ihrem Willen dem Mann zu übergeben, dieser Krebsschaden aus
der Vergangenheit, der noch immer kräftig Wurzel treibt, ist das Thema
ihres ersten besseren Romans „Nach dem Mittagessen" (1857). Groß-
artig ist hier wie in dem folgenden „Aus einer Provinzgemäldegallerie "
(1859) die Schilderung der Stagnation fem vom Strom des Lebens, fem
vom bildenden Treiben der Großstadt; aber der Roman zeigt zu gleicher
Zeit an vielem, daß die alte Zeit auch gut sein kann, daß die Herren
und die Leibeigenen durchaus nicht immer Feinde zu sein brauchen,
daß sie einander zugetan und treue Diener und treue Schützer waren.
Frau Ssochanskaja ist ebenso wie Frau Chwoschtschinskaja außerordent-
lich gewandt im Ausdmck.
I04 Achtzehntes Kapitel
Am geschicktesten Ü3t die neue Zeit und die neuen Aufgaben Frau
Markowitsch (Pseudonym Wowtschok) mit ihrem Roman „Die leben-
dige Seele" (1868) an., Nachdem die Erzählung erst die Bedingungen
entwickelt hat, unter denen sich der Charakter einer Frau vernünftig
bilden kann — Erziehung zur Arbeit, zum selbständigen Denken, zur
wahren Religiosität — zeigt er, wie eine solche Frau bei einem Ehe-
mann, der unter ihr steht, der nicht schaffen kann und will, alle
herkömmliche Sitte und Moral beiseite setzen und ruhig von ihm
gehen kann.
§ 57 I Aufs engste mit diesem Sittenroman verwandt ist der
historische Roman, gibt er uns doch genau wie jener Bilder aus
der Vergangenheit oder Gegenwart, nur nicht aus dem Kreise der Kleinen
und schnell Vergessenen, sondern aus dem der Großen und Fortlebenden-
Hier handelt es sich natürlich um ganz besonders hervorragende Ge-
stalten, um besonders herausfallende Ereignisse. Eine splche Gestalt ist
Iwan der Schreckliche. Mit ihm beschäftigen sich mehrere, wieder wirk-
lich bedeutende Leute. An ihrer Spitze steht
Graf A. Tolstoj ^^*) (181 7 — 1875), ein gebildeter, viel gereister Mann,
eine Künstlernatur, ein Dichter. Auch äußere Umstände hatten zu seiner
Entwicklung viel beigetragen. In Petersburg geboren, brachte er doch
seine Jugend in Kleinrußland zu, dessen prächtige Natur außerordentlich
auf das Knabengemtit wirkte; dann wurde er mit dem Thronfolger zu-
sammen erzogen; später war er vielfach im Auslande, in Deutschland,
in Italien, wo er mit den erlauchtesten Geistern verkehrte. Die kurze
Begegnung des E^aben mit Goethe ist dem alten Tolstoj immer eine
der wertvollsten Erinnerungen geblieben. Alle diese Umstände erweckten
in ihm ein tiefes Kunstempfinden, ein tiefes Verstehen von Mensch und
Natur.
Graf Tolstojs Roman „Fürst Sserebrjanyj " (18 61) greift in die
schlimmen Zeiten Iwans hinein, wo dieser in seiixer steten Angst um Ver-
rat sich mit einer Leibwache, den Opritschniki, umgibt und wo diese Leib-
wache ntm in maßlosester Willkür herrscht und die ' maßlosesten Grau-
samkeiten verübt. Fürst Sserebijanyj kehrt aus dem litauischen Kriege
zurück und sieht diese furchtbare Wandlung, sieht den nur nach Blut
und Mord dürstenden Herrscher. Mit hohem Mut tritt er ihm entgegen
und bezwingt ihn durch seine edlen Gründe. Der Wert des Romans
besteht natürlich nicht in diesem Rahmen, am wenigsten in dem End-
resultat, sondern in den Bildern, die er vom Zaren, von seiner Umgebung,
von den damaligen Sitten und Anschauungen entwirft, und nicht allein
von denen Rußlands, sondern auch von denen des eben erst in russi-
schen Besitz übergegangenen neu eroberten Sibiriens.
Ungefähr in dieselbe Zeit Iwans greift ein Roman Kostomarovs
hinein. Kostomarov ist als Schriftsteller und als Gelehrter gleich be-
,ÄnklageIiteratar", ihre Ansströmangen a. GegenströmmigeD. — Die Naroduiki 105
deutend. Aus seinen vielen gelehrten Arbeiten über russische Geschichte
schöpfte er die Stoffe zu seinen SchriftsteUereien , bei denen ihm seine
Künstlerader wie seine reiche Phantasie sehr zustatten kamen. Mit seinem
Roman „Kudjejar" (1875 im „Europäischen Boten") berührt er jene
geheimnisvolle Persönlichkeit, die auf die unheilvolle Politik Iwans so
entscheidenden Einfluß hatte ; so soll durch ihn Iwan zu der entsetzlichen
Grausamkeit gegen die Nowgoroder bewogen worden sein. Am Schluß des
Romans entpuppt er sich als Sohn Wassilijs III., also als älterer Bruder Iwans.
Ein anderer, früher fallender Roman Kostomarovs „Der Sohn"
(1865) ^^^^ ^^^ ^ ^^^ ^^^^ Stjenka Rasins, jenes aufständischen doui-
schen Kasaken unter Alexejs Regierung, der vom Kaspischen Meer an
bis Nishnij Nowgorod alles an sich riß und ausplünderte, bis er (167 1)
gefangen und hingerichtet wurde. „Der Sohn" rächt die vom tyranni-
schen Gutsherrn beleidigte Mutter ; er zündet das Gut des Beleidigers an,
gerät aber in Gefangenschaft und wird nun getötet. Das Haupt-
augenmerk des Verfassers ist darauf gerichtet, uns mit den Sitten des
17. Jahrhunderts bekannt zu machen, mit den damaligen Hochzeits-
gebräuchen und Leichenbegängnissen, mit den Gerichtssitzungen und der
Art der Rechtsprechung, kurz mit allem, was dem 17. Jahrhundert
eigen war.
yDer Pugatschovsche Aufstand, also jener unter ICatharina II. tobende
Aufstand, der vom Kasaken Pugatschov angestiftet war mit der Prokla-
mation, Kaiser Peter III. lebe noch und er sei dieser Peter, bot gleich-
falls reiche Nahrung. Er wurde von dem auf historischem wie auf belle-
tristischem Gebiet gleich fruchtbaren Grafen Ssaliass de Turnemir
im Roman „Die Leute des Pugatschov" (1873) behandelt. Er gibt
vortreffliche Bilder von der Kasaner Gesellschaft, von der Gärung im
Volke, dann von der Einnahme Kasans, auch vorzügliche Charakteristiken
der russischen Kommandierenden Bibikov und Ssuworov.
Denselben Stoff wählte auch Danilewskij für sein > „ Schwarzes
Jahr" (1888). Bedeutender in seiner künstierischen Ausführung, wenn
auch nicht immer treu der Historie folgend, ist Danilewskijs „Brennendes
Moskau" (1885 — 1886). Er berührt sich da in vielem mit Leo Tolstojs
„Krieg und Frieden". Tolstojs großes und großartiges Werk wird an
anderer Stelle besprochen (S 62). Genau wie Danilewskij in manchem
mit Tolstoj zusammengeht, genau so gehen sie natürlich auch ausein-
ander: z. B. hat Napoleon bei Danilewskij viel realere Züge, und in der
Auffassung der Frau divergieren sie vollkommen. Die Heldinnen Tolstojs
sind Heldinnen als Mütter, Töchter, Gattinnen, Danilewskijs Heldin steht
auf dem Boden der neuen Bewegung: ihr Opfermut gilt dem Vaterland.
§ 58 I Dieselben Stoffe lagen auch dem Dramatiker. In die
Epoche Iwans des Schrecklichen greift Ostrowskijs bestes historisches
Drama „Wassilissa Mjelentjewa" hinein. Wassilissa ist die ehrgeizige
Xo6 Achtzehntes Kapitel
Witwe eines Bojaren, welche die Hand Iwans erstrebt; auch er will sie
lind will dazu seine eigene Frau beseitigen. Wassilissa ist aber noch
grausamer, sie will den Triumph des Mordes für sich haben und
überredet einen Geliebten hierzu. Der Zar erfahrt von dem Geliebten,
und nun mufi Wassilissa sterben. Das ist dramatischer Stoff, aber
Ostrowskij hat ihn ein wenig schnell hingeworfen, tmd so ist es nur
dramatisierte Geschichte geworden. Nichts anderes ist sein „Kosma
Minin", sein „Pseudodemetrius**, sein „Wassilij Schujskij" (§ 52).
Alexej Tolstoj hatte neben seiner epischen Ader entschied^ auch
eine dramatische. Seine große Trilogie:„Der Tod Iwans des Schreck-
lichen" (1858), „Der Zar Feodor Joannowitsch" (1868), „Der Zar
Boriss" (1869) packt den Stoff dramatisch an, hat auch gute szenische
Effekte, aber Tolstojs Personen reden zu wohlgesetzt, sind blutlos imd matt,
so daß sie mit einem so großartig erfaßten und so großartig durch-
geführten Werke wie Puschkins „Boriss Godunov" nicht in Konkurrenz
treten konnten.
Noch ein paar Dichter haben sich, keineswegs mit Ungeschick, auf
diesem Gebiete, in diesem Stoffe versucht; nur werden auch sie natürlich
von der Konkurrenz Puschkins erdrückt. So malt und charakterisiert
ausgezeichnet
L. A. Mej. In der „Frau aus Pskov" (1860) ist die Heldin eine
Tochter Iwans und einer Bojarenfrau. Sie lebt in Pskov. Iwan will die
Pskower wegen ihrer Unbotmäßigkeit züchtigen. Da erkennt er die
Tochter, imd sein Zorn verraucht. Vortrefflich ist dem Verfasser die
Zeichnung der übermütigen Opritschniki, des alten Volksrats, der auf-
rührerischen Massen gelungen; nur blickt überall ein bißchen stark der
gelehrte Inspektor am Moskauer Gymnasium hindurch. Der Gelehrte
hat auch sonst mancherlei, zu dem ihn sein Studium führte, dramati-
siert: aus dem russischen Altertum, aus der römischen Geschichte, aus
der Bibel.
Auch Awjerkijev knüpft in seinem Drama „Freiheit — Unfreiheit"
(1868) an Iwan an. Er bringt den Zaren jedoch mehr zu Hause, in
seinem Verhältnis zu den Dienern, zu der Leibwache, zu denen, die er
liebt, wo er also nicht der Zar ist, sondern Wanja. Awjerkijevs Stücke
zeigen den effektsicheren Arbeiter, den geschickten Dramaturgen. Er hat
noch ein sehr bemerkenswertes Stück geschrieben, das einzige, das ein
Bild aus der Zeit unmittelbar vor Peter gibt, die Komödie „Frol Sska-
bjejev". Frol ist ein Narr am Hofe Alexej Michailowitschs. Das Stück zeigt
das Leben und Treiben des Hofes imd der Hofgesellschaft mit Hinein-
arbeitung aller Scherze und Witze, welche die naive Phantasie des Volkes
für diese Narrensperson ausgesonnen und ausgesponnen hatte. Der Narr
ist, wie bei uns, kein Narr, sondern eine kluge, witzige, schlagfertige
Persönlichkeit.
„Anklageliteratar", ihre Ausströmangen u. Gegenströmungen. — Die Narodniki io7
Auch Kostomarovs Dramen verdienen Erwähnung : „Ssawa Tscha-
lyj" (1838), und sein Trauerspiel „Die Nacht in Pjerejassiaw" (1841),
mit kleinrussischem Hintergrund und in kleinrussischer Sprache geschrieben.
§ 59 I Fem vom politischen Wirrwarr und jeder revolutionären Be-
wegung hält sich auch ein Teil der Lyrik, Genüge findend^ in der
reinen Kunst, sich in die Natur versenkend, in die Vergangenheit. Sie
alle sind recht bedeutende Dichter.
Den Reigen eröffnet wieder AlexejTolstoj. Der Verehrer Goethes,
Heines, Dantes hat von ihnen die Schönheit der Form übernommen.
Besonders gelingt ihm die Beschreibung der Natur, der Natur, die das
Entzücken seiner Kindheit gebildet hatte, die kleinrussische. Manche
der Gedichte treffien in glücklichster Weise den echten Volkston. Die
ernste Seite liegt ihm , auch die religiöse — in erster Reihe steht da die
epische Erzählung „Die Sünderin'' (1858). Andere schöne Erzählungen
sind „Äljoscha Popowitsch", „Der Drache" (1875) usw.
Eine zarte, weiche Natur, fem allem Leidenschaftlichen, Stürmischen ist
A. N,Majkov(i82i — 1895). ^^ hatte die Rechte studiert, beschäftigte
sich aber viel mehr mit Poesie und Malerei. In Italien hatte er sich für die
Antike begeistert; der durch sie gewonnenen Richtung blieb er in allem
treu. Aus dieser ersten Zeit stammen seine besten Schöpfungen: 1841
seine erste Sammlung Gedichte — 1842 seine „Römischen Skizzen" — 1841
auch das lyrische Drama „Drei Tode". Seine „Römischen Skizzen" mit
ihren Bildern aus der Vergangenheit, denen die moderne Zeit gegenüber-
gestellt ist, zeigen die Idealauffassung des Künstlers. Ebenso tritt sie in den
„DreiToden" entgegen, d, h. Gesprächen, welche die durch sinnlose Tyrannen-
wut zum Tode verurteilten Seneka, Luzian und Lukan führen. Der Gegensatz
zwischen dem untergehenden Heidentum und der neuen Welt des Christen-
tums ist kühn herausgearbeitet. Das lyrische Drama hat seine Fort-
setzung im „Tod Luzians" und findet seine Krönung in „Zwei Welten".
Der Epiker Majkov hat wirkliche Perlen der Poesie geschaffen in „Sa-
vonarola", „Der Dom von Clermont", „Die Beichte der Königin", „Die
Fürstin". — Alle Dichtungen haben eine klangvolle, weiche, sich in Ohr und
Herz einschmeichelnde Sprache ; sie haben auch die mssische Melancholie,
aber nicht die herbe, sondern die sich in stillem Frieden auflösende.
Ein anderer Dichter, dem es gleichfalls das Altertum angetan hat,
diesem das griechische, ist der Halbgrieche Schtscherbin — seine
Mutter war Griechin, sein Vater Kleinrasse. Es war also Blutsdrang, der
ihn unwiderstehlich nach Griechenland zog. Am besten sind seine Verse
„Griechische Dichtungen" (1849). Auch sonst nahm er den Stoff" zu
seinen Dichtungen aus dem altgriechischen Leben. Er steht Majkov an
Schönheit etwas nach.
Kleiner als Majkov ist auch wohl Fet (sein Vater heißt Schenschin).
Seine Gedichte, schon die ersten, die er 19 Jahre alt veröffentlichte (1840),
I08 Nennzehntes Kapitel
zeigen tiefe SeelenstimmuDg sowie ein lebendiges Siebversenken »in die
Scbönbeiten der Natur. Der Freund der Natur fühlte sieb in der Stadt
niebt wohl, sondern siedelte auf das Land über und scbrieb hier prak-
tisebe Briefe über die Landwirtsehaft , dann aueb über ländliebe Sitten,
über das Verhältnis zwiseben Bauer und Besitzer und äußert sieh hier
unverhohlen zugtmsten der alten, vorreformatoriseben Zustände. Er gab
dies gesammelt unter dem Titel y,Aus dem Dorfe" heraus. In späteren
Jahren, seit 1877, verließ er diese idyllisebe Riebtung und tändelte, sebon
ein Voibote des neu heraufkommenden Dekadententums , in anakreonti-
sehen Weisen, tändelte aueb im Versbau. So zeigt in seinen „ Abendlichen
Feuern" (4 Sammlungen 1882 — 1887) das Gedieht „Schatten der Naebt"
kein Verb, sondern Substantiv reibt sieb an Substantiv. Damit verliert
aber der Wert dieser Dichtungen nicht; sie zeigen hübsche Gedanken
und tiefes Gemüt. Fet hat auch manches vorzüglich übersetzt, z. B.
Goethes „Faust** und „Hermann und Dorothea*'.
/ Ebensowenig verbarg sein vorreformatorisehes Herz Pol onskij. Er
schuf sieb in seinen Gedichten „Abendläuten" (1869) eine eigene Welt,
etwas schwärmerisch, phantastisch, elegisch, reichlich mit philosophischen
Betrachtungen durchsetzt, aber voll schöner, warmer Bilder, voll Emp-
findung. Die Bilder aus dem Kaukasus sind besonders schön. Sehr
hübseh ist auch sein großes Scherzgedicht „Grille-Musikant** (1863). Es
zeigt den lachenden, aber unter Tränen lachenden Dichter. So ist sein
eigenes Leben ^e das der Grille, die den Schmetterling liebt. Der
verrät sie aber und umwirbt die Nachtigall. Die Nachtigall tötet ihn je-
doch bald, und nun begräbt ihn die Grille. (Im Russischen macht sieb
das Bild noch weit wirksamer — die Grille ist das männliche Wesen,,
der Schmetterling das weibliche und die Nachtigall wieder das männliche).
Das ist allegorisch das Herzweh des Dichters, der um das Glück der
Welt wirbt und es nicht finden kann und darüber zugrunde gebt.
Weniger hervorragend sind Polonskijs Erzählungen und Romane.
§ 60 I Es ist dies auch die Zeit der guten Übersetzer. Eigentüm-
lich ist es, wie gern, wie gierig das Publikum sie aufnahm ; man brauchte
Ablenkung von der Trübsal und den Unruhen des Tages.
Gerbel(i827 — 1883), von Abstammung Deutschschweizer, übersetzte
vorzüglich Byron. Dann gab er in den fünfziger Jahren die Werke
Schillers, Goethes, Shakespeares mit Biographien heraus. Seine eigenen
Verse „Echos** (1857) zeigen auch den Dichter.
Weinberg (1830 — 1908) übersetzte und dichtete für verschiedene
Zeitschriften, er gab dann selbst „Das Zeitalter** heraus. Von Shake-
speare bat er neun Stücke übersetzt, femer aus Byron, Shelley, Gutzkow
(„Uriel Aeosta**). Er gab Goethe und Heine heraus (sein humoristisches
Pseudonym war „Heine aus Tambov"). In den achtziger Jahren gründete
er, hauptsächlich für Übersetzungen, die Zeitschrift „Die schöne Literatur**.
Dostojewskij i qq
M. P. Michailov (1826 — 1864) schrie^ Verse, Erzählungen, Kri-
tiken. Er übersetzte aus Tennyson, Longfellow, vor allen aber deutsche
Gedichte: Heine, Lenau. Er gab Heines „Buch der Lieder'' heraus.
Ein viel gelesener Roman von ihm war „Zugvögel", worin er die Sitten
und das Treiben der Schauspieler mit Humor und Satire schildert.
Neunzehntes Kapitel
Dostojewskij
§ 61 I Jn den Rahmen aller dieser Zeitrichtungen pafit nicht Dosto-
jews)rij, nicht etwa, weil er nicht realistisch geschrieben hätte, sondern
weil bei ihm über dem Realismus die Mystik und die Romantik schweben,
weil für ihn die reale Welt sich aus ihrem Elend nur durch die Flucht
in den Himmel der Mystik und der Romantik erlösen kann. Er fallt
auch aus dem Rahmen der andern durch seine überragende Bedeutung
heraus.
Dostojewskijs Werke erklären sich zum grofien Teil aus dem elter-
lichen Hause; sein Vater gehörte zum geistigen Proletariat Rußlands, er
war am städtischen Krankenhaus in Moskau Arzt, der mit der zahlreichen
Familie in zwei Zimmern wohnen mußte.
Fedor Michailowitsch Dostojewskij ^^^ wurde im Jahre 1821
geboren. Die Erziehung des Knaben war religiös. Dieses religiöse Ge-
fühl macht eine bedeutende Eigenart seines poetischen Talents aus. Nach
der Übersiedlung des Vaters aus Moskau nach Petersburg kam der junge
Mann in die Ingenieurschule, wo er viele Bücher las: Goethe, Schiller,
E. T. A. HofFmann und die Franzosen Corneille, Racine, Viktor Hugo,
Balzac, George Sand. Er wurde ein glühender Verehrer Schillers; die
Frucht dieser Verehrung war eine „Maria Stuart", die aber ebenso wie
ein anderes Drama dieser Zeit „Boriss Godunov" nicht erhalten blieb.
In seine späteren Werke hat sich allerdings nur wenig von Schillers
Idealismus und Humanismus hinübergeretiet.
Er trat dann ins Heer, nahm aber schon 1844 seinen Abschied, um
sich der Literatur zu widmen. Anfangs übersetzte er Romane, dann ver-
faßte er selber 1846 den Roman „Arme Leute*', eine Beschreibung
des Beamtenproletariats in Petersburg, das er im elterlichen Hause sehr
genau kennen gelernt hatte. Der Roman entzückte Bjelinskij.
£ane Reihe anderer folgte, alle in den „Vaterländischen Axmalen^'
veröflfentlicht: „Die Wirtin" (1847), „Das schwache Herz", „Die fremde
Frau", „Der eifersüchtige Mann" (1848).
Da wurde er 1849 wegen Teilnahme an den Versammlimgen des
Petraschewskijschen Kreises verhaftet und zum Tode verurteilt. Nachdem
der schon nervenschwache junge Mann die ganze Zeremonie, die einem Er-
schießen voranging, durchgemacht hatte, wurde plötzlich die Begnadigung
HO Zwanzigstes Kapitel
verkündet, und er nach Sibirien verbannt Man kann sich hiemach nicht
wundem, daß er Zeit seines Lebens Epileptiker gewesen ist, was bei der Be-
urteilung seiner Werke außerordentlich in Betracht gezogen werden muö. Die
Erlebnisse in Sibirien zerrütteten seine Nerven weiter. Seine „Memoiren aus
dem Totenhaus" bringen Bilder von dem, was in Omsk seine Mitsträflinge
und er duldeten; es hat ihn dort nur sein tief religiöses Gefühl aufrecht
erhalten. Nach zehn Jahren durfte er nach Petersburg zurückkehren.
Er griff wieder zur Feder und gab nun mit seinem Brader die Zeit-
schrift „Die Zeit" heraus. In ihr wurden gleichzeitig „Die Memoiren
aus dem Totenhaus" (1861 — 1862) und ein anderer Roman „Die Ge-
kränkten und Beleidigten" veröffentlicht. „Die Gekränkten und Be-
leidigten" sind der Analyse eines niedergedrückten und gestörten Ge-
müts gewidmet. Dostojewskij konnte sich tief in die Leiden xmd in die
Gedankenwelt eines solchen kranken Menschen hineindenken, war er doch
selber Psychopath.
Die Zeitschrift wurde jedoch bald wegen eines Aufsatzes über die
polnische Frage verboten. Der kranke Dichter litt nun unter Geldmangel ;
auch seine schwindsüchtige Frau, die er aus Sibirien mitgebracht hatte,
die Witwe eines Gefangenenaufsehers, kostete viel. So ging er denn teils
zur Erholung, teils um den Gläubigem zu entfliehen, ins Ausland, nach
Paris, nach London, wo er mit Herzen zusammentraf, nach Genf.
Er kehrt zurück, und neues Unglück häuft sich auf ihn. Die Frau
stirbt; sein Bruder, mit dem er eine zweite Zeitschrift „Die Epoche"
herausgab, stirbt auch; die Zeitschrift geht ein. Er flieht wieder, geht
nach Wiesbaden imd — verspielt sein letztes, geborgtes Geld. Er eilt
wieder nach Rußland. Dieser Zeit gehören die Romane „Der Spieler",
die „Memoiren aus dem Keller", vor allen aber „Verbrechen tmd Strafe"
(1866), sein bestes, allerdings unvollendetes W^erk, an.
Der Gedanke zu „Verbrechen und Strafe" war wohl schon in
Sibirien entstanden. Der Held des Romans Rasskolnikov will seine Mutter
und Schwester unterstützen;, er tötet deswegen eine alte Wucherin. ' Die
Hauptaufgabe der Erzähltmg ist die Analyse der seelischen Leiden des
Verbrechers vor dem Morde und nach Vollendung des Mordes. Obwohl
ihm das Werk großen Erfolg, auch pekuniären, brachte, besserte sich seine
Lage nur wenig, und er war gezwungen, sehr viel zu schreiben, zu viel.
Bemerkenswert aus der Folgezeit sind die Romane „Der Idiot
(1868), „Die Dämonen" (1871), „Das Tagebuch eines Schriftstellers
(1876).
In den „Dämonen" tritt uns der Politiker Dostojewskij entgegen.
Der Revolutionär von 1849 batte sich inzwischen zum extremen Slawo-
philen entwickelt. Er bekämpft in „den Dämonen" mit schärfsten Waffen,
mit leidenschaftlichem Hasse — was Dostojewskij tut, tut er immer
ganz — die unheilvollen Wortführer (Dämonen) des Nihilismus. Das
Leo Tolstoj III
Buch hat ihm unter der revolutionären, selbst unter den Liberaldenkenden
bittere Feindschaft zugezogen ; noch heute veigeben es ihm manche Kreise
nicht. Dostojewski) war bei der aufrichtigsten Frömmigkeit ein Fanatiker,
der alles Heil nur in der von ihm als richtig erkannten Sache erblickte,
der, weil er Rußland liebte, die andern Völker haßte, der fest daran glaubte,
daß die westliche Welt nur durch das russische Volk gesunden könne.
Großes, sehr großes Aufsehen erregte dann wieder neben der Rede,
die er 1880 in Moskau bei Enthüllung des Denkmals für Puschkin (er feierte
den Volksdichter Puschkin) hielt, der Roman „Die Brüder Karamasov".
Die Karamasovs sind eine reiche Gutsbesitzerfamilie, allesamt Verbrecher;
der Vater ist ein Betrüger und moralischer Schmutzfink; die drei Söhne
werden seine Mörder, nur geht der, welcher den Mord wirklich vollzieht,
frei aus, während der am wenigsten Beteiligte vom Gericht verurteilt wird.
Das ist der äußere Rahmen des sehr großen Romans. Den wirklichen
Inhalt bilden religiöse Fragen, Fragen nach Gott und Unsterblichkeit,
Gedanken, die zeigen sollen, wie weit wir uns vom wahren Glauben ent-
fernt haben. Das exemplifiziert der Dichter am besten dadurch, daß er
Christus noch einmal zur Erde niederkommen und ihn vor den Groß-
inquisitor zitieren läßt, und der Großinquisitor verurteilt ihn wegen seiner
Irrlehren zum Verbrennungstod. Gemeint hat Dostowjeskij mit dem spani-
schen Großinquisitor den Vertreter des Heiligsten Synod seiner Kirche.
Er dachte noch an eine Fortsetzimg des Romans, starb aber darüber, 1881.
Alle Werke Dostojewskijs stellen nur die traurigen Seiten des Lebens
dar. Ihr Gegenstand ist die große Stadt mit ihren engen Straßen und
schmutzigen Kellern und Winkeln. Er kennt ausgezeichnet das Spelunken-
leben, das Leben der Sträflinge und der vom Schicksal Gezeichneten.
Seine Hauptstärke liegt in der Seelenanalyse, in der Verlegung der seeli-
schen Leiden der Menschen. Er wiU Mitgefühl für den Kranken,
Schwachen, Hilfsbedürftigen, Verzweifelten, mag er noch so niedrig, so
verkommen sein. ,,Der vergessenste letzte Mensch ist auch ein Mensch
und nennt sich dein Bruder", sagt er in den „Beleidigten und Gekränkten",
wohl nach Viktor Hugos „Les misdrables". Ebenso will er uns aber
zurückstoßen von dem krassen Materialismus und Egoismus, wie er sich
in den Karamasovs offenbart.
Zwanzigstes Kapitel
Leo Tolstoj
§ 62 I Auch Tolstoj ^®^) hebt sich weit heraus aus seiner Umgebung.
In seiner literarischen Tätigkeit liegt eine gewisse Ähnlichkeit mit der
Dostojewskijs: beide haben einen lebendigen und tiefen Glauben an das
Volk, der letztere denkt an das russische Volk, Tolstoj mehr an alle
Arbeitenden auf dem ganzen Erdball.
112 Zwanzigstes Kapitel
Graf Leo Nikolajewitsch Tolstoj wurde im Jahre 182S
auf dem Gute Jassnaja Poljana, im Gouv. Tula, geboren. Er verlor früh die
Eltern und wurde durch ferne Verwandte erzogen. Er bezog die Uni-
versität Kasan und studierte orientalische Sprachen und die Rechtswissen-
schaft. Im Jahre 185 1 trat er als Fähnrich in eine Artilleriebrigade^
die am Tjerek stand. Unter dem Einflufi der großartigen Natur des
Kaukasus und unter den Eindrücken des kriegerischen Lebens entstand
hier eine Anzahl hübscher Erzählungen : ,, Der Überfall '% „Die Kasaken^',
auch seine „KÜndheif* und sein ,, Knabenalter" (185 1). Die beiden
letzteren sind aber nicht autobiographisch, sondern als Wahrheit und
Dichtung anzusehen. Autobiographie findet man viel eher in andern Er-
zählungen, in den „Kasaken" und den späteren „Luzem'' und „Krieg
und Frieden 'S In den Jugendwerken liegt schon im Keim die große
Beülhigung des Dichters für die Beschreibung von Natur und Mensch
und seine spätere Weltauffassung. Im „ Überfall '^ wie in den „Kasaken^*
ist die erhabene, mächtige Bergesnatur des Kaukasus, sind die Sitten
und Gewohnheiten seiner Bewohner höchst anschaulich und lebenswahr
gezeichnet, und wie in den „Kasaken^^ ein junger, vornehmer Moskauer,
angewidert von dem nutzlosen und verdorbenen Leben seiner Umgebung
und von dem eigenen, zu den einfachen Naturkindem flieht, tun hier
körperlich und moralisch zu gesunden, so ist im „Überfall" der leitende
Gedanke, daß der einfache, tmgekünstelte Naturmensch hoch über der
Verbildung und der Verfeinerung steht
Im Anfang des Krimkrieges ging Tolstoj als Offizier zur Donau-
armee und nahm an der Belagenmg von Ssewastopol teil; von seinen
„Kriegserzählungen" tragen drei den Titel „Ssewastopol^'. Die Stärke
dieser Erzählungen beruht, ebenso wie die der vorhergehenden, nicht
auf dramatischen Effekten; es tritt uns das gewöhnlichste , alltäglichste
Leben entgegen, aber dies ist wahrheitsgetreu und lebendig gezeichnet,
immer imter dem Gesichtspunkt, die moralische Kraft des ein&chen
russischen Soldaten, des russischen Volkes hervorleuchten zu lassen.
Nach Beendigung des Krimkrieges wünschte und erhoffte jeder Ge-
bildete in Rußland eine Reform der unerträglich gewordenen Zustände»
und auch Tolstoj war von dieser Hofihung beseelt und suchte persönlich
durch Vorträge, durch Zeitungsartikel ihre Verwirklichung herbeizuführen ;
er glaubte also zu dieser Zeit noch an eine Allgemeinbesserung, noch
an eine Gestmdung auch der sog. besseren Kreise. Sehr bald setzte aber
die andere Auffassung ein, jener schärfste Skeptizismus, der vor nichts
haltmacht.
Diese Weltauffassung tritt schon sehr stark hervor in den beiden Er-
zählungen „Aus den Kaukasusmemoiren des Fürsten Njechludov*' und
in „Luzem^*, Früchten seiner Reise ins Ausland. Er war, nach er-
haltenem Abschied aus der Armee, 1857 in dem Gedanken fortgereist.
■jf
Leo Toktoj nj
Erholung aus den trostlosen Verhältnissen der Heimat, die nach dem
Krimkrieg um so stärker auf jedermann drückten, in der Kultur und
dem Fortschritt des Westens zu suchen. Aber die Reise hatte den ent-
gegengesetzten Erfolg; er hatte dort neben dem äußeren Glanz zu viel
Unwissenheit, Unsittlichkeit , Barbarei gewahrt. So entwickelte sich sein
Skeptizismus. Beide Erzählungen sollen die Dürftigkeit aller Zivilisation
zeigen , sie predigen das Zurück zur Natur , zum einfachen Menschen,
zum Volke, Der Fürst Njechludov sucht wie Tolstoj Trost und Heilung
seiner Seele im Wissen und in der Kultur des Westens — vergeblich — -,
€r findet sie erst bei den einfachen Elasaken und in ihrer großartigen
Natur. Und in „Luzem" beweist Tolstoj, daß die dortige Zivilisation
nicht die richtige ist. Sehr schön ist auch hier die Beschreibung der Alpen.
Wenn im Anfang der sechziger Jahre für das ganze gebildete Ruß-
land Volkserziehung eines der beliebtesten Losungsworte wurde, bei dem
sich freilich die meisten recht wenig dachten, so wurde es für Tolstoj
die augenblickliche Lebensaufgabe. Er reiste wiederum ins Ausland,
studierte dort gründlich das Erziehungswesen und errichtete nach seiner
Rückkehr in Jassnaja Poljana selbst eine Schule. Er gab auch ein päda-
gogisches Journal „Jassnaja Poljana" heraus, das bei Pädagogen wie in
der Gesellschaft Aufsehen hervorrief. Tolstoj wiU eine „nützliche" Wissen-
schaft : keine alten Sprachen, vor allem Charakterbildung. Die sog. Auf-
klänmgslektüre , die damals sehr beliebt war, verwirft er; für den ein-
fachen Mann genügt Lesen, Schreiben, Rechnen.
Durch seine Heirat 1862 mit der Tochter eines Moskauer Arztes
kommt für ihn die Zeit der Ruhe, der inneren Sammlung. Er verläßt
Jassnaja Poljana selten tmd dann nur auf kurze Zeit. Er studiert Ge-
schichte und Sozialwissenschaften, letztere besonders in praktischer An-
wendung. Er wird nach und nach Bauer mit seinen Bauern, Hand-
werker mit seinen Handwerkern ; er verzichtet auf alle Äußerlichkeiten,
will jenen ganz gleich sein.
In der Geschichte interessierten ihn die Napoleonischen Kriege. So
entstand seine große Erzählung „Krieg und Frieden", erschienen im
„Russischen Boten" von 1865 — 1869, künstlerisch sein bestes Werk.
„Krieg und Frieden" bietet nicht allein ein wahrheitsgetreues und
schönes Bild des „vaterländischen Krieges" (18 12), — der Brand Moskaus,
die Schlacht bei Borodino sind meisterhaft beschrieben, Napoleon, Barclay,
Kutusov meisterhaft charakterisiert — , sondern malt auch vorzüglich das
gesellschafdiche imd private Leben der vornehmen Gesellschaft im Anfang
des 19. Jahrhunderts. Interessant, wenn schon etwas seltsam, ist die
Philosophie des Romans. Tolstoj ist, kurz ausgedrückt, Fatalist; die
Vorherbestimmung ist sein Glaubenssatz: Für Napoleon und seine Heere
war es imabänderÜche Schicksalsbestimmung, in Rußland einzufallen, um
dort unterzugehen. Konsequent ist er freüich in dieser Philosophie nicht.
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 8
\IA Zwanzigstes Kapitel
In den siebziger Jahren erschien ein anderer großer Roman „Anna
Kaijenina". Er ist nur die weitere Ausarbeitung des schon 1859 g^"
schriebenen „Häuslichen Glückes". Die Frau findet durch Verschulden
des Mannes keine Befriedigung in ihrer Ehe ; sie wird durch einen andern
angezogen, aber ihre Moral trägt den Sieg davon. So das „Häusliche
Glück". In „Anna Karjenina" (1874 — 1876) gehen beide Ehegatten
mehr durch gegenseitige Erkältung als durch ein besonderes Verschulden
auseinander. Hauptaufgabe des Romans sind aber auch hier wieder
die Lebensweise und die Lebensanschauungen der vornehmen Gesell-
schafty diesmal im Vergleich zu der Armut des Volks : die sozialpolitische
Seite tritt also in den Vordergrund. Des Dichters Züge trägt im Roman
eine der Hauptgestalten, Konstantin Ljowin, wie in „ Krieg und Frieden "
Andrej und Pierre. Konstantin vertritt nicht nur theoretisch die Tolstoj-
sche Philosophie, sondern sucht auch praktische Bande mit dem Volk;
er arbeitet wie dieses auf dem Felde und sieht in dieser Arbeit die einzig
zweckmäßige des Menschen; er will auch jeden Luxus von sich werfen,
weil das Volk keinen Luxus kennt; .er ist religiös wie dieses. Tolstoj
kämpft hier scharf gegen den Unglauben, gegen den Atheismus. „Der
normale Mensch kann nicht ohne Religion leben."
Tolstojs dritter großer Roman ist „Die Auferstehung" (1899). Auch er
ist ein Meisterwerk der Milieuschilderung, der Kleinmalerei der äußeren Welt
wie des inneren Seelenlebens. Vor allem kommt es dem Dichter aber auf
die moralische Tendenz an. Der Held ist Graf Njechludov — wir
kennen ihn schon aus den „Kaukasusmemoiren" — , der für das büßt
(aufersteht), was er als Sünde erkannt hat; die übrige vornehme Welt
geht freilich daran mit Achselzucken vorüber: er hat ein Mädchen aus
dem Volke verführt und sühnt nun die Schuld, indem er in die Lebens-
sphäre des Mädchens, das selber den Fehltritt gaf nicht so schlimm an-
sieht, ihm auch keineswegs treu ergeben ist, hinabsteigt, sich ihr überall
anschließt und ihr selbst nach Sibirien folgt, wohin sie unter dem falschen
Verdacht eines Diebstahls verurteilt ist.
Tolstoj schrieb außer diesen großen Romanen eine ganze Reihe
kleinerer und größerer Erzählungen; jetzt sind in seinem Nachlaß noch
neue gefunden. Sie alle zeichnen sich durch realistische Einfachheit aus
und sind Geist vom Geiste dieser größeren Werke. Dahin gehört vor
allem „Der Tod des Iwan Iljitsch" (1885), dann die kraftvolle, leben-
sprühende Novelle „Der Teufel" imd die gedankentiefe Priestergeschichte
„Pater Sergius".
Der Roman ist Tolstojs hervorragendstes Arbeitsfeld. Großartig in
der Milieuzeichnung wie in der Tendenz ist aber auch eine Apzahl
Dramen. Allen voran steht auch die bei uns sehr bekannte Tragödie
„Die Macht der Finsternis" (1887), ein düsteres Gemälde aus dem
Volksleben mit Ehebruch, Gatten- und Kindesmord. Auf den ersten.
Leo Tolstoj 115
Blick scheint es, als ob er seiner Anschauung vom sittlichen Wert des
einfachen Mannes untreu geworden wäre, denn au dies Entsetzliche spielt
sich auf dem Lande, im niederen Volk ab — aber worauf führt er es
zurück? Auf die Macht der Finsternis, d. h. die Unwissenheit, den Mangel
an Herz- und Kopfbildung, und das ist die Schuld der Vornehmen, die
das Volk in dieser Not verkommen lassen.
Etwas später ist seine lustige Satire auf die Gesellschaft „Die Früchte
der Aufklänmg" (18 91) entstanden. Hier sind ganz köstliche Gesell-
schafts- und Volkstypen. Aber das Stück hinterläßt kaum einen nach-
haltigen Eindruck. Desto tiefer wirkt das erst aus dem Nachlaß ge-
wonnene Drama „Der lebende Leichnam". Der „lebende Leichnam"
ist ein Mensch, nicht böse, aber ein Nichtstuer, ein Trinker, der ein-
sieht, daß seine Frau glücklicher mit einem andern leben kann. Da
das russische Gesetz eine Scheidung verbietet, verbreitet er das Gerücht,
daß er sich tötete, und so heiraten die beiden andern. Aber durch üble
Genossen bestimmt, tritt er plötzlich wieder auf, und die beiden Un-
schuldigen sollen nun nach russischem Gesetz nach Sibirien verschickt,
ihre Ehe soll für ungültig erklärt werden. Da erschießt er sich. Die
Tendenz des Stückes liegt in dem Kampf gegen die orthodoxe Kirche.
Ein anderes Drama, gleichfalls erst aus dem Nachlaß ans Licht ge-
kommen, ist „Das Licht leuchtet in der Finsternis", eine Kopie seines
Familienlebens mit dem Arbeiter und Handwerker Tolstoj, der bei den
eigenen Familienmitgliedern recht wenig Verständnis findet. Ebenfalls im
Nachlaß befindet sich noch ein Drama „Petrus der Zöllner".
Was hat nun Tolstoj in Deutschland so bekannt gemacht? Weder
seine Romane noch seine Dramen, und doch liegt in ihnen, besonders
in den ersteren, seine ganze Stärke. Viel bekannter ist er bei uns durch
seine sozial-ethischen Schriften xmd Erzählungen, durch seine „Beichte"
(1879 verfaßt, 1882 erschienen), seinen „Glauben", durch „Was ist das
Glück?", durch ,,Die Kreuzersonate", durch „Wandelt im Licht!" usw.
usw. Er bringt in ihnen seine Weltanschauung, wie er sie durch theo-
logische Studien, durch die Auslegung der Bibel, des Evangeliums ge-
wonnen hat. Es sind das interessante Gedanken über die Moral des
Lebens, über die Bestimmimg des Menschen, über die Pflichten unsem
Nächsten gegenüber, über die Aussöhnung unseres inneren Zwiespalts
zwischen Wirklichkeit und Ideal mit Hilfe der christlichen Religion.
Selbstverständlich liegt in allen diesen Gedanken, besonders in ihrer Aus-
führung, in der Art, wie er spricht, manches Packende, Überzeugende,
mancher Lichtstrahl, auch sind sie fiir Rußland mit seiner verknöcherten
Kirche originell, fiir uns aber doch nicht. Daß fiir sie bei uns
solch Tamtam geschlagen wird, ist eigentlich bedauerlich, setzt es doch
die Person des Dichters zurück und das - ist Tolstoj vorwiegend ; der
Denker steht erst in zweiter Linie. Auch der Kult, den man bei uns
8*
Il5 Eioundzwanzigstes Kapitel
mit seinem Sichentäufiern von allem irdischen Gut, mit seinem Leben als
Bauer und H^d^erker treibt, Jst übertrieben. Es muß offen ausgesprochen
werden, daß er in mancher Beziehung' — man denke auch an sein Ver-
werfen Shakespeares, weil dieser unsittlich und unreligiös sei — ein
Sonderling war und daß er durch &ein sonderbares Treiben niemandem
genützt, auch zu niemand in nähere Beziehungen gekommen ist. Man
braucht gar nicht von seiner eigenen Familie zu sprechen. Seine Bauern
sind gerade die ersten gewesen , die in den revolutionären Unruhen die
Hand an seine Besitzungen gelegt und alles zerstört tmd geraubt haben.
Das alles läßt aber seinen Dichtemihm unangetastet. Ebenso bleibt
sein Charakter. Er hat es in allem ehrlich gemeint tmd ist für seine
Überzeugung mit einem für Rußland ungeheuren Wagmut eingetreten.
Es ist für einen Russen, selbst für ihn nicht so einfach gewesen, als er
im Jahre 189 1 vom Heiligen Synod exkommuniziert wurde. Er ist in der
Exkommunikation gestorben, 1910. Der Haß der Kirche hat noch über
das Grab hinaus gedauert; sie hatte den ältesten Sohn wegen der Heraus-
gabe seiner letzten satirischen Broschüre „Die Wiederherstellung der
Hölle" angeklagt
Tolstojs letzte Tage, die Flucht aus dem Hause und von der
Familie, die Streitigkeiten, die sich in der Familie untereinander tmd dann
zwischen dieser und seinem Jünger tmd „Verführer" Wladimir Tschertkov,
dem er die Herausgabe seiner Werke anvertraut hatte, entwickelten, die
daraus entspringenden langjährigen Prozesse werfen tmangenehme Flecken
auf das Gesamtbild. Im Jahre 19 15 war endlich alles so weit durch das
Gericht geregelt, daß sein gesamter handschriftlicher sehr großer Nach-
laß dem Rumjanzov- Musetun als separates Tolstoj- Museum, tmter Ober-
aufsicht seiner Frau, einverleibt war. Es sollen danmter sehr wertvolle
literarische Korrespondenzen z. B. mit Gontscharov, Njekrassov, Grigoro-
witsch sein. Die Schriften über Tolstoj gehen ins Maßlose.
Einundzwanzigstes Kapitel
Der Pessimismus der letzten Dezennien des
19. Jahrhunderts
§ 63 I Die Poesie der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre hatte ganz
im Zeichen der realen Tagesfragen gestanden. Die Lage eines großen
Teils der Bevölkertmg hatte nach Erlösung aus Unmündigkeit, Unter-
drückung, Willkür geschrien, aus materieller, geistiger, moralischer Knech-
tung. Der Bauer war am stärksten von dieser Last niedergedrückt wor-
den, sie hatte auch den ganzen Mittelstand hart genug gedrückt.
Drei Jahrzehnte hatte sich für diese Entrechteten die Literatur ein-
gesetzt — allzuviel Neues ließ sich da über dies Thema nicht mehr
Der Pessimismus der letzten DezeoDien des 19. Jahrhunderts jj^
bringen; es verbot sich noch aus andern Gründen. In den fünf-
ziger , sechziger, siebziger Jahren hatte diä Regierung dann und wann
selber freie Allüren gehabt und daher manches freie Wort gestattet, und
zu den Zeiten, wo sie selber solche Allüren nicht gern zeigte, waren die
äußeren Verhältnisse, die verlorenen bzw. nutzlosen Kriege, stärker als
sie gewesen und hatten sie zum laisser aller verurteilt. Hier und da
raffte sie sich auch mal auf und scMug dann mit um so kräftigerer Tatze
drein. Um 1880. herum änderte sich dieses Bild. Die Reform war
eigentlich ins Gegenteil umgeschlagen, sie hatte nicht etwa blofi den
BüchernihiUsmus erzeugt, sondern den der Tat. Wjera Ssassulitsch er-
öffnete den Reigen der Attentate, denen viele hoch- \m^ höchststehende
Personen zum Opfer fielen. Die Anschläge auf das Leben des Kaisers
kamen, der Versuch den Hofzug in Moskau in die Luft zu sprengen,
die Explosion unter dem Speisesaal des Winterpalais, schließlich das
Dynamitattentat, das den Tod Alexanders IL am 13. März 1881 zur
Folge hatte. Alexander in. bestieg den Thron, ein starker, ^energischer,
zielbewußter Mann. Außerdem hatte sich alles so zugespitzt, daß . es nur
noch ein Entweder — Oder gab, entweder er oder die Nihilisten. Bei
Alexanders Natur war ein Schwanken ausgeschlossen. So trat denn auch
in der Literatur eine Wendung ein: Das alte Thema war nicht mehr
„ zeitgemäß '^
Dichtung ist vorwiegend Zeitdichtung — was konnten nirn diese
Zeiten anderes ergeben als den Pessimismus? Wir bekommen da wieder
die Dichter, die an sich, an den andern, an allem verzweifeln, die sehen,
daß ihre Nerven zu schwach zu einem Kampf sind, die Überflüssigen,
die Hamletnaturen, die Leute, die von einem Ufer abstoßen und am an-
dern nicht ankonmieu; Und doch ist ein Unterschied zwischen diesem
Pessimismus und dem Lermontovs. Es leuchtet bei vielen, nicht bei allen,
eine Hoffnung auf bessere Zeiten, auf einen neuen Sonnentag hindurch.
Der äußeren Form nach tritt auch eine Ändenmg ein: Die dick-
leibigen Romane hören auf; an ihre Stelle kommen die kleinen Er-
zählungen, die Novellen, die Skizzen, und damit zugleich eine kürzere,
präzisere, frischere, prägnantere Sprache. — Von den nun Aufgezählten
reichen manche in die Gegenwart hinein; ihre Bedeutung liegt jedoch
z. B. bei Korolenko und Potapjenko in diesen Jahren.
§ 64 I Hamletnaturen, mit etwas modernem Einschlag, sind No-
wodworskijs (Pseud. Ossipowitsch) (1853 — 1882) Menschen. Sie haben
von sich eine gewaltige Meinung, sie erheben sich selber auf ein sehr
hohes Piedestal und klagen, wenn sie dann herunterstürzen, nicht sich an,
sondern die Familie, die Gesellschaft, das Leben. Sie halten sich für
Helden, flir Verfechter hoher Ideen — im Grunde sind diese hohen
Ideen aber nur recht epikuräische Gastmähler, hübsche Operetten mit
der Diva dazu. Nowodworskij wählt seine Typen gern aus dem ver-
j 1 3 Eanandzwanzigstes Kapitel
armten Kleinadel. Er macht seine Gestalten genießbarer durch den dem
Kleinrussen nun einmal eigentümlichen Humor, mit dem er sie umgießt.
Seine besten Werke sind „Weder Pfau noch Krähe", „Die Karriere",
„Der Schwärmer".
Keinen Humor, nur traurige, schreckliche Bilder, Blut- und Wahn-
sinnsszenen hat Garschin (1855 — 1888) in seinen Dichtungen wie in
seinem — Leben. Er war ein gebildeter, talentvoller, äußerst sympathischer
Mensch, aber von Jugend auf leidend, krankhaft nervös, im Kriege 1877,
in den er als Freiwilliger gegangen war, verwundet, von innerer Angst
von Ort zu Ort gejagt. . Kurze Zeit beruhigte ihn dann seine Ehe mit
einer Ärztin, aber eben nur kurze Zeit; ein Sturz aus dem Fenster des
vierten Stockwerks seiner Wohnung setzte seiner Unruhe ein Ende.
Gleich die erste, 1877 in den „Vaterländischen Annalen" veröffent-
lichte Erzählung „Vier Tage*,' ist ein Bild schrecklichen menschlichen
Leidens, wie es leicht in dem Kriege, an dem er teilgenommen, vor-
gekommen sein kann. Vier Tage liegt der Soldat an einsamer Stelle auf
dem Schlachtfelde mit zerschossenem Bein, so daß er sich nicht fort-
bewegen kaim, ohne Nahrung, ohne Wasser in der heißesten Sonnenglut
und neben ihm der sich in der Sonne zersetzende, furchtbaren Pestgestank
verbreitende Leichnam eines Türken. Alle Gestalten seiner Werke, selbst
die aus ruhiger Zeit wie „Die Erinnerungen des Gemeinen Iwanov"
(1882) — gleichfalls, Episoden aus dem russisch-türkischen ELriege —
sind Hamletfiguren, die weder physische noch moralische Kraft haben,
die sich in allem ihrem Tun die Fragen vorlegen: wozu? wofür? und
dabei zur Verneinung alles Glücks, alles Lebens kommen. Das endet
dann schließlich, wie bei ihm, im Wahnsinn. Den Wahnsinn zeigt uns
„Die rote Blume" (1883); ^i^^ ^^^te Mohnblume erscheint dem Gestörten
als die Inkarnation alles Bösen, er will die Menschheit davon erlösen,
er reißt sie aus und stirbt infolge der Aufregung.
Dieselben Gestalten, dieselbe Lebensauffassung haben seine Erzäh-
lungen „Der Feigling", „Die Begegnung", „Die Nacht", „Die Bären",
„Der stolze Aggej" usw. So niederdrückend, so abstoßend lins oft
Menschen wie Situationen erscheinen, der Dichter läßt uns dabei tief in
sein eigenes Herz sehen, und das zeigt warmes, inniges Mitgefühl für
die Leiden seiner Menschen. Dazu kommt neben dem großartigen
Realismus der Schilderung zugleich seine außerordentliche dichterische
Phantasie.
Wie Garschin führt uns in den Krieg und auf das Schlachtfeld
Schtscheglov. Auch er denkt nicht an das ehren- und ruhmvolle
Schlachtfeld, an den lorbeerbekränzten Sieger, sondern an die Verwun-
deten, Verstümmelten, Siechen, an die, welche ruhmlos, ungekannt im
schmutzigen Hospital sterben. Seine Erzählungen „Das erste Treffen"
(1882), „Der Leutnant Posspjelov", „Der Held ohne Erfolg" wollen nicht
Der Pessimismus der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts II9
durch Handlung interessieren, sondern durch die Wahrheit und Lebendig-
keit der Szenen und Bilder. Im ,, Ersten Treffen" geht weiter nichts
Tor sich als daß der eben erst zum Fähnrich kreierte Jüngling sofort
vom Regiment aus in die Schlacht geschickt wird und nun Rotte auf
Rotte, Kompagnie auf Kompagnie vorgehen und fallen sieht.
Schtscheglov hat auch Bilder aus dem Friedensleben der Soldaten,
gleichfalls nur düstere, finstere. Im „Gordischen Knoten" liebt der Ai"-
tiUetiehauptmann ein einfaches Mädchen, er will es gern heiraten, möchte
es aber damit keineswegs seiner Verwandtschaft entfremden. Er gibt sich
alle Mühe, gut Freund mit jenen zu sein, mit einem Lakai, einem Por-
tier, einer Köchin ; aber nur Mißtrauen, Geringschätzung, Hohn begegnen
ihm, und das Mädchen wird ihm durch sie auch abwendig gemacht.«
Er erschießt sich. Hier und da wird das Widerwärtige, Traurige der
Situationen und der Menschen durch glücklichen Humor gemildert.' —
Wo Schtscheglov sich der Zeichnung anderer Gesellschaftsstände zuwendet,
versagt er.
Ähnliche trübe Bilder, das Leben der Kranken und Sterbenden, an
trostlosester Stätte, im Hospital, in den möblierten Zimmern, im schmutzigen
Wirtshaus zeichnet Baranzewitsch. An ein menschHches Glück glaubt
er nicht. So klingen seine ,, Zersprungenen Saiten" (1878) aus, so „Der
' Fremdling" (1882), „Die Sklavin" (1887), „Krankes Blut" (1900).
Was die trüben Bilder erträglich macht, ist der künstlerische Aufbau und
auch bei ihm dann und wann durchleuchtender Humor. Hübsch weiß
er fiir Kinder zu schreiben.
Andere Schriftsteller kleiden ihren Pessimismus mehr in die Form
des Hohns, der Satire. . Jassinskijs (Pseudonym Maxim Bjelinskij)
Helden sind die kleinen Gecken aus den Südprovinzen des Reichs. Sie
betrachten alles Leben als schal, eitel, nichtig, bis sie ein gutes Beamten-
pöstchen mit behaglichem Unterkommen erwischt haben. Man sieht Jas-
sinskijs Werken, unter deren großen Zahl „Eine Petersburger Erzählung"
und „Die Stadt der Toten" (1885) die besten sind, an, daß sie weniger
von künstlerischem Streben eingegeben sind, als daß sie vor allem den
Leser amüsieren wollen und dazu auch das probate Mittel der Erotik
keineswegs verschmähen.
Mit ähnlichem Spott stellt Albov seine Menschen hin. In seinem
ersten Roman „Der Tag der Schlußabrechnung" (1879) ist der Held
von größter Bewunderung fiir sich e'rfiiUt, erhaben über aJles und jeden,
bis zum ersten — Mißerfolg. Der läßt ihn vollkommen zusai^menknicken ;
Tage lang liegt er träumend auf dem Sofa, hat Halluzinationen, will sich
töten. Der Held eines andern Romans „Wie Holz verbrannte" sieht noch
mehr nach Hamlet aus. Er hat das Leben trotz seiner Nichtigkeit reich-
lich genossen; jetzt will er sich verheiraten und fahrt zur Braut. Unter-
wegs durchgeht er jedoch noch einmal seine Vergangenheit imd — erschießt
I20 Einandzwanzigstes Kapitel
sich. In ungefähr derselben Richtung, immer mit einer tüchtigen Dosis
Humor, laufen alle seine Romane der achtziger Jahre. Nachdem hat er
sich ausgeschwiegen.
Veranschaulichen uns diese . Schriftsteller ihren Pessimismus , ihren
Skeptizismus mehr durch einzelne Personen, durch Einzelumstände, so
stellen andere ganze Gesellschafbkreise , die ganze gebildete Welt als
morsch und verfault hin. So arbeitet z. B, der Vielschreiber Fürst G o -
lizyn (Pseudonym Murawlin). Die Verderbnis der höheren Petersburger
Gesellschaft, der Schwachsinn der verschiedensten Grafen und Fürsten ist
sein Lieblingsthema, mit starker Betonung der guten Seiten des Prole-
tariats. Seine besten Werke sind wohl „Arme und Elegante" (1884)
und „Der Tenor" (1885). Die neunziger Jahre trieben ihn, nachdem er
sich stark der Politik zugewandt hatte, immer mehr ins nationalistische
Fahrwasser. Das färbt sehr in seinen Romanen „Die Babylonier" (1901),
„Aus unruhigen Tagen" (1902) ab. Hübsch sind seine Reiseskizzen
„Am blauen Meer".
Ebenso arbeitet, mit überlegenem Spott und bitterer Satire, Matsch-
tjet. Schon seine Einteilung des ganzen Menschengeschlechts in zwei
Klassen, in die der Wölfe und Schafe oder in die der Taugenichtse und
Ehrlichen (lies Dummköpfe) charakterisiert ihn und seine Schreibweise.
Seine ersten Werke, Skizzen aus dem sibirischen Leben, waren objektiver
gehalten tmd zogen durch diese Objektivität, durch ihre Anschaulichkeit,
ihren gesunden Realismus außerordentlich an. Nicht weniger taten dies
aber dann wegen ihrer subjektiven Bissigkeit und wegen ihrer Verfechtung
der Wolf- und Schaflheorie seine späteren „Aus unlängst vergangener
Zeit" (1886), „Schwarzer Undank", „Ein neues Mittel" (189 1).
Der bedeutendste unter den Pessimisten, der sogar höher steht als
Garschin, ist Tschechov (1860 — 1904]. Tschechov war ursprünglich
Mecfiziner , wandte sich aber bald der Schriftstellerei zu ; sein Studium
färbt in seinen Erzählungen ab. Er ist sehr stark im Humor und in der
Satire, ein Meister in der anekdotischen Erzählung. Seine kleinen Skizzen
„Nicht bei Laune", „Eine Erkundigung", „Der Tod des Beamten", „Bei
der. Frau Adelsmarschall", vor allen sein „Kunstwerk" sind Perien köst-
lichen Humors und geistreicher Plauderei. „Das Kunstwerk" ist ein
Bronzdeuchter, den der dankbare Trödlerssohn dem behandelnden Arzt
als Geschenk bringt, den dieser aber^ weil die das Piedestal bildenden
Frauengestalten so sehr kokett xmd' so sehr nackt sind, an einen
Freimd abschiebt xmd dieser aus demselben Grunde wieder an einen
Bekannten usw., bis der Leuchter endlich beim selben Trödler ankommt,
und der bringt ihn nun glückstrahlend, weil er glaubt das lang gesuchte
Pendant gefunden zu haben, zum Arzt zurück. Tschechov ist auch ein
Meister darin, mit wenigen Strichen eine Persönlichkeit auf das schärfste
zu zeichnen. Humor und Satire leuchten gleichfalls aus seinen späteren
Der Pessimismas der leüeten Dezennien des 19. Jahrhunderts j2X
Werken hervor, nur stehen sie unter einem immer stärker hervortretenden
Pessimismus, einem psycho-pathölogischen möchte man sagen. Die Nacht-
seiten des Lebens, die innere Leerheit des kraftlosen Menschen, überhaupt
das zwecklose Dasein erfüllen seine nervenzerrüttenden Erzählungen
„2^11e Nr. 6", seüien „Schwarzen Mönch". Diese pessimistische Lebens-
und Weltaufiassung ist auch das Leitmotiv seiner Dramen: „Die Möve*'
(1901), „Onkel Wanja", „Drei Schwestern** (1901), „Der Kirschgarten"
(1904), von denen das erstere, trotz mancher szenischen Schwierigkeiten,
oft aufgeführt ist tmd auch bei uns guten Erfolg hatte. Daß man
übrigens bei der Beurteilung solcher Werke in bezug auf die vom Dichter
gewollte Tendenz sehr vorsichtig sein muß, zeigt eine erst jetzt bekannt
werdende Äußerung Tschechovs, wonach er „Die drei Schwestern" und
„Den Earschgarten" gar nicht pessimistisch, sondern als leichte Komödien
aufgefaßt wissen will. Mag dies nun zutreffen oder nicht, Tschechov ist
Pessimist, aber einer von denen, der seine Personen mit menschlicher
Wärme und menschlichem Gefühl umgibt und der an eine bessere, ge-
j rechtere, schönere Zukunft glaubt.
Die Frucht einer Reise in den Osten Sibiriens ist das sehr interessant
geschriebene Buch „Die Insel Ssachalin".
Ebenso wertvolle ethnographische Untersuchungen über Sibirien
haben wir von Gussjev und Je'lpatjewskij, die sich auch in ihrer
Lebensauffassung mit Tschechov berühren. Gussjev (geb. 1867; nach
seinem Geburtsort Orenburg Gussjev -Orenburgskij) war Volksschullehrer,
dann Geistlicher, legte aber 1898 sein Amt nieder. Er selber nennt sich
einen Schüler Usspjenskijs. Der Pessimist sieht das Schlechte hauptsäch-
lich bei seinen Amtsgenossen und hier wieder ganz besonders in der
schwarzen Geistlichkeit — die „schwarze" ist die höhere (Mönchs-) Geist-
lichkeit, angesehen und im Besitz der besten Pfründen; die „weiße" die
niedere Weltgeistlichkeit, arm, verachtet, verheiratet — ; sie ist für ihn nur
dumm, gewissenlos und vor allem habgierig („Schlechter Ruf"). Dieser
Haß tritt überall hervor, auch in dem sonst vorzügliche Aufklänmg über
die sibirischen Völker, über die Kirgisen, Baschkiren, über die Mordwinen
gebenden Buch „In die Heimat" (Sibirien). In seinem „Land der
Väter" zeigt er sich als Nietzscheschüler und als Prediger der Revolution.
Eingehende, höchst packende Schilderungen von Sibirien gibt auch
Jelpatjewskij (geb. 1854) in seinen „Sibirischen Skizzen" (1893
und 1897). Seine Verbannung nach dem fernsten Osten hatte ihn das
Land dort genau kennen, aber nicht schätzen gelehrt. Ihn berührt nicht
die Naturschönheit, sondern er findet nur die entsetzlichen Seiten heraus,
die Einöde, die Schrecken der Kälte, das Vertiertsein der Menschen.
§ 65 I Es gibt auch in dieser Nacht Sterne, die ihr licht nicht
verdunkeln lassen, die den Menschen den Glauben an die Helle nicht
nehmen wollen.
X22 Eionndzwanzigstes Kapitel
Moralische Reinheit, wanne Menschenliebe durchströmt Korolenkos
(geb. 1853) Werke, mögen sie nun Bilder aus der südrussischen Heimat
oder aus Sibirien bringen, wohin er 10 Jahre lang verbannt war. Selbst
diese 10 Jahre der Verschickung haben in seinem milden, gütigen Herzen
nur wenig Verbitterung zurückgelassen; auch hat sein glücklicher Humor
über manches hinweggeholfen. Das offenbart schon die erste Erzählung,
die wohl dort noch entstanden ist „Der Traum Makars'* (1885); ^eser
Makar ist ein Halbjakute, der schwertrunken eingeschlafen ist und nun
träumt, daß er tot vor dem göttlichen Gericht steht. Die Hauptsache
an der Erzählung bilden die philosophischen und psychologischen Be-
trachtungen des Dichters und die Beschreibung Sibiriens. Der Beschrei-
bung Sibiriens, seiner Unkultiviertheit, dem Räuberleben, den Überfallen,
den Sitten der Bewohner, den kirchlichen Sekten sind auch „Die Skizzen
eines russischen Touristen" (1885) gewidmet. Mit derselben Wahrheit,
denselben schönen Farben, mit innigem Heimatsgefühl schildert er klein-
russisches Land und kleinrussische Leute. Stimmungsbilder reinster Herzens-
freude, seines Glaubens an das Gute, Schöne sind aus den achtziger Jahren
die Skizzen „Der alte Glöckner", „Der blinde Musikant", später die Er-
zählung „Der Wald rauscht" (1901), wo ein alter Förster seine Eindrücke
vom Waldesleben und Waldesweben wiedergibt, und aus der letzten Zeit „Die
Geschichte meines Zeitgenossen" (1909), der er selber ist. Die letzten Jahre
haben in ihm den Politiker hervortreten lassen : „ Der Fall der Zarenmacht.
Eine Rede an einfacheLeute" (19 17). Der letztere Zusatz spricht deutlich.
Potapjenko hat sich durch den Drang äußerer Verhältnisse zum
Vielschreiber entwickelt und daher nicht das gehalten, was er versprach.
Er begann seine schriftstellerische Laufbahn mit dem Werk „Heilige
Kunst" (1881), worin er predigt, daß ein Talent sich nur durch ernste.
Arbeit entwickeln kann. Damit ist seine Lebensauffassung gekennzeichnet.
Er ist jedoch kein Optimist stenger Observanz, der alles nur in rosigem
Licht leuchten läßt ; er hat auch böse Menschen, aber ihre Laster werden
diurch menschliche Züge gemildert, die nach seiner Philosophie auch im
Bösesten stecken. Ein Mensch muß höhere, ideale Auffassungen kennen,
denen zuliebe er manches zu opfern imstande ist. So gibt in seiner Er-
zählung „Im wirklichen Dienst" (1890) ein junger Mann seine glänzende
theologische Laufbahn gegen den bescheidenen Posten eines Landgeist-
lichen auf, um das höhere Ideal dieses Berufes zu verwirklichen. Ein
anderer Roman „Gesunde Begriffe" (1890) zeigt einen ganz gewöhnlichen
Menschen, der sich allein durch seinen gesunden Verstand imd durch
seinen festen Willen sein Glück zimmert. Der Humorist Potapjenko bUckt
dabei hindurch, wenn er sagt, daß man dazu nicht einmal viel Verstand
brauche. Humoristisch ist u. a. auch „Der Sekretär seiner Exzellenz";
{1890) aber, wie gesagt, in allem leidet die Qualität durch die Quantität.
Die Werke der neuesten Zeit verflachen sich immer mehr.
Der PessimismiLs der letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts x23
Auch Sslutschewskij (f 1904), der allerdings als Lyriker noch
höher einzuschätzen ist ($ 67), gehört mit seinen „Dreiunddreißig Erzäh-
lungen" (1888) hierher. Die besten darunter sind „Zwei Tropfen",
„Zwd Touren Walzer", „Zwei Tannen". Poetische Stimmung und
wahre Lebensphilosophie durchfärben sie. Großartig ist er auch in der
Beschreibung der erhabenen Naturschönheiten, des stillen, einsiedlerischen
Lebens des äußersten Nordens.
Ebenso ist hier Mamin der Sibirier (f 1912) zu nennen. Er
kennt, wie sein Beiname andeutet, Sibirien und hat Land und Leute
trefflich gezeichnet. Er kennt ebenso ausgezeichnet Rußland, seine Groß-
städte und deren Auswüchse. So gibt sein Roman „Die Millionen der
Priwalovs" ein treffendes Bild vom Großuntemehmertum. Mamin war
auch ein sehr beliebter Jugendschriftsteller und Märchenerzähler.
Wieder einer von denen, die vorzüglich das Land- und Gutsleben,
besonders die Verwalter, die Bereiter, das ganze Hofgesinde zeichnen,
ist Ertel. Anfangs Schüler Turgenjevs (in seinen „Memoiren eines
Steppenbewohners") mauserte er sich vollkommen zum Schüler Tolstojs
durch. Sein bester Roman „Die Gardjenins. Ihr Gesinde, ihre An-
hänger und Feinde" (1889) predigen die Tolstojsche Lehre, daß das
Gesunde nur im Volke ist. Sein Roman „Ablösung" (1891) zeigt die
Ablösung der alten Generation durch die neue hauptsächlich in ihrer
Auswirkung wieder auf das ländliche Leben.
§ 66 I Der talentvollste Lyriker, der Schwärm der ganzen da-
maligen russischen Jugend, der männlichen und der weiblichen, das
größte dichterische Talent seit Njekrassovs Tod war Nadson (1862 —
1887). Seine „Gedichte" (1885) atmen krankhafte Melancholie; nicht
allein die allgemeine politische wie die gesellschaftliche Lage erzeugte sie,
auch der eigene sieche Körper. Er hatte die ursprüngliche OfBzierslauf-
bahn wegen Krankheit aufgeben müssen, hielt sich dann viel in der Krim,
dem Krankenbade Rußlands, auf und starb dort in jungen Jahren, in
Jalta. Seine Poesie ist die der Skepsis, der tiefen Traurigkeit, des Zweifels,
aber nicht der vollen Verzweiflung; es geht das Streben nach Licht
und Wahrheit hindurch, die Hoffnung auf die Zukunft, der Glaube an
Ideale. Sein Meisterwerk, das Gedicht „Mein Freund", gibt die Zeit-
stimmung am Ende der siebziger Jahre wieder, diese furchtbare De-
pression, die auf allen Gemütern lastete; aber der Grundgedanke läuft
darauf hinaus, daß der Leidende nicht verzweifeln soll, wenn auch die
Unwahrheit, der Trug in voller Macht über der in Tränen gebadeten
Welt herrschen — die Zeit wird kommen, wo Baal untergeht und
die Liebe zurückkehrt. Finster ist es in der Welt, das zeigen seine
,, Träumereien", sein „Herostrat" — aber es gibt auch noch Trost,
das sehen wir aus der „Wolke", aus der „Mondlosen Nacht", aus
der „Einsamkeit".
124 Einandzwaozigstes Kapitel
NadsoDS Gedichte fanden beim jungen Publikum ungeheuren Beifall,
ein Lyriker ist wohl in so kurzer Zeit noch nie so oft aufgelegt worden.
Der Beifall war natürlich, gab der Dichter doch ganz die Gedanken und
die Geföhle der jungen Aufstrebenden wieder. Dazu kam, daß seine
Verse vollendet in der Form sind, daß sie etwas ungemein Zartes, Ein-
schmeichelndes, Musikalisches haben, daß die Bilder voll schöner Emp-
findung und voll hoher Grazie sind. Seine Poesie hat aber auch ihre
Fehler; abgesehen davon, daß das Weiche, Empfindsame ihr von den
Kommenden gerade als Fehler angerechnet wurde, es ist auch sonst zu-
viel Abstraktion, zuviel Unbestimmtes imd so sehr wenig wirklich
Russisches darin. Er kennt auch fast nur die Menschen, die Natur
dagegen sehr wenig.
Ein solch idealer Pessimist ist auch Frug (geb. 1860), er hofit
auf den Sieg des Guten und des Wahren. Frug schreibt besonders im
Hinbhck auf seine Glaubensgenossen, die Juden, wie sie trauernd auf
den Trünmiem Jerusalems sitzen. Nachdem er schon 1879 ^^ ^^
paar Gedichten begonnen hatte, gab er die erste „Sammlung" 1885
heraus. Seine Verse sind klar und einfach, voll schöner Bilder. Er
sucht für das Jetzt Trost in der Vergangenheit wie in der Zukunft. Diese
Hoffiiung bringen seine besten Gedichte, sein „ Lebensgesang '^ sein
„Traum des Prometheus", sein „Im Tempel" schön zum Ausdruck.
Wie er mit Vorliebe hebräische Themen hat, so bringt er in sie auch
gern jüdische Sagen imd Legenden hinein.
§ 67 I Andrerseits retten sich auch wieder Lyriker reiner Kunst
aus der Häßlichkeit des Daseins heraus.
Apuchtin (1841 — 1891) war mit seinen ersten Gedichten 1859
hervorgetreten. Dann, ein Feind alles Lauten und Extremen, hatte er
sich lange vom Schauplatz zurückgezogen und kam erst I885 wieder
mit einer Buchausgabe lyrischer Gedichte. Sehnsucht nach reinem, stillem
Glück, nach ewiger Ruhe, Melancholie tmd doch starke Hoflöiung durch-
wehen sie; die Herbstblätter rauschen traurig, weil sie die Winterkälte
fühlen, aber sie tröstet im Fallen der Gedanke, daß von neuem der
Frühling kommt. Bilder von der russischen Natur („Ein Jahr im Kloster"
1885, 99 Eine Nacht in Monplaisir") sind so schön gefühlt imd geformt
wie bei Njekrassov.
Ebenso ist ein Dichter reiner Kunst, mit stark patriotischem Ein-
schlag ohne die Schönseherei und die Schönfärberei der Slawophilen,
der schon im Roman hervorgetretene Sslutschewskij. Man hat ihn
eine Zeitlang den „König der zeitgenössischen Poesie" genannt, so sehr
traf er mit seinen „Liedern aus dem Winkelchen", mit den Balladen
„Zwei Zaren", „Der Priester von Memphis" den Geschmack des gebil-
deten Publikums. Die russische Natur, das russische Volk umfaßt er
mit semem Herzen, und die will er mit seinen Liedern auch in die Herzen
Der Pessimismus der letzten Dezenniea des 19. Jahrhunderts x2$
der andern singen. Sslutschewskij weilte im Norden Rußlands. Er malt
ausgezeichnet in den „Widerklängen von der Murmanküste" den fernen
Himmelsstrich mit seinen Eisschollen, den seltenen und seltsamen Tieren,
den sonderbaren Bewohnern.
\§\68 I Es tummeln sich auch sonst noch auf dem Parnaß der
acht^ger Jahre Scharen von Dichtem und Schriftstellern , die, weder
Pessimisten sind noch die reine Kunst predigen, sondern die nur die
eine Tendenz haben, sich und das Publikum zu unterhalten. Ein paar
Namen verdienen wohl herausgehoben zu werden:
Der Lyriker Graf Golenischtschev- Kutusov, der hübsche
Gedanken in melodische Form zu kleiden versteht. Seine erste Buch-
ausgabe (1878) zeigt frische, kraftvolle Poesie; die der späteren
Jahre ist schwerer, wehmütiger. „Es tobt der Wind. Die Nacht ist
dunkel.**
Ebenso hat hübsche Verse P. A. Koslo.v geschrieben. Er ist noch
mehr bekannt durch eine gute Übersetzung von Byrons „ Don Juan*' (1890).
Femer der Prosaschriftsteller Boborykin (geb. 1836), ein Viel-
schreiber; 100 Bände liegen von ihm vor. Er trägt allen Literatur-
richtungen Rechnung, von den Anklägem der sechziger Jahre bis zu den
Erotikem des 20. Jahrhunderts. Er ist Romanschriftsteller, Dramatiker,
Korresppndent, Kritiker, Ästhetiker, aber — sonst wäre seine große Be-
liebtheit beim Publikum nicht zu erklären — er schreibt alles mit Geist
und Geschmack.
Ähnliches ist von Njemirowitsch-Dantschenko zusagen, der
gleichfalls ein Vielschreiber ist. Aber seine Skizzen aus dem Soldaten-
leben, aus dem Dorf leben sind trefflich, seine Schilderungen des hohen
Nordens, vor allem Lapplands vorzüglich; er war auch ein ausgezeich-
neter Kriegskorrespondent von ,1877 und 1904. Und was ihm sehr
hoch angerechnet werden muß, er ist der Schöpfer des Moskauer Künst-
lerischen Theaters ; hier hat er ganz besonders dahin gewirkt, daß neben
Tschechov die Werke Gerhart Hauptmanns eine Stätte fanden; das
Moskauer Künstlerische Theater wurde mit einem Gottesdienst und Teilen
aus der „Versimkenen Glocke" eröffnet (1898). Vorbilder waren für
Njemirowitsch-Dantschenko und ftir seinen Mitgründer Stanisslawskij
übrigens unsere Meininger gewesen.
§ 69 I Sonst zeigt das mssische Drama am Ende des Jahrhunderts
eine starke Ebbe. Es wurden noch genug Stücke verfaßt, und das Pu-
blikum strömte in Massen ins Theater ; es suchte jedoch mehr pmnkhafte
Ausstattung, glanzvolle Szenerie und fand sich dafür mit seichtem Inhalt
an. Ein paar bessere, geistreichere Stücke sind geschrieben wie „Tatjana
Regina" (1888) vom Chefredakteur des „Nowoje Wremja" Ssuworin
-oder „Der Tod der Agrippina" (X887) von seinem Mitarbeiter Burjenin,
aber auch sie konnten nur für den Augenblick interessieren. Der, welcher
X26 Einandzwanzigstes Kapitel
Gehaltvolleres sehen wollte, ging leer aus. Da würde nun das Moskauer
Künstlerische Theater gegründet. Seine Tätigkeit gehört jedoch mehr
dem neuen Jahrhundert an.
§ 70 I Der Kritiker dieser ganzen Zeit, und zwar der einzig
ausschlaggebende, von allen trotz seiner Steifleinigkeit anerkannte ist
Michailowskij (1842 — 1904). Er arbeitete schon an Njekrassovs
„Vaterländischen Annalen" undicann als der Fortsetzer Tscherayschewskijs
und Pissarjevs angesehen werden. Nur folgte er nicht ihren Auswüchsen :
die Kunst hat für ihn eine moralische und soziale Aufgabe. Er hat wert-
volle ästhetische Aufsätze, besonders im „Nordischen Boten", über
Turgenjev, Dostojewskij , Tolstoj, Usspjenskij veröffentlicht und in seinen
späteren Jahren scharf gegen den Symbolismus und das Dekadententum
gekämpft. Er ist auch als Philosoph, als Ethiker und als Sozialpolitiker
bedeutend. Von Studium Naturwissenschaftler hat er, Darwin in Ruß-
land populär gemacht, ebenso hat er sich um die Einführung von
Spencers und Louis Blancs Evolutionsphilosophie verdient gemacht.
Als Philosoph, als Dichter, als Literarhistoriker genoß nicht un-
verdienten Ruf Wl. S. Ssolowjov (1853 — 1900). Die ganze Familie
Ssolowjov steht in der Wissenschaft in hohem Ansehen; sein Vater war
der bekannte Historiker, sein Bruder ein guter Belletrist. Aus der Schule
Schellings und Hegels hervorgegangen, hat er sich etwas zu stark in die
Mystik verloren. Seine Religionsphilosophie will vor allem eine Aus-
söhnung, eine Union zwischen der griechisch- und römisch-katholischen
Kirche, eine für Rußland außerordentlich gefahrliche Anschauung, so
daß ein großer Teil seiner Schriften im Ausland erscheinen mußte.
In literarischer Hinsicht zeigt er genaue Bekanntschaft mit Goethe,
Dostojewskij, Njekrassov; vom literarischen wie vom philosophischen
Standpunkt aus schreibt er sehr scharf gegen Tolstoj. Er greift in seiner
letzten Schrift „Drei Gespräche über den Krieg, die Moral und die
Religion" (1900) den „Sophismus" Tolstojs auf das Heftigste an
und setzt diesen, dessen schwache Seite ja in der Tat die Logik ist,
leicht matt.
Als Kritiker der letzten Zeit — und damit greifen wir der Kürze
halber gleich in das nächste Kapitel hinüber — heben sich Wolynskij
und Owssjanniko-Kulikowskij heraus. Der erstere, an Kant ge-
bildet, hat viele eingehende Studien über Dostojewskij, über den Idealis-
mus, die Romantik, hauptsächlich im „Nordischen Boten" veröffentlicht;
eben da auch Owssjanniko über Lermontov, Gogol, Turgenjev, Balmont.
Seine fünf bändige Literaturgeschichte über das 19. Jahrhundert (191 1)
orientiert sehr gut.
Gegenwart: Pessimismas — Symbolismus — Erotik — Futurismns — Realismus 127
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Die Gegenwart: Pessimismus — Symbolismus —
Erotik — Futurismus — Realismus
§ 71 I Das neue Jährhundert hat neue Wandlungen, neue Rich-
tungen, neue Schlagwörter gebracht : die Symbolisten (Dekadenten) , die
Erotiker, die Futuristen, die Egofuturisten, die Lucisten usw., und — cha-
rakteristisch für heute — kaum ist eine Richtung aufgetaucht, so ist sie
von einer andern abgelöst; man lebt gegenwärtig schnell in Rußland.
Selbstverständlich ist auch das neue Jahrhundert keine hermetisch ab-
schließeiide Scheidewand — der Pessimismus gedeiht weiter in der Form,
die er bisher angenommen hatte, und zwar in sehr bedeutenden Ver-
tretern. Während die frühere Zeit aber ganz dem Bauern galt, beginnt
jetzt — zunächst nur in der Literatur — die Herrschaft des Arbeiters.
Die vagen und nur in dem einen Ziel, dem der Zerstörung, einigen Be-
strebungen des Nihilismus wurden durch den bestimmteren, mehr den
wirklichen Lebensverhältnissen Rechnung tragenden Sozialismus ersetzt.
Die von Deutschland und noch mehr von Frankreich importierte sozia-
iistische Lehre gewann in Rußland festeren Böden und steHt also vor
allem die Arbeiterfrage in den Vordergrund. So wenig das einstweilen
politisch von Belang war, so intensiv lebt die Literatur diesem Gedanken,
natürlich, wie ehedem beim Bauern, mit der obligaten Übertreibung. Die
Nöte des Arbeiters, überhaupt des um das tägliche Brot hart Ringenden,
finden sehr beredte Vertreter.
§ 72 I An der Spitze steht Gorkij, der Sänger der Barfüßler, der
Landstreicher, der Vagabunden. Seiner Geburt nach gehörte er nicht zu
dieser Kategorie, er stammte aus gut bürgerlicher Familie. Nur wurde
der 1868 in Nishnij-Nowgorod geborene Alexej Michailowitsch Pjeschkov
— so ist sein wahrer Name — mit sieben Jahren Vollwaise, und nun
begann für den Verlassenen eine wahre Odyssee von Irrfahrten und
schweren Nöten, die ihn später den symbolischen Decknamen Gorki)
(„der Bittere") annehmen ließen. Er arbeitete in einem Schuhwarenladen,
bei einem Schreiber, war Koch auf einem Wolgadampfer, lernte dieses
und jenes Handwerk; er durchzog den ganzen Süden Rußlands, sich
verdingend und verdienend, wo sich ihm etwas bot. Aber bei aller
schweren Arbeit und auf allen Wanderungen lernte und lernte der mit
regem Verstände und reicher Phantasie Begabte; er fand auch Leute,
die ihm in seinem Streben weiter halfen. Auf einer Wanderung, in Tiflis,
brachte er 1892 zu der Zeitung „Der Kaukasus" eine halb märchen-
hafte Skizze aus dem Zigeunerleben „Makar Tschudra", und die Er-
zählung hatte Erfolg. Neue Skizzen, alle dem Leben der Vagabunden
128 Zveinndzvaiuigites Kapitel
und der untersten GesellschaAsscbichten entnommen und in TifUser,
KAsaner , Petersburger Zeitungen veröffentlicht : „Tschelkasch" , „ Ko-
nowalov", „Gewesene Leute", hatten nicht allein wegen der Neuheit des
Gegenstandes, sondern auch wegen ihier AnschaulicMeit , Lebendigkeit,
Lebenstreue noch gräSeren Erfolg.
Gorkij hatte viel Glück in seiner literaiischen Laufbahn, man hat
ihn in manchem staik überschätzt. Seine Skizzen kamen schnell in
Übersetzungen ins Ausland, und besonders in Deutschland hatte er bald
einen großen Freundeskieis. Auch als Dramatiker wurde er sehr beliebt;
sein „Nachtasyl" („Auf dem Boden des Lebens") wurde in den Jahren
1903 und 1904 in Berlin mehr als sootnal aufgeführt Andere
Dramen, „Die Kleinbürger", „Die Sommergäste", „Kinder der Sonne",
hatten geringeren Erfolg, sind aber inunerhin besser als die gewöhnliche
Tagesware.
Im Jahre 1905 wurde Gorkij wegen Teilnahme an der revolutionären
Bewegung verhaftet. Die Nachricht rief in ganz Europa so grofies Auf-
sehen hervor, da8 sich überall Ausschüsse bildeten, welche Telegramme,
Adressen an den Zaren mit der Bitte um Begnadigung des berühmten
Schriftstellers schickten, und Gorkij wurde in der Tat entlassen.
Er begab sich ins Ausland, nach Schweden, Dänemark, Deutschland,
tiberall gefeiert, am wenigsten in Amerika, Nach Europa zurück, nahm-
cr ständigen Wohnsitz auf Capri.
Gorkij hat in dieser Zeit viel geschrieben. So hat denn manches '
nicht die Höhe der früheren Werke erreicht, so die farblos langweiligen
Romane „Das Städtchen Okurov", die Fortsetzung davon „Matwej
Koschemjakin", auch „Die Beichte", die Entwicklungsgeschichte eines
reinen Toren und Gottsuchers, mit scharfem Kampf gegen den byzan-
tinischen Gott, femer das Drama „Die Sykovs".
Höher steht seüa sozialer Roman „Die Mutter", ein hohes Lied
auf die Mutter Rußland, auf den russischen Arbeiter, auf die russische
Revolution. Als er bei Ausbruch des Krieges nach Rußland zurück-
kehrte, wurde er sofort wegen dieses Buches unter die Anklage der
Gotteslästerung gestellt und stand bis 19 15 unter Au&icht.
Vom Kriege und von der Kriegshetze hat er sich vollkommen fem-
n'enn schon in den früheren Erzählungen über allem Pessi-
: Liebe schwebt, so daß der Leser selbst seinen ärgsten
I zu lieben beginnt, so hat sich diese heilige Flamme seit-
zu größerer Glut entfacht Seine „Erinnerungen" (1915)
Kindheit sind trübe und bitter, aber auch voll süßen
id seine Reiseskizzen „Durch Rußland" (1915}, Eindrücke
Wanderungen, haben überhaupt keine philosophierenden Vaga-
■hi, sondern arbeitsfrcui^ge, tätige, kraftvolle Gestalten aus
Gegenwart: Pessimismas — Symbolismus — Erotik — Fatarismns — Realismus 129
Unter der Herrschaft der Bokchewiki redigierte er eine Zeitlang
die Zeitung ,, Neues Leben", in versöhnendem Sinne,
f t . Andrej ev (1871 — 191 9) wird oft der Jünger Gorkijs genannt.
Das stimmt jedoch |iur bedingt. Richtig ist, daß beide Pessimisten sind,
aber dieser Pessimismus ist verschiedener Art. Bei Gorkij war Hoff-
nung, bei Andrejev ist Tod. Andrejevs ganze große Welt ist ein Ge-
fängnis, aus dem es kein Heraus gibt, in das kein Lichtstrahl dringt.
Gorkij ist Realist; er nimmt, allerdings aus einer bestimmten Klasse, der
untersten Schicht, seine Menschen, aber ' sie sind Menschen, wie wir ihnen
täglich auf der Straße begegnen, gesunde Menschen. Andrejevs Menschen
sind krank, abnorm, verzerrt, vertiert. Gorkij wählt sich die realsten
Situationen des Lebens, Andrejev sucht gern das Mystische, Romantische,
grausig Phantastische. Selbst im Stil unterscheiden sie sich; der Andre-
jevs hat etwas Geschraubtes, Gesuchtes, den Modemisten sicn sehr nähernd.
Andrejevs hervorragendste Schöpfung ist sein „Rotes Lachen" (1905),
das Wahnsinnslachen über die Blutgreuel des Krieges. Der Stoff, der
den ostasiatischen Kriegsereignissen entnommen ist, tut dabei wenig; es
soU das Entsetzliche des Schlachtfeldes hervortreten, die grauenhaften
Leiden und Qualen, die auf den völlig Unschuldigen fallen, der Wahn-
sinn, der aus guten und gebildeten Menschen Mörder . macht.
Im Wahnsinn kann das Leben nur enden, so entsetzlich- ist das
Leid, da^ Elend dieser Welt. Das zeigt, aUerdings in großartiger Durch-
fuhrung und Steigerung der Effecte und in vollendeter Aufblätterung der
Menschen, der Örtlichkeiten, der Situationen der Dichter im Roman „Das
Leben Wassilij Fiwjeiskijs" (1904 — in der deutschen Übersetzung „Der
Glaube"); der Priester Fiwjeiskij hält am Glauben fest trotz alles furchtbaren
Unglücks um sich herum, trotz des idiotischen Sohnes, trotz der trunkenen
Frau; als auch der Glaube versagt, wird er wahnsinnig.
In Nacht und Grauen stürzt uns das Leben. Das spricht sein
romantisch - mystischer Roman „Lazarus" (1908) aus. Aus Nacht und
Grauen ist Lazarus von Christus erweckt worden, er geht nun in die Welt
hinein. Da beginnt die Pein : alle Frauen umwerben ihn, so daß jer die
Eifersucht des Augustus erweckt, und der läßt ihn jetzt blenden. Da
ist wieder Nacht und Grauen um ihn. — Ebenso ist sein Drama „Die
schwarzen Masken " ein grauenhaftes Gemisch von Traum und Wirklichkeit.
Die „Philosophie des Eisengitters" ist der alleinige Trost, so sagen
und beweisen seine „Memoiren" (1908). Ein 30 Jahre lang Inhaftierter
kommt frei. Was nun? Er fühlt sich in der ungewohnten Umgebung
verloren. Da umbaut er sein Landhaus wie ein Gefängnis und nimmt sich einen
strengen Wärter, den er für seine Strenge zum Universalerben einsetzt.
Man sieht, Andrejev will verzerren.
Er will peinigen. Wenn auch psychologisch höchst künstlerisch
entwickelt, so ist doch „Die Geschichte der sieben Gehenkten" (19 12),
Friedrichs, Russische Literaturgeschichte 9
X70 Zweiundzwanzigstes Kapitel
ihre Qualen zwischen Verurteilung und Exekution, zugleich für den Leser
eine QuaL
Andrejev hat sich leider zum Vielschreiber entwickelt, noch mehr
im Drama als im Roman. Daher hat denn keines seiner Draiden rechten
Anklang gefunden, weder die satirische Groteske „Nächstenliebe^* (1908)^
noch seine Eifersuchts- und Ehebruchsdramen wie „Anfissa^* (1909 — die
Liebe eines Mannes zu drei Frauen) oder „Katharina Iwanowna'^
(19 12), noch sein Satansdrama „Anathema*^ (Satan läßt den Juden seine
Mülionen fürs Volk hingeben, das ihn doch steinigt). Am meisten hat
noch sein Studentenstück „ Gaudeamus *' (19 10) Erfolg gehabt. Der
junge Student ist nach Sibirien verschickt worden und kommt nun mit
48 Jahren zurück. Er wiU jetzt wieder studieren — der Lohn für die
ausgestandenen Leiden ist, daß er von aUen verlacht wird.
In einem Drama „Zu den Sternen^' ist Andrejev nicht Pessimist; es
gipfelt in den Worten: „Es gibt keinen Tod für den Menschen, es gibt
keinen Tod für den Sohn der Ewigkeit"
Während des Krieges hielt sich Andrejey politisch zurück ; einmal ist
er aus dieser Reserve herausgetreten. Sein Drama „König, Gesetz und
Freiheit" ist eine Verherrlichung von Belgiens Märtyrertum.
Noch gesteigerter ist der Pessimismus, noch mehr ist „Liebe in
Haß, Blut in Galle verwandelt" bei Skitale z. „Wild schallt mein Lied,,
und in dem Wort ,Ich fluche* klinget Mein ganzes Menschensein."
Der Bauemsohn hat am eigenen Leibe ^e furchtbare Not des Daseins
(die Novelle „Spießruten" sind die Spießruten, die er imd noch mehr
sein Vater durch die menschliche Gesellschaft laufen mußten) kennen
gelernt, und daher ist für ihn der Reiche nur der feohe, Dumme, Ge-
meine, während der Proletarier immer gut imd talentvoll ist. Aber dieser
schiefen Subjektivität stehen die wundervollen Beschreibungen der Wolga,,
ihrer Naturschönheit wie des Lebens und Treibens auf und an ihr gegen-
über, die weichen Stimmungen, die er in seinen Personen und durch sie
zu erzeugen weiß, die packenden, erschütternden Bilder, die er vom
Bauemieben imd von der Bauemseele malt.
Etwas müder steht dem Leben gegenüber, auch mehr auf Seite der
Intelligenz Wjerjessajev (Pseudonym für Ssmidowitsch), geboren 1867.
Bei uns ist er durch seine „Memoiren eines Arztes" (1902) bekannt ge-
worden- Mit Rousseau verspricht er sich von der Rückkehr zur Natur
eine moralische Besserung; sein Buch „Zum Leben" (1909) läuft ganz
auf diesen Gedanken hinaus. Er gibt auch hübsche Literaturbetrachtungen
über Tolstoj, Dostojewski] usw. in seinem „Lebendiges Leben" (19 11).
§ 73 I Neben diesem realistischen Pessimismus tauchte in
den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine neue Richtung auf, die
das Leben mit derselben pessimistischen Skepsis ansieht, aber Rettung
aus dieser Trostlosigkeit will und deshalb zu dem Überirdischen flieht.
Gegenwart ; Pcssimismns — Symbolismus — Erotik — Fatorismos — Realismns j 2 i
Sie verläßt die Wirklichkeit, die reale Welt und wendet sich an den
Himmel, die Sonne, den Mond, die Sterne; sie besingt die Ewigkeit,
die Stille, das Dunkel, die Finsternis. Für so große, ewige, unfaßbare
Stoffe gibt es keine faßbaren Gedanken, keine faßbare Form; sie lassen
sich nur annähernd im Symbol wiedergeben. So nennen sie sich Sym-
bolisten und nehmen dann, als man verspottend ihre Poesie und ihre
AtifTassimg dekadent heißt, den Namen Dekadenten ^^^) an, ihn anders
definierend: sie fallen ab (lat. decadunt) von allem, was vordem gebräuch-
lich, was vordem durch den Gebrauch geheiligt war. Die erste Stelle
nimmt bei ihnen die Musik, die Leichtigkeit des Verses ein, die Ver-
schiedenheit und der Reichtum des Versmaßes, die Wahl und Stellung
der Worte, die Lautnachahmung, kurz alle Verskünstelei. Ihre selb-
ständige Erfindung ist das nicht; Paul Verlaine und Maeterlinck sind
die Väter.
Es gibt schon ein paar Vorläufer. Fofanovs (1862 — 1911)
Lyrik weiß die flüchtigsten Stimmungen imd die leisesten Seelenregungen
zum Ausdruck zu bringen. Er hat außerordentlichen Sinn für plastische
Bilder und ist vollendet in der Form ; er liebt dabei schon die gekünstelten
Epitheta, die herbeigezogenen Vergleiche, er müht sich um Versmaß und
Reim. Seit 1882 ist er bekannt. Am besten ist ihm wohl das große
Gedicht „Das Mysterium der Liebe** gelungen, aus dem neben der Kraft
und dem Wohllaut des Verses schöne Gedanken sprechen. Auch viele
kleine Dichtungen „Helle Sterne. Schöne Sterne", „Die Vorahiumg**,
„Zur Herbsteszeit", „Die Braut" zeigen den gottbegnadeten Poeten.
Minskij (geb. 1860 — Pseudonym für Wilenkin), nicht so be-
deutend wie Fofanov, aber von der Jugend einst vergöttert, läutet gleich-
falls die neue lyrische Periode ein. Auch für ihn birgt das Leben nur
Kummer; neben dem Glück steht gleich das Unglück. In dem Gedicht
„Die Dürre" malt er die Verzweiflung der Bauern, weil in der Sonnen-
glut alles verdorrt und hinsiecht. Da setzt ein Gewitter ein, und alle
sind erlöst und gehen frohen Herzens hinaus auf das Feld, in den duf-
tenden Garten. Jedoch im Garten hat der starke Regen ein Nest mit jungen
Vögeln ausgewaschen und die Jungen sind tpt, und die Mutter umkreist
es nun, ruhelos, unaufhörlich, bis auch sie tot hinfällt. Trost in allem
Elend gibt ein Sichvei senken in den Zauber der Natur; es sind pracht-
volle Naturbilder, die er geschaffen im „Abend", in „Auf der Höhe",
„Auf dem Schifif". Trost gibt auch die Liebe, und da erinnert er sehr
an Heine, den alle diese Dichter aufs genaueste kennen.
Wie Minskij erst nach und nach sich zum Dekadenten entwickelt
hat, so auch D. Ss. Mjereshkowskij (geb. 1866). Seine ersten Werke
zeigen ihn noch nicht in diesen Bahnen. Er ist eigentlich überall be-
deutend, in der Lyrik, im Roman, im Drama, als Dichter, als Essayist,
als Kritiker — er will von Tolstojs geistlichen Schriften nichts wissen,
9*
1^2 Zweiandzwanzigstes Kapitel
und ebenso tritt er der Überschätzung Gorkijs entgegen — , als Gelehrter.
Mjereshkowskij ist ein tiefempfindender Lyriker; die Gedichte „In den
Alpen", „Auf der Höhe" sind Perlen. Er ist ein guter Romanschrift-
steller. Seine Romantrilogie „Der Tod der Götter" — das ist der Kampf
der alten heidnischen Welt mit der christlichen (russischen) Welt — hat
ihn auch in Westeuropa bekannt gemacht. Sein Roman „Alexander I."^
hat ein ausgezeichnetes historisches Kolorit; er wurde 191 1 von der
Zensur freigegeben. Ebenso hat sein Drama „Paul I." wegen des heiklen
politischen Stoffes lange unter Zensur gestanden; es offenbart neben
Bühnengewandtheit den Dichter. Seine gesammelten Aufsätze ,,Vom Krieg
zur Revolution" {19 18) bilden wertvolles Material zum Verständnis der
Zeit und zeigen den streitbaren, aber sittlich ernsten Denker.
Als Haupt der Schule gilt Balmont (geb. 1867). Er hat viel in
Paris und Brüssel geweilt, den Symbolismus also an der Quelle ein-
gesogen. Seine ersten Veröffentlichungen sind schon aus dem Jahre
1887; aber er wurde anfangs verspottet, und erst nach und nach er-
kannte und anerkannte man seine reiche, kühne Dichtersprache. Seinen
Höhepunkt bildet wohl das Buch „Laßt uns sein wie die Sonne" (1904),
voll jubelnder Weltfreude und schrankenloser Lebensbejahung. Er hat
viel geschrieben. Aus dem Zuvielen hebt sich der Gedichtband der
letzten Zeit wieder heraus „Der grüne Weinberg" (1908). Hier zeigt
sich nicht allein der gewandte Versmacher, sondern das lebendige Werk
eines Künstlers, das an die besten Seiten seiner „Flammenden Gebäude"
erinnert. Aus den Greueln des Krieges rettete er sich durch seinen
„Adam, Sonettenkranz". Er hat neben anderen Übersetzungen eine sehr
gute Shelleys gegeben.
Brjussov (geb. 1873), ^^ Deutschrusse („Brüssow"), hat sich durch
seine lyrischen Gedichte eingeführt, ist aber immer mehr zum Roman
übergegangen und leistet darin Bedeutendes. Vor allem tritt sein Re-
naissanceroman „Der feurige Engel" (1908) hervor, eine Erzählung aus
dem 16. Jahrhundert, worin die Heldin die geheimnisvolle Jungfrau
Renata ist, die mit dem feurigen Engel Madiel zu verkehren glaubt und
infolge dieses Bekenntnisses als Hexe verbrannt werden soll. Ein roman-
tisch-mystisch-phantastischer Stoff, jedoch voll meisterhafter lebenswahrer
kulturhistorischer Bilder. Die Art, wie er sich in die Denk- und Emp-
findungsweise eines fremden Volkes und in vergangene Zeiten versetzt
und dies in prägnante Fassung bringt, offenbart ein reiches und reifes
Talent Diese Höhe erreicht nicht der Roman „Der Siegesaltar" (1912).
Er ist weniger dichterisch, mehr gelehrt; aber vorzüglich ist Brjussov
gelungen, farbenreiche und dabei wahre Bilder aus spätrömischer Zeit vor
unsere Augen zu zaubern. Seine Ijrrischen Gedichte, unter denen wohl
„Klänge" und die Sammlung „Schattenspiegel" (1911) die besten sind,
zeigen nicht die Gewandtheit Balmonts, kommen gedanklich ihnen aber
Gegenwart ; Pessimismus — Symbolismus — Erotik — Futurismus — Realismus i j j
gleich. Er hat die Dichtungen des Vaters der Symbolik Verlaine hübsch
ins Russische übertragen. Im Krieg hat er stark bramarbasiert^^®).
Im Roman entwickelt sich, vielleicht noch bedeutender als Brjussov,
Bjelyj (geb. 1880, Pseudonym für Bugajev). Er ist zugleich der Wissen-
schaftler unter den Symbolisten; seine umfangreiche Untersuchung über
„Die Geschichte und Theorie des Symbolismus*' {1909) rechtfertigt die
Ziele der Schule. Seine Anfangsleistung „Symphonien in Prosa" ist
nicht hervorragend; sie können nicht erwärmen. Höher steht „Asche 'S
der Ruf der Verzweiflung, daß alles im Leben zu Asche vergeht; imd
ein recht bedeutendes Kunstwerk ist sein großer Roman „Die silberne
Taube" (1909). Er ist der erste Teil einer beabsichtigten Trilogie „Ost
und West**, die den Widerspruch zwischen dem Russentum und der
westlichen Kultur klarlegen soll. Es handelt sich in der „Silbernen
Taube*' um einen jungen Gelehrten, der alles gelernt hat, was der ge-
bildete Europäer lernen kann, aber trotzdem eine ungeheure Leere in
sich fühlt, und, da ihm der Westen mit seinei Kultur keine Heilung
bringt, ntm Gesundimg in der Heimat sucht und sich da zu einer jener
unzähligen Sekten, der unheimlich -mystischen der Tauben, hingezogen
fühlt. Hier sieht er die Idealverkörperung des Weibes in der Tischlers-
frau Matrona, die, gleichfalls von mystischem Wahnsinn umfangen, ihn
immer mehr an sich lockt, um von ihm den Heiland zu gebären. Aber
er entdeckt bald, daß er doch nach dem Westen gehört. Da töten
ihn die Sektierer, die seinen Abfall merken, zu Ehren Gottes. Der Stoff,
reichlich seltsam und mystisch, interessiert wohl weniger, mehr der
Grundgedanke und die Ausführung. Die Büder, die Bjelyj vom dörf-
lichen und kleinstädtischen Leben gibt, smd echt und anschaulich ; ebenso
anschaulich tritt uns die Stimmung vor dem Ausbruch der Revolution
entgegen. Den zweiten Teil der Trilogie bildet „Petersburg" (19 14).
Der Dichter ironisiert die verdorbene, wüste, lügnerische, gleißende Stadt,
die als der Mittelpunkt der Kultur gilt. Auch dies Buch ist, so sehr
der Stoff zur Realität zieht, phantastisch-traumhaft gehalten.
Eine stark ausgeprägte Dichternatur ist F. Ssollogub (Pseudonym
für Tjetjernikov). „Das wirkliche Leben ist der Tod" ist seine Phüosophie.
Der Gedanke ist wohl am besten in seinem Novellenband „Das Buch
der Zaubereien" (1908) zum Ausdruck gebracht; die Wirklichkeit ist
nur Schein und Trug; der wahre Herr der Welt ist der Tod. Solche
Auffassung vom Leben und der Wahnsinn liegen dicht beieinander. Es
ist eine sonderbare Phantasie, wenn die verlassene Braut („Der Kuß des
Ungeborenen**) ihr Elend nicht so sehr fiihlt, weil ihr das kranke Hirn
vortäuscht, sie habe einen Elnaben geboren und der umgebe sie überall
imd liebkose sie — ein sonderbarer Gedanke , aber mit tiefer Innigkeit
durchgeführt. Der Wahnsinn triumphiert auch in der Skizze „Schatten**,
nicht der laute, tolle des „Roten Lachens*', sondern der langsam heran-
l^A Zweiundzwanzigstes Kapitel
schleichendei nach und nach die Opfer, Mutter und Sohn, einspinnende.
Der Versuch, seinen gut geschriebenen Roman „Der Dämon" zu drama-
tisieren, ist ihm mißlungen. Dagegen hat sem Märchendrama „Nächdiche
Tänze" — Grimms zwölf Königstöchter — hohen poetischen lyrischen
Reiz. Störend wirkt öfter sein Trivialseinwollen. Am Kriege hat er
sich mit lyrischem Paukenschlag tmd Trompetengeschmetter beteiligt.
Die Dekadenten stießen natürlich auf Widerstand. Ihr schlimmster
Gegner, weil über starken Spott, scharfe Satire verfügend, ist wohl
Bur jenin gewesen, der Mitarbeiter von „Nowoje Wremja". Noch be-
vor die Dekadenten sich entdeckten, war er ein gefürchteter Kritiker.
Er begann schon in den sechziger Jahren in dem Spottblatt „ Der Funke",
imd seine erste Gedichtsammlung „Pfeile" (1881) sind wirkliche Pfeile,
satirisch, karrikierend, parodierend. Er besitzt ein offenes Auge für alle
Schwächen, moralische und politische, und kleidet alle Bosheiten in einen
sehr gefalligen Vers. Er hatte auch bedeutenden Erfolg mit seinem ge-
meinsam mit Ssuworin, dem Herausgeber von „Nowoje Wremja", verfaßten
Drama „Medea" (1884), das die Frauenfrage sehr scharf anfaßt. Im
neuen Jahrhundert gehörte nun seine „Liebe" den Dekadenten, in Vers
und in Prosa, in „Nowoje Wremja", überall.
§ 74 I So lange die revolutionäre Bewegung zur Aktion trieb, also
bis 1905, waren die geistigen Kräfte der Jugend von ihr auf das stärkste
in Anspruch genommen. Nun zerrann sie: die Kräfte aber waren
derartig angespannt gewesen und hatten solche starken Erschütte-
rungen erfahren, daß sie jetzt erschlafften. Solche Zeiten geistiger Er-
mattung sind der Wucherboden für das Geschlechtliche. So wächst um
diese Jahre die Wucherblume der Erotik empor, das sexuelle Problem.
Unter der großen Zahl dieser Leute, deren höchste Aufgabe ist, die er-
wartungsvollen, verlangenden Frauen und Mädchen zu zeichnen, ragen
aber ein paar wirklich gut schreibende hervor.
Arzybaschevs (geb. 1878) erster aufsehenerregender, auch bei
uns sehr bekannter Roman ist,,Ssanin" (1907). Arzybaschev sieht alles
nur vom sexuellen Standpunkt aus und urteilt einzig und allein nach
diesem. Das ist selbst der Angelpunkt in solchen Romanen, deren Haupt-
thema auf ganz anderem Gebiete hegt, wie im „Millionär" (1908), wo der
Multimillionär sich nach Menschentum sehnt, und da er es nirgends
findet, sich tötet. Das trifit auch in seinem „Tod des Iwan Lande"
(1904} zu, wo der junge, zarte Student als Gottessucher durch das Land
wanddt, und weil er seine große Idee sich nirgends erfüllen sieht, weit weg
von allen menschlichen Behausungen geht und in der Einsamkeit stirbt
Das wirkt noch unangenehmer, wenn sich mit dem Erotischen das
Grausig-Phantastische mischt, wie in den Romanen: „Das Grauen", „Am
letzten Punkt" (19 10). Andrerseits darf aber nicht außer acht gelassen
werden, daß alle seine Romane, auch seine Novellen („Aus dem Leben
iBoa
Gegenwart: Pessimismus — Symbolismns — Erotik - Faturismns — Realismus j^r
eines kleinen Mädchens" 19 13, „Revolutionsgeschichten", „Aufruhr")
treue Bilder von der russischen Intelligenz Sum die Zeit der Revolution
geben und uns den Ausbruch der Revolution verstehen lassen.
Arzybaschev hat sich kurz vor dem Kriege auch als Dramatiker,
natürlich in derselben Richtung, betätigt. Sein Drama „Eifersucht" will
die moderne Frau an den Pranger stellen, ist aber nur ein gewöhnliches
Ehebruchsdrama. Im Kriege, an dem er als Freiwilliger teilgenonmien,
hat er das Drama „Der Krieg" verfaöt, von dessen AufRihrung man
jedoch infolge der Unruhen nichts gehört hat.
Sehr kühn in erotischen Bildern, jedoch keineswegs ungeschickt in
Anlage und Ausföhrung, auch in Gedanken ist Dymov mit seinen poly-
gamischen und brünstigen Motiven : „Nyu", „Knabe Wlaß" ; die dann von der
weiblichen tmd männHchen Demimonde verschlungene Frau Wjerbizkaja
(„Die Schlüssel zum Glück"); Kuprin mit seinen Bordellerzählüngen
(„Die Grube"); und leider zu ihnen auch übergehend Kusmin in seinem
neuesten Roman „Die Reisenden". Sonst ist Kusmin ein recht beachtens-
werter Lyriker und Novellist. Seine „Novellen" (1909) zeigen glänzenden
Stil und blendende Gedanken.
Es bedarf übrigens kaum der Hervorhebung, daß Frau Wjerbizkaja
nicht die einzige Schriftstellerin der letzten Zeit ist, im Gegenteil, ihr^ Zahl
ist Legion. Sie beackern eigenüich alle das erotische Feld, und zwar das
ganz sumpfige. Die besseren sind Frau M. W. Krestowskaja, die Tochter
des „ Petersburger Spelunken "-Krestowskij, Frau Dmitrijewa, Frau
Ssmirnowa, tmd mit mehr Bildung tmd Geschmack Frau Sinai da
Hippius, die Frau Mjereshkowskijs.
§ 75 I Arzybaschevs tmd der anderen Berühmtheit hat nicht lange
gedauert. Alle verachtend, die Symbolisten für Klassiker erklärend, ist
die neue Richtung der Futuristen^^®), Egofuturisten, Lucisten
emporgestiegen. Sie wollen die „Wortbefreier" sein. Damit stehen
sie aber den Symbolisten nicht so fem als sie tun ; sie übertrumpfen sie
nur durch noch kühnere Bilder, eine noch gewagtere Sprache, noch ge-
wagtere Neubildungen, so gewagt, daß man nicht mit Unrecht gesagt hat,
ihre Sprache sei gar kein Russisch mehr tmd man brauche für sie ein
noch zu schreibendes Lexikon. Im übrigen tout comme chez nous ! Je
schreiender die Farben, je höher die gesungenen Töne sind, desto größer
erscheint sich der Futurist. Mit diesen „grünen" Futuristen will nichts
zu ttm haben der Egofuturist Ssjewjerjanin, Egofuturist, weil er eigene
Wege und eigene Ziele hat. Auch er hat tmgewöhnliche Reime, ungewöhnliche
Wortbildungen tmd wirtschaftet in seinen Dichtungen mit dem Neuesten, den
Propellers und den Automobilen. Aber bei allem ist er ein Dichter. Das
zeigen schon seine ersten Gedichtbücher „Der donnerkochende Becher" und
„Die goldene Leier" (i 9 1 2), die im Nu vergriffen waren; das tritt noch besser
in der Gedichtsammlung „Victoria regia" (19 15) hervor. Neue gedankliche
2^5 Zweinndzwanzigstes Kapitel
Gesichtspunkte, neue Stoffe bat er gleichfalls nicht. Sein Stoff ist der alte, der
der Anakreontik. Bezeichnend nennt er seine letzte Sammlung „ Ananasse in
Sekt^'. Gegen die teutonischen Barbaren ist er kräftig hergezogen.
* § 76 I Neben diesen Schulen gibt es Einspänner, und zwar n^t
nicht unbedeutender dichterischer Veranlagung. In der Lyrik den vor-
trefflichen K. R. (Konstantin Romanov), den Grofifiirsten Konstantin
Konstantinowitsch. Außer seinen lyrischen Gedichten kennen wir
ihn als vorzüglichen Übersetzer Shakespeares und Schillers ; er hat auch ein
Versdrama „Der König von Juda" geschrieben, das sich durch Wohlklang
und Wohllaut auszeichnet. Durch seine wimderhtibschen Kindergeschichten
bekannt isi Gar in (Pseudonym für A. Michailowskij) ; wenn er dies Gebiet
verläßt, ist er allerdings schaurig. Im Drama und im Roman leisten
recht Bedeutendes die beiden jüdischen Schriftsteller Tschirikov tmd
Aisman. Beide sind vortreffliche Schilderer der Juden, der Intelligenten
imd dann der in ihrer Denkweise noch im Ghetto Lebenden. Ein dritter Jude,
luschkjewitsch, wühlt im jüdischen Elend und in der jüdischen Unmoral.
§ 77 I Der Symbolismus ist gestorben; der Futurismus liegt im
Sterben. Warum? Weil sie lebensfern sind, weil sie auf die Form
größeren Wert legen als auf den Inhalt. Und was nun? Es will beinahe
scheinen, als brechen wieder bessere Zeiten für die russische Literatur
herein, als kehre ein geläuterter, geklärter Realismus ein, keiner mit
einseitig aufdringlicher Tendenz , keiner mit Schwelgen in ^Schmutz und
Laster, keiner mit Extremfexerei. Dafür spricht eine ganze Reihe junger
Kräfte. Der älteste von ihnen ist Bunin (geb. 1870), der mit seinen
ersten lyrischen Gedichten (1887) noch im symbolischen Lager steht, der
sich jedoch auch hierin von den andern durch Zartheit und Feinheit der
Töne wohltuend abhebt. Seine Novellen imd Romane sind aber voll-
konmien realistisch gehalten imd auch nicht mit Autos und Propeller,
sondern er geht wieder in den stillen Frieden der Gutshöfe, in die ein-
samen, verlorenen Weltwinkel. Sein großer Roman „Das Dorf" (in
Einzelausgabe 19 10) zeigt eine vortreffliche Schilderung des Bauern- tmd
Kleinbürgerlebens, nicht mit starker Nervenaufpeitschung, sondern wie es
sich Tag für Tag abspielt. Daß er Longfellows „Hiawatha" übersetzt
hat, zeichnet ihn vortrefflich.
Noch höher steht Graf Alexej Tolstoj, der 1910 mit seiner
ersten Novellensammlung hervorgetreten ist. Er nimmt seine Stoffe aus
demselben Milieu wie Bunin, aus dem Leben auf den alten Gutshöfen.
Er trifft den russischen Volkscbarakter ausgezeichnet. Er hat sich auch
dem Drama zugewendet, mit Erfolg. „Die Gewalttätigen" (19 13) geben
ein lebensvolles, anschauliches Bild aus demselben Milieu, aus dem Leo
Tolstojs „Macht der Finsternis" geboren ist.
Gesunder Realismus durchzieht auch das Erstlingswerk des jungen
Ssurgutschov, „Das Handelshaus" (1913), das, wie schon der Titel sagt,
Gegenwart: Pessimisrnns — Symbolismas — Erotik — Futurismos — Realismus i^r
ia eine ganz andere Welt führt. Und es gehören hierher auch wohl
die Romane Kraschenninikovs, die mehr auf Seelenstimmung als
auf Milieuschilderung hinzielen: „Die Kinder", „Die Schwestern", „Ein
Lebensmärchen", „Jungfräulichkeit", die beiden letzteren von großer Zart-
heit tmd Feinheit der Empfindungen.
Wohin die Fahrt weiter geht? Das kann niemand sagen. Der
Krieg selber hat, abgesehen von kleinen Entgleistmgen , keinen Dichter
gefunden, ebensowenig der Bolschewismus. Rußland hat seit Puschkin,,
trotz aller Auswüchse, eine außerordentlich schöne, große, reiche, selb-
ständige Literatur gezeitigt. In die weitesten Kreise hat sich der Drang
nach Bildung, Wissen, Kunst gelegt; es sind heute nicht mehr einzelne,
sondern das Volk sucht Gesundheit und Genuß in den Schöpfungen
semer Dichter. Und das Volk strebt weiter und dürstet nach immer
neuen Quellen und will auch gern aus dem Weltenstrom fremder Zivili-
sation und Kultur trinken. Und die Besten wollen ihm darin helfen.
Das Moskauer Künstlerische Theater wurde, wie gesagt, mit dem Ziele
Njemirowitsch-Dantschenkos gegründet, den Dichtungswerken Tschechovs
und Hauptmanns eine Heimstätte zu schaffen. Es ist eine Heimstätte
für sie geworden imd ebensosehr für Tolstoj, Gorkij, Andrejev und für
alle besseren, gehaltvolleren Stücke russischer Kraft, und auch nicht aUein
für Gerhart Hauptmann, sondern für unsere tmd fremde Klassiker und
Modernen, für Shakespeare, Goethe, Schiller, Moli^re, Maeterlinck, Ibsen
(eine sehr bedeutende Darstellerin der Gestalten der beiden letzteren war
die 1909 gestorbene Kommissarzewskaja), für Strindberg, Stucken, Wede-
kind, Hardt, Shaw. Und was sich dies Theater als Ziel gesetzt, das
hat auch manches andere Theater aufgenommen. Welche Rolle spielt in
der Oper Richard Wagner! Und was mit dem Theater geschehen ist,
das gilt für die gesamte Literatur. Es sind heute in Rußland weite
Kreise nicht nur in der einheimischen Literatur gut bewandert, man kennt
gut außer Goethe tmd Schiller auch Schlegel, Novalis, Hoffmann und von
den Neueren tmd Neuesten die Viebig, Dehm«l, Knut Hamsun, die
Lagerlöf, Maupässant, Eapling. Sollte das alles verloren sein? Wir
möchten mit den schönen Worten schließen, mit denen Gorkij, Andrejev
und andere 19 16 ihre Kundgebung an die ausländischen Bertifsgenossen
geschlossen haben : „Wir memen, daß die Böswilligkeiten in den mensch-
lichen Herzen erlöschen und die gegenseitigen Beleidigungen ihre Schärfe
verlieren werden, und wenn sich auf den von den Schützengräben auf-
gewühlten und vom Menschenblute durchtränkten Feldern wieder die
Getreideähren erheben, wenn Blumen die Gräber der Gefallenen bedecken,,
dann wird die Zeit kommen, in der die entzweiten, jetzt so weit von-
einander getrennten Völker wieder auf einem gemeinsamen, großen, all-
gemein menschlichen Pfade wandeln. Wir glauben und hoffen!"
Anhang*
Zum ersten Kapitel
1) „P^sni sobranija P. V. Kireerskago '*. Novaja serija. Izdan. Obsdestra
Ljnbitelej Rossijsk. Slovesn. pri Imp. Moskov. nniversitet. Pod red. MUlera i Spe-
ranskago. Moskra 191 1. •— „VeUkorass ▼ svoich pesnjach, obijadach i t p."
Materialy sobran. i priveden/y. poijadok P. V. Sejnom. Peterbg. 1898 — 1900. —
Dazu Jagiö im Ärch. für slay. Philologie 191 3.
Eine grofie Sammlung (7 Bde) der noch heute toiq Volke gesungenen Lieder
gibt SoboleTski/, „ Velikorosskija narodnyja pesni'*. Peterbg. 1895 — 1902.
.2) Die erste Sammlang dieser alten Lieder stammt ans dem 18. Jahrh. ; sie wird
Kirscha Daniloy zugeschrieben. (Speranskij, „K istorii sbomika pesen Kirsi Dani*
loTa'* in Rnsskij Filolog. Vestnik, 191 1). Sie wurde zam erstenmal 1805 von Ja-
kubowitsch schlecht herausgegeben, dann auf Veranlassung des Kanzlers Rumjanzov
1 8 1 8 gut Ton Kalaidoyitsch: „ Drevnija rossijskija stichotTorenija ". Nachdem sind
sie vielfach, kommentiert, herausgegeben worden: Izdan. Imper. Pnbliö. Bibliot. pod
red. P. S. Seffera. Peterbg. 1901. — Vgl. auch Jagiö, »Die christlich-mjrthologische
Schicht im rassischen Volksepos" (Archiv fär slav. Phil. 1875). — Wollner, „Unter-
suchangen über die Volksepik der Grofirussen <<. Leipzig 1879. — A. V. Markov,
„Iz istorii russk. bylevogo eposa.'^ Moskva 1905 i 1907.
Bylinen ist nicht der ursprüngliche Name; man nannte sie zuerst Starina.
Manche Forscher wollen die Einteilung in ältere und jüngere nicht.
3) Vs. Milier, „K voprosy o vozraste i kazadestve Ilji Muromca" (Zurnal
Minist. Narodn. ProsveSö. 191 2) — ebenda Vs. Miller, „K byline o boe Dji Mu-
romca s Dobr]mej ".
4) Die ursprüngliche Handschrift ist beim Brande Moskaus verloren gegangen.
Erhalten ist nur eine schlechte Nachahmung, die ZadonSöina, ein Lied vom grofien
Sieg über die Tataren am Don 1380. — Eine Abschrift mit Varianten, 1864 unter
den Papieren Katharinas ü. gefunden, wurde herausgegeben von Pekarskij, „SIovo o
polku IgorevS ". Peterbg. 1864. — Gut orientierende Volksausgaben: VI. Osolevec,
*) Der Anhang soll hauptsächlich Fingerzeige zum Weiterarbeiten geben. Dazu
dienen in erster Linie die kritischen Ausgaben der Dichter und Schriftsteller und die
über sie sonst orientierenden Aufsätze. Dem Rahmen des Buches entsprechend be-
schränke ich mich auf das AUernotwendigste ; so erwähne ich meist nur Aufsätze der
letzten Jahre, aus denen man dann rückwärts gehend sich das Material selber be-
schaffen kann. Die Ausgaben der modernen Schriftsteller habe ich fortgelassen, da
sie ans jedem Bnchhändlerkatalog ersichtlich sind; mit Vorliebe sind sie bei A. F.
Marks, M. O. Wolf, im TovariSöestvo „ Prosveäöenie <' verlegt. Viele sind ins Deutsche
übersetzt. Die älteren haben neben den grofien kritischen Ausgaben auch billige
Volksausgaben; dahingehören die Verläge „Drug", „Prometej'^, „ Posrednik '*, ,,Si'
povnik<<, „ Universal'naja Biblioteka *', „Skol'naja Biblioteka^*' ; auch sind sie vielfach
als Beigaben zu Zeitschriften erschienen, zur „Niva", zu „Ziz^ dlja vsech'* usw.
Anmerkongen x 30
,, Slovo o polka Igorere. Rukovodstvo dlja nöasöichsja ". Tekst, perevod, prime-
<öanija, istor.-liter. V5rvody, slovai. Poltava 1910. — N. K. Gndzij, „Literatura
SloTa o polkn Igoreve za poslednee dvadcatiletie *'. Feterbg. 19 14.
5) A. N. Afanas'cT, „Narodnyja russkija legeody*'. Red. i predisloyie S. K.
Sambinago. Moskva 19 14. — S. V. Savdenko, „Rasskaja narodnaja skazka. Istor.
sobiranija i izncenija". Kiey 19 14. Daza Polivka im Archiv für slay. Phil. 1916.
„Rassische Volksmärchen". Gesammelt yon Alexander N. Afanasjev. Dentsch
von Anna Meyer. Wien 1906. Daza Polivka im Arch. für slav. Phil. 1906. —
Jagiö, n^^ slavischen Mythologie*' im Archiv für slav. Phil. 1920. — Aagast
von Löwis of Menar „Der Held im deatschen and rassischen Märchen *S Jena '
191 2. Daza Polivka im Arch. für slav. Phil. 19 16.
6) K. Götz, „Geschichte der Slawenapostel Konstantinas (Kyrill) a. Metho-
<lios*<. Qaellenmäßig antersacht a. dargestellt. Gotha 1897. — Snopek, „Kon-
fitantinas-pyrillas a. Methodias, die Slawenapostel". Kremsier 1911.
7) Über den Namen Kirchenslawisch herrscht keine Einigkeit. Zar Orientie-
rang : „ Entstehangsgeschichte der kirchenslavischen Sprache **. Nene berichtigte a.
erweiterte Aasgabe von V. Jagiö, Berlin 1913. — F. F. Fortanatov, „O proischoz-
<ienii glagolicy'*. Peterbg. 19 13. — S. die Einleitang zar „ Altkirchenslavischen
Grammatik" von Vondrak, Berlin 19 12.
8) F. F. Fortanatov, „Sostav Ostromirova evangelija" in Sbornik statej v
.^est VI. J. Lamanskago. Peterbg. 1908. Daza Diels im Arch. für slav. Phil. 191 1. —
Leskien, „Handbach der altbulgarischen (altkirchenslavischen) Sprache. Grammatik.
Texte." 4. Aafl. Weimar 1905,
9) „Izbomik velikago kojazja Svjatoslava Jaroslavoviöa ". Izdanie Obscestva
Ljabitelej drevnosti. Feterbg. 1880. — Jagiö „Slazebnyja minei za sentjabf, oktjabf
i nojabf'^ Peterbg. 1886. — Bobrov, „K istorii izacenija Svjatoslavova sbornika
1076 g." Kazan, 1901.
10) Severjanov „ Sapraslskaja rakopis ". Feterbg. 1904. — Aach Miklosich,
^, Monamenta palaeoslovenica e codice Soprasliensi ". Vindobonae 185 1.
11) V. Fogorelov, „Gadovskaja Psaltyf XI v., otiyvok Tolkovanija Feodorita
Kirrskago na Psaltyf v drevne-bolgarskom perevode *'. S prilozeniem dvych fotograf.
snimkov. Izdan. Otdel. rassk. jazyka i sloves. Imper. Akad. Naak. Peterbg. 19 10. —
T. Pogorelov, „Slovaf k tolkovanijam Feodorita Kirrskago". VarSava 1910.
12) Mit den Kirchenvätern beschäftigt sich a^ch der „Paterik" des Kijewer
Höhlenklosters; er erzählt von ihrem Leben and Treiben im Kloster. „Paterik Kiev-
«kago Peöerskago monastyrja. Pamjatniki slavjano - rasskoj pis'mennosti ". Izdanie
Imper. Archeograf. Kommissieju. Peterbg. 191 1.
13) L a V r o V , „ Apokrifi^eskie teksty." Peterbg. 1 899. — Peretz, „ Materialy
k istorii apokrif. i legendy". Peterbg. 1899 — 1901. — SaSickij, „Redakcii apo-
krifa Syd carja Solomona". Varsava 19 14.
14) Karamsin weist in seiner „Geschichte des rassischen Reiches" schon aaf
ihn hin. (I, 284.) — Zam erstenmal hg. von Gorskij in „Prib. v tvor. svjatych otec."
Bd. 2. 1844. — Izvestija Kazanskago Univers. 186$.
15) Die Handschrift veröffentlichte zaerst Mi kl o sich, „Chronica Nestoris",
Wien 1860. — „ Lavrentijskij Spisok." Izdanie Imper. Archeograf. Komm. Peterbg.
1872.
16) Zam erstenmal hg. a. ins Deatsche übersetzt von Schlözer, 1767.
17) Golabinaja Kniga — wie za übersetzen? Man hat es aaf golab' =
,,Taabe" zarückgeführt , weil das Bach vom heiligen Geist aasgegangen ist, dessen
Symbol die Taabe ist Man hat aach an glabinaja = ,»tief" gedacht, weil es alle
140 Anhamg
tiefen Geheimnisse der Welt erschließt. — „Predstavlenie o ,more' ▼ golabinoj Knige
(Aufsatz y. Mansikka im Zomal Minist Narodn. ProsveSc". 19 10).
18) Vgl. zu dieser Periode noch : P. V. V l'a d i m i r o v , ,, Drevnjaja russkaja liter.
KieYskago perioda XI — AUl vekov*'. Kiev 1900. — Dazn M. Speranskij im Arch. fur
slav. Philologie 19 10.
Zum dritten Kapitel
19) SdegloY, „K istorii iza^enija soöinenij prep. Maksima Greka*' in Rossk.
Filol. Vestnik 1911. — „Stoglay'^, licdanie D. E. Kozanöikova. Peterbg. 1863.
20) „ Die Legende der heiligen Märtjnrer *' (Menäen) ist nicht allein eine Lebens-
beschreibung dieser Leute, sondern, sozusagen, eine Enzyklopädie von der Bildung
der damaligen Geistlichkeit.
21) Das Wissenswerte in Brückner, „Ein Hausbuch ans dem 16. Jahrhun-
dert'' in der „Deutschen Revue*', Petersburg 1864.
22) „Knjazja A. M. Kurbskago istorija o velikom Knjaze MoskoTskom". Izdanie
Imper. Archeograf. Kommissii. Peterbg. 191 3.
23) Ein offenes Auge und ein freies Urteil fiber die Zustände zur Zeit Alexejs
finden wir in dem als Geschichtsquelle wichtigen, erst 1838 in Upsala aufgefundenen
(1859 von der KaiserL Russ. Archäograph. Kommission hg.) Buche Grigorij Ko-
toschichins, „Über Rußland unter der Regierung Alexej Michailowitschs ^'. Nach
Schweden ist dies Buch durch das sonderbare Geschick Kotoschichins gekommen.
Wegen seines freimütigen Auftretens hatte er ans Rußland fliehen müssen. Glück hat
er aber auch in Schweden nicht gehabt. Er erhielt zwar eine angesehene wissen-
schaftliche Stellung in Stockholm, mufl aber wohl ein etwas sonderbarer Mensch ge-
wesen sein; denn er liefi sich aus Eifersucht zum Mord hinreißen. Er wurde 1667
hingerichtet.
24) Hierhin gehören aus dem 16. u. 17. Jahrhundert besonders i) von den byzan-
tinischen und südslawischen Erzählungen : Die Geschichte von Alexander — Der troja-
nische Krieg — Leben und Taten des schönen Dewgenij — Sammlung indischer Mär-
chen — Barlaam und Josaphat — Die Sendung des Presbyters Johann oder die Er-
zählung vom reichen Indien — Der Richter Schemiak ; 2) von Erzählungen westlichen
Ursprupgs: Gesta Romanorum — Der Große Spiegel 1667 — Das Schauspiel des
menschlichen Lebens 1674, aus dem Deutschen übersetzt — Die Geschichte von den
sieben Weisen — Der Königssohn Bowa, aus dem Italienischen — Die Geschichte
vom Peter mit den goldenen Schlüsseln und seiner schönen Gemahlin Magelone, aus
dem Französischen«
Zum vierten Kapitel
25) Awakum war der geistige Führer der Raskolniki (Altgläubigen), die in schärf-
sten Gegensatz zu den Reformen Nikons, des Patriarchen von Moskau, traten („die
Nikonianer").
26) Zur Erziehung wurde auch geschrieben „Anleitung, wie man Komplimente
schreibt'^ (17^3)» zimi größten Teil aus dem Deutschen übersetzt; ferner „Der Ji^end
Ehrenspiegel" 1719.
27) Russkija Vedomosti. — Die Urform der R. Vedomosti („über Kriegs- u.
andere Sachen") existierte schon am Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Namen
„Kuranty", nur zur Lektüre für den Zaren und seine Umgebung. Peter bestimmte
dann „Die Russischen Nachrichten" fürs Publikum; die Leitung hatte die Akademie.
Anfangs erschienen sie in der Kirchenschrift, dann erst in der „bürgerlichen". Die
Akademie der Wissenschaften gab 1728 auch die „St. Petersburger Nachrichten"
Anmerkungen jai
heraas (mit einer Art wissenschaftlicher Beilage: histor. , geographische Aufsätze);
ihr erster Redakteur war Müller (s. J 17).
Bald nach Eröfihung der Moskauer Universität (1755) wurden |,Die Moskauer
Nachrichten'^ herausgegeben, die eine Zeitlang, von 1779 ab, durch Nowikov sehr
großes Ansehen erlangten.
Die erste Privatzeituog war „Die Arbeitsbiene*', 1759 von Ssumarokor heraus-
gegeben. Auch an dieser Var Müller Redakteur. Sie brachte hauptsächlich Ssuma-
rokoTs eigene Arbeiten u. ging bald an dieser Einseitigkeit zugrunde.
Das erste wissenschaftlich Uterarische Journal war „Monatliche Aufsätze, zum
Nutzen und zur Erholung dienend '', gleichfalls von Müller 1755 — 1764 herausgegeben.
Mit Karamsin werden Zeitungen u. Zeitschriften allgemeiner. Bald nach seiner
Rückkehr von der großen Reise gibt er „Das Moskauer Journal'' heraus, das auch
seine „Briefe^' bringt. Außer dem „Moskauer Journal" mit literarischem Inhalt
gründet er den auch Politik umfassenden „Boten Europas"; der „Bote" brachte
viel westliche Literatur. Ferner gründete er „Die Aglaja", „ Die Aonid3rj ^', „Das
Pantheon ".
Bedeutenden Ruf genoß der 1808 von Glinka herausgegebene nationalistische
„Russische Bote", der besonders scharf gegen Napoleon Stellung nahm.
In der Folgezeit heben sich heraus: „Der Beobachter im Norden"; Krylovs
„Geisterpost", sein „Beobachter", sein „Petersburger Merkur"; „Der Sohn des
Vaterlands ^S »I^ic Nordische. Post". Eine Flut von Zeitschriften erzeugte die Ro-
mantik, eine Flut, die sich immer mehr gesteigert hat. Auf die wichtigsten ist vorn
an geeigneter Stelle hingewiesen.
Die wichtigsten Zeitschriften unmittelbar vor unserm Kriege waren: „Vestnik
Evropy", „Russkaja Mysl'", „Russkoe Bogatstvo", — die wichtigsten Zeitungen:
„Novoe Vremja", „Russkoe Znamja", „Sv^t", „Russkoe Slovo", „R§d'".
28) Pekarskij, „Nauka i literatura pri Petre Velikom". (Vvedenie v istoriju
prosve^öenija v Rossii XVIII stolelija). Peterbg. 1862.
Zum fünften Kapitel
29) £. Friedrichs, „Shakespeare in Rußland" in Englische Studien 19 16.
30) V. J. Rezanov, „Famjatniki russkoj dramatiÖeskoj liter. bkol'nyja dÖjstva
XVn-— XVni w." NSzin 1903. — V. J. Rezanov, „Iz istorii russkoj dramy.
äkol'nyja dejstva XVn — XVm w.'^ Moskva 1910. — S. K. Bogojavlenskij ,
„Moskovskij teatr pri carjach Aleksee i Petre." Moskva 19 14.
31) E. Friedrichs, „Shakespeare in Rußland" in Englische Studien, 1916.
Zum sechsten Kapitel
32) „ Soöinenija M. V. Lomonosova s oBjasniternymi primeÖanijami . . M. L.
Suchomlinova." Izdanie Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 1891. — „ Lomonosovskij Sbor-
nik." Izdanie Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 191 1. — „Lomonosovskij Sbornik".
Sostavlen pod red. N. A. Golubcova. (Archangel'skij gubernskij statistiöeskij Komitet.)
Archangel'sk 1911. — Sipovskij, „Liter, dejatelnost' Lomonosova" in Zumal Minist.
Narod. ProsvSäö. 191 1.
33) Sobolevskij, „Lomonosov v istorii russkago jazyka" in Zurnal Minist.
Narod. Prosvg§ö> 1912. — Karski j, „Znaöenie Lomonosova v razvitii russkago
liter. jazyka" in Russk. Filol. Vgstnik 191 2.
34) Rezanov, „Tragedii Lomonosova" in „Lomonosovskij Sbornik". Izdanie
Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 191 1. — MoÖnTskij, „Lomonosov kak dramaturg"
in Russk. Filol. Vestnik. 191 1.
-^
142 Anhang
35) T. M. Glagoleva, ,,K literatore istorii satir knjazja A. D« Kantemira.
Vlijanie Boilean i Labruyfere". Peterbg. 191 3.
Zum siebenten Kapitel
36) ,, Sodinenija Imperatricy £kateriny ü*' na osnovanii podlinnycb rnkopisej i
s ob'jasnitel'pymi primecanijami akademika A. N. Fypina. Peterbg. 1900.
„ Memoiren der Kaiserin Katharina ü." Nach den von der Kaiserl. mss. Akad.
der Wissenschaften veröffentlichten Manuskripten übers, und hg. yon Erich Boehme.
Leipzig 1913.
37) E. Friedrichs, „Shakespeare in Rnfiland** in den Englischen Stadien
1916.
Zum achten Kapitel
38) £. Friedrichs, „Geschichte der einstigen Manrerei in Rufiland/' Berlin
1904.
39) Freimaurer nicht in dem strengen Sinn; er war Rosenkreuzer.
40) Nowikov ist der Vater der rassischen Literaturgeschichte. Über einzelne
Zweige der Literatur haben auch andere, z. B. Djershawin (über die l3n*ische Poesie)
Betrachtungen angestellt. Graf Massin-Puschkin hat eine Zusammenstellung der alten
Handschriften u. gedruckten Bücher gegeben ; diese Sammlung wurde jedoch beim
Moskauer Brand vernichtet. Die literarische Tätigkeit von Anfang des Buchdrucks
bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts behandelte Bischof Damaskin in seiner „Ras-
sischen Bibliothek". Nowikov brachte zum erstenmal in seinem „Dramatischen
Wörterbuch" (1787) die russische Literatur des 18. Jahrhunderts mit biographischen
Daten.
41) „Polnoe sobranie socineoij A. N. RadiSceva". Pod red. S. N. Grojniskago.
Peterbg. 1907. — Suchomlinov, „Izsledovanija i stati po rnsskoj liter. i pro-
sveSceniju". Peterbg. 1889.
42) Radischtschev n. Schtscherbatov sind^ zusammen hg. von Iskander (Herzen) :
„O povrezdenii nravov v Rossii knjazja M. Sderbatova i pnteSestvii A. Radiäöeva".
London 1858.
43) „ So^inenija Derzavina " s ob'jasniteVnymi primecanijami Ja. Grota. Peterbg.
1864 ff. »y Socinenija Derzavina" s ob'jasnitel'nymi primecanijami. Peterbg. 1895 (Mertc).
44) In Djershawins Gedicht „Das Haus der Dobrada" sind die Verse „Wachse,
wachse, blühender Baum Mit der goldenen Früchtekrone, Den wir aus der fremden
Zone Pflanzen in dem heimischen Raum ", eine Übersetzung aus dem Deutschen, und
Grot stellt sie als eine Nacharbeitung von Ramlers „Fest des Daphnis" hin; sie sind
der Anfang von Schillers lyrischem Spiel „Huldigung der Künste".
45) E. Friedrichs, „Ein imbeachteter Herodes-Dichter. Djershawin." in den
Neueren Sprachen, 1916.
46) Kotzebue hat bald nach dem Erscheinen Djershawin übersetzt. „ Gedichte.
Aus dem Russischen übertragen." Leipzig 1793. — „Felizens Bild", Reval 1792.
Zum neunten Kapitel
47) M .N. Rosanov, „Jakob M. R. Lenz, der Dichter der Sturm- u. Drang-
periode '^ Leipzig 1909 (Übersetzung aus dem Russischen).
48) Pisma russkago putegestvennika ", Moskva 1797 — 1801 wurden sofort ins
Deutsche übersetzt von Joh. Richter, Leipzig 1799 — 1802. — Sipovskij „Karamsin
Anmerkungen 143-
a¥tor pisem r. puteS/* (Zapiski istoriko-filol. fakulteta Feterb. Universiteta) Peterbg.
1899.
49) Friedrich Hirth in der N. Zürcher Zeitung. 19 19. Nr. 431. — Huga
Handwerck in der Frankfurter Zeitung 19 19. 218.
50) Mit Karamsins „Geschichte" beginnt eigentlich die Slawophilie. Gegen
sie nahm die „skeptische*^ Schule unter Leitung des Moskauer Universitäts-
professors Katschenowskij Stellung (Katschenowskij war von 1805 ab auch Heraus-
geber des „Europäischen Boten*'), unterstützt vom Grafen Rumjanzov und von
N. A. Polevoj (letzterer schrieb zu diesem Zweck seine „ Geschichte des russischen
Volkes << 1828 — 1833)^ mit starker Hinneigung zu den Deutschen. „Die Zivilisation
ist hauptsächlich durch die Deutschen über Nowgorod, Pskov u. Ssmolensk gekommen '^
Hiermit kommt zugleich in Fluß die bis dahin von nur sehr wenigen gemachte Beob-
achtung von der Verwandtschaft der Russen mit den Slawen und von der Verwandt-
schaft der Slawen mit den anderen europäischen Völkern. Sehr Bedeutendes hat auf
diesem Gebiete der Professor der slawischen Philologie Schafarik geleistet (er war
auf deutscher Universität vorgebildet, hat gut „Maria Stuart'* übersetzt; -j* 1861 in
Prag). Angeschnitten war die Frage von der Zusammengehörigkeit der slawischen
Stämme schon wiederholt vorher — zuerst vom Kroaten Krishanitsch (geb. 161 7,
t P), der vor allem die Vereinigung der Slawen zum Kampfe gegen die Türken will;
dann von Peter dem Grofien, auf dessen Veranlassung Leibniz seine Schrift „Ober
den Ursprung der Slawen" verfaßt hat, auch von Katharina II. Aber richtig aktuell
wurde die Behandlung der Frage erst nach Karamsins Werk.
Zum zehnten Kapitel
51) V. V. Sipovskij, „Iz istorii russkago romana i povesti". (Materialy po
bibliogrsifii, istorii i teorii russkago romana>. Peterbg. 1903. — V. V. Sipovskij,.
„Oderki iz istorii russkago romana". T. L 1909; T. IL 19 10. Peterbg. — A. N.
Pypin, „Dlja Ijubitelej kniznoj stariny**. Moskva 1888. ^— Pekarskij, „Nauka i
literatura v Rossii pri Petre Velikom". Peterbg. 1862.
52) „Die arme Lisa'* u. „Marfa^' sind bei Reclam erschienen.
53) „Polnoe sobranie soöinenijKrylova". Ped. V. V. Kallasa. Peterbg. 1904/5.
Die Fabeln dind häufiger ins Deutsche übers., u. a. von Ferd. Löwe. Leipzig
1874.
Zum elften Kapitel
54) Zamotin, „ Romantiöeskij idealism v russkom obS^estvS i liter. 20 — 30 cb
godovXDCst'^ Peterbg. 1908. — Zamotin, „Romantism dvadcatych godov XIX st.
v russk. liter.«* Vtoroe izd. Peterbg. i Moskva. T. L 191 1; T. II. 19 13. — Vese-
lovskij, „Zapadnoe vlijanie v novoj russkoj liter." Öetvert. dopoln. izd. Moskva
1910.
55) Kozmin, „N. J. Nadezdin. Zizn i nauöno-literat. dejaternost* ". Peterbg.
1912. ^
56) De origine, natura et fatis poeseos, quae Romantica audit. 1830.
57) „Polnoe sobranie soöinenij V. A. Zukovskago ". Pod red. Archangelskago.
Peterbg. 1902 ff. — „Polnoe sobranie soöinenij". Pod red. P. H. Krasnova. Peterbg.
i Moskva 1909. — V. J. Rgzanov, „Iz razyskanij o sodinenijach V. A. Zukovskago'^
in Zumal Minist. Narod. Prosv^ö. I9I3-
58) Durch alle russ. Literaturgeschichten geht der Fehler, daß Seidlitz genannt
wird; es ist Zedlitz' „Nächtliche Heerschau" gemeint.
144 Anhang
59) Er hiefi eigentlich nicht Shokowskij. Der Gutsbesitzer Shakowskij (im Gout.
Tola) heiratete eine türkische Kriegsgefangene und adoptierte ihr Kind.
60) Übersetzt von seinem Freund Justinus Kemer, Stuttgart 1852.
61) P. N. Sakulin, „Iz istorii russkago idealisma. KnjajS Odoevskij^^ Moskva
1913.
Zum zwölften Kapitel
62) Kotljarevskij, „ Literatumyja napraylenija Aleksandrovskoj epochi*^
Biblioteka „Svgtoßa". Peterbg. 1907.
63) Seit Anfang des Jahrhunderts bilden sich Gesellschaften, offizielle wie
private, zur Pflege der Sprache und der Literatur. Den Reigen eröffnet die „Russische
Akademie'', deren größtes Verdienst das erste „Wörterbuch der russischen Sprache"
ist. Der Hauptanteil an diesem Werk fallt auf ihren Vorsitzenden, den äußerst tätigen,
aber stark einseitigen Admiral Schischkov. Schiscbkov war auch der Vorsitzende der
„Gesellschaft (Bes^a) der Liebhaber des russischen Worts*' (1811 — 18 16); diese
Gesellschaft war halbofflziell. Die erste private Literaturgesellschaft war die 1801
^egrilndete „Freie Gesellschaft der Liebhaber der russischen Literatur''. Sie
gab die Zeitschrift „ Sorevsovatel' ^' heraus, hatte auch gemeinnützige Ziele ^m
Auge, z. B. die Unterstützung armer Gelehrter. Mit Betonung' ihres Gegensatzes
zur „Russischen Akademie" wurde 18 10 von der Moskauer Universität „Die Gesell-
schaft der Liebhaber der russischen Literatur " gegründet, und mit demselben Ziel bil-
dete sich 181 5 der Spaßvogel, der „Arsamaß". Von nun ab erscheinen literar. Gesell-
schaften häufig.
Zum dreizehnten Kapitel
64) Die Literatur über Puschkin ist ins Ungeheure gewachsen. Wichtiges:
„ Sodinenija Puskina", izdanie Imp. Akad. Nauk pod red. Saimova. Peterbg. 1906 ff. —
„Pu§Kinist". Istoriko-liter. sbomik pod red. A. S. Vengerova. Peterbg. 19 14. —r
„Russkaja kritiieskaja literatura o proizvedenijach A. S. Puäkina". Sobral V. Ze-
linskij. Moskva 1911. — Lerner, „Trudy i dni Pugkina'^ Vtor,, ispravl. izd.
Imp. Akad. Nauk. Peterbg. 19 10. — V. V. Sipovskij, „Puäkinskaja jubilejnaja
liter." Kritiko-bibliograf. obzor. Peterbg. 1901 (bringt auf 272 Seiten alles bis 1901
über ihn Geschriebene, außer dem, was in Tagesblättem u. Wochenschriften gestan-
den hatte).
65) N. KaSin, „Prijatel' Puskina (Prototip Onegina)" in Russk. FUol. Vestnik
1914.
66) M. Pokrowskij, „Puschkin u. Shakespeare", Berlin 1907.
67) Puschkins Werke sind häufiger ins Deutsche übersetzt. Manches ist bei
Reclam erschienen. Einige Dichtungen kamen schon 1840 heraus. Unter den Über-
setzungen ragt die von Fr. Bodenstedt „Poetische Werke", Berlin 1854/55 hervor.
68) „ Zapres$enn3^*a stichotvorenija PuSkina i Lermontova" sind erschienen
Berlin 1903 (Steinitz).
Zum vierzehnten Kapitel
69) „Polnoe sobranie soÖinenij M. Ju. Lermontova" pod red. D. J. Abramoviöa.
Izd. razrjada izjaSönoj slovesn. Imper. Akad. Nauk. (Akademiöeskaja biblioteka r.
pisatelej). Peterbg. 1910 — 1913. — L. Semenov, „Lermontov i Lev Tolstoj". K
«tol^tiju so doja rozdenija Lermontova. Moskva 191 4. — Duchesne „M. J. Ler-
montov, sa vie et ses oeuvres", Paris 19 10.
Anmerkangen
145
70) Lermontovs „ Korsar'' verrät weniger Bjrons „Korsar'* als yielmehr den
„Gefangenen Ton Chillon**, s. E. Friedrichs^ „Lermontov n. Byron'* in Germa-
nisch-Romanbcher Monatsschrift 1915*
71) „Lermontoir n. Byron'* in •Germanisch -Romanischer Monatsschrift 191 5
(s. Anm. 70).
72) B. Friedrichs, „Ein rassischer Dichter als .Schüler n. Herold deutscher
Dichtung** in Breslauer Ztg., 2. Oktober 1914.
73) F r. B o d e n s t e d t , „ Poetischer Nachlafl Lermontovs **, Berlin 1853. Manches
ist bei Redam erschienen.
74) Lermontovs „Verbotene Gedichte** s. Anm. 68.
Zum fünfzehnten Kapitel
75) „PnSkin i ego sovremenniki**. Materialy i izsl^dovanija. Povrem. izd.
komissii dlja izd. soöinen. Pnäkina pri Otdel. mssk. jazyka i slovesn. Imper. Akad.
Naak. Peterbg. 1 908 ff. — Es gehört noch mancher andere hierher :S. N. Brailovskij,
„K voprosy o PoSkinskoj plejadg: Arkadij Gavriloviö Rodzjanko** (1793 — 1850) in
Rassk. Filol. Vöstnik 19 14. — S. N. Brailovskij, „K voprosy o PoSkinskoj plejadS:
Orest M. Somov** in V^stnik Evropy 1909.
7(t) „Polnoe sobranie soSinenij A. S. Griboedova.** Pod red. N. K. Piksanova
i J. A. äljapkina. Izd. razr. izjaSön. slovesn. Imper. Akad. Nank, Peterbg. 191 1 ff.
77) „Gore ot nma. Komedija**. Teksty zandrovskoj rnkopisL Red., wedenie
i primiÖanija N. K. Piksanova. Moskva 191 2. — Die erste deutsche Übersetzung
von Ktaorring, Reval 1831.
78) „Polnoe sobranie so^nenij A. V. KoFcova.** Pod red. LjaSöenka. Iz razr.
izjaSön. slovesn. Imper. Akad. Nauk. (Akademiieskaja biblioteka russk. pisatelej.)
Peterbg. 191 1. — „ A. V. Kol'cov, ego zizö i soiin.** Sbomik istor.-liter. statej. Sostavil
V. J. Pokrovskij. Moskva 1914. — P. Schalfejew, „Die volkstümliche Dichtung
Kolzovs n. die rusa, Volkslyrik**- Berlin 19 10. — Übersetzung seiner Gedichte bei
Reclam.
Zum sechzehnten Kapitel
79) „Polnoe sobranie soöin. N. V. Gogolja.** Pod red. P. V. Bykova. Peterbg.
i Moskva 1908. — Zabolotovskij, „ Gogolevskij mnzej pri Istor.-filolog. Institute
kn. Bezborodko v Nö2in5. Nezin 191 2. — Zelinskij, „Russk. kritiö. liter. o
proizvedenijach N. V. Gogolja.** Chronologiöeskij sbornik kritik.-bibliograf. statej.
Moskva 1903 — 1910. — KallaS, „Gogol' v vospominanijach sovremennikov i pere-
piske.** Moskva 1909.. — V. F. Pereverzev, „Tvoröestvo Gogolja**, Moskva
191 4. — Die meisten seiner Werke sind mehrfach ins Deutsche übersetzt; s. vor
aUen „Nik. Gogol. Sämtliche Werke**. In 8 Bänden hg. von Otto Buek. München
u. Leipzig 1909.
80) Gogol hat in der Beschreibung von Klein-Rufiland nicht unbedeutende Vor-
gänger. Als Schöpfer der kleinrussischen Nationalliteratnr istKotlarewskij (1769
zu Poltawa geb. n. dort 1838 f) anzusehen. Sein bedeutendstes Werk ist eine hu-
morsprühende Travestie von Vergils „Äneis** (1798), mit der er die heruntergekom-
menen Kasaken durch schonungslose Züchtigung ihrer Iboralischen Fehler wieder zum
alten Heldentum aufrütteln wollte. Auch andere Dichtungen, z. B. sein dramatisches
Sittenbild „Natalie von Poltawa** (18 19) zeigen recht hübsch kleinmssische Sitten n.
Eigenheiten. Ebenso schildert Nareshnyj im Roman wahrheitsgetreu u. mit Humor
Friedrichs, Russische Litentorfeschichte
10
I «
146 Anhang
die Ukraine, das Land sowohl wie die Bewohner, besonders die alten Edelleate, dann
aber ancfa die Banem mit ihrer Streit- n. Proseflsncht („Die beiden Iwans", 182$),
n. ausgezeichnet das Leben n. Treiben in der Bnrssa, d. h. im Priesterseminar („Der
Biirssak'% 1834). Sein bestes, sehr satirisches Bach „Der mssische Gil Blas'^ (1814)
kam ganz überhaupt nicht an die Öffentlichkeit; die erste Hälfte wurde verboten, q,
damit war die zweite auch erledigt.
81) Jagitsch, „Gogols Sajet für den Rerisor*' im Archiv für slav. Phil»
1914.
82) Fypin, „Die Bedeatnng Gogols für die heutige Stellung in der russ. Li*
teratur'*. Archiv für slav. PhiloL 1903.
83) „Polnoe sobr. so6. V. G. BSinskago*^ Pod ped. Vengerova. Peterbg.
iQioff. — „B$linskij. Pls'ma*^ Tri toma. Red. E. A. Ljackago. Peterbg. 1914. —
Kogan, „Bölinskij i ego vremja'^, Moskva 191 1.
84) „SoÜnenija P. N. Polevogo" pod red. P. V. Bykova. Peterbg. 191 3.
85) „Soöinenija A. J. Gercena" v 7 tomach. Izd. Jakovenko. Peterbg. 1905. —
„Gercen pisatel'**. Ocerki A. Veselovskago. Moskva 1909. — „Gercen pnblicist^'.
Izbr. stranicy so vstupitel'noj statej i ob'jasnenijami L. S. Kozlovskagp. Peterbg. 19 14.
86) „Rannie slavjanofilj A. S. Chomjakov, J. B. Kireevskij, K. S. i J. S. Ak*
sakovy.^ Sostavil N. L. Brodski j. (Istor.-liter. bibliot. Pod red. A. E. Gmsinskago).
Moskva 19 10.
Zum siebzehnten Kapitel
88) „Polnoe sobr. soc. J. S. Tnrgeneva<< v 12 tomach. Peterbg. 1898 (Pri*
lozenie k inmaln „Niva''). Alle Werke sind ins Deutsche übersetzt, die meisten
auch bei Reclam erschienen.
89) Danilov, „K pjatidesjatilStiju Otcov i dgtej^^ in Rnssk. Filol. V^stnik 19 12.
90) Im Nacfalafl von Frau Viardot hat sich das Manuskript eines nnveröfient«
lichten Romans von Turgenjev „Das Leben für die Kunst'' gefunden; auch noch „Ge-
dichte in Prosa*^ (Lit Echo 1920^ Heft 17.)
91) „Pisma J. S. Tnrgeneva k ego nemeckim druzjam" in V^stnik Evropy. 1909.
92) „Gon$arov. Polnoe sobr. soÖ." Izd. Glazunova. 3-e izd. Peterbg. 1899. —
„Polnoe sobr. solS.** v 12 tomach. Izd. Marksa. Peterbg. 1899. — Andr^ Mazon,
„Un maltre du roman russe J. Gontscharov." Paris 1914. — „Iwan Gontscharow.
Gesammelte Werke". Berlin 1909 (Cassirer).
Zum achtzehnten Kapitel
93) Zamotin, „Sorokovye i Sestidesjatye gody*'. Oierki po istorii russk.
liter. XIX st. Varsava 191 1.
94) „Polnoe sobr. soö. M. E. Saltykova (S^edrina)«. T. I — XH. Peterbg.
1900 — 1911 (Marks). *— Die Hauptwerke sind deutsch, u. auch russisch, bei Steinitz,
Berlin erschienen.
95) Neu aufgefunden im Archiv durch M. M. Stasjuleviö, „Neizdannyja
proizvedenija M. E. Saltykova* in Vestnik Evropy 19 14 (TcxUbweichungen zu Gos-
poda TaSkeotcy).
96) „Polnoe sobr. sof. N. G. Ccrnyäcvskago " v 10 tomach. Izd. M. N. Öer^
nysevskago. Peterbg. 1906* — Plechanov, „N. G. ÖernySevskij ", Peterbg. 1910.
Anmerkangen ja*?
97) „Poln. sobr. stichotvorenij N. A. Nekrasora'^ v 2 tomach. Peterbg. 1909
(Savorin).
d8) Seine „ Gedichte << a. „Wer lebt glücklich?" deutsch bei Reclam.
99) yyPoln. sobr. soö. J. S. Nikitina ^* pod red. M. O. Geräenzona. Moskra
100} N. V. Driceq, „Materialy k istorii nuskago teatra", Moskva 191 3. —
E. P. Ton Berg, „Rnsskaja komedija do pojavlenija A. N. OstrOTskago *< in Rnask.
Filol. V^stnik 1911 a. 1912. — J. Patonillet, „Le tb^Atre de moenrs rnsses des
origines a Ostrowskij", Paris 191 2.
101) „Tolnoe aobr. soö. A. N. Ostrovskago " pod red. M. J. Pisareya 1 P. J.
Vejnberga. T. I—XlI. Peterbg 1908— 1909. — N. KaSin, „Etjudy ob Ostiov-
skom'*, Moskva 1912. — N. Kagin, „ Dramatideskaja chronika OstroTskago ** in
Zurnal Minist. Narod. ProsvöSd. 19 10 (behandelt seine Quellen).
102) N. KaSin, „Vasilisa Melenteva". Eja istoöniki i ocSnka sovr. kritikoj in
Zarnal Minist. Narod. Prosvgfiö. 19 13.
103) Deutsch von Gaenther, Berlin 191 1.
104) „Pol. sobr. soö. grafa A. K. Tolstogo". T. I— IV. Peterbg. 1893 (Stas-
joleviö). — Seine. Gedichte, Zar Feodor, Tod Iwans sind ins Deutsche übers., auch
bei Reclam erschienen.
Zum neunzehnten Kapitel
105) „Poln. sobr. soö. F. M. Dostoevskago«'. Peterbg. 1894— 1895 (Pnlo^enie
k znmaln „Niva<^). — V. A. Zelinskij, „ Kritiöeskij kommentarij k soöinenijam
F. M. Dostoevskago "» Sbornik krit. statej. Moskva 1907. — L. SestOY, „ Dostoevsldj i
Nietsche. Filosofija tragedii<<. Izd. vtoroe. Peterbg. 1909. — J. J. Zamjatin,
„Dostoevskij y russk. kritike'*. Varsava 191 3. — Fast aUe Werke sind ins Deutsche
übers., auch bei Reclam erschienen.
Zum zwanzigsten Kapitel
106) Nur Einzelausgaben. — V. A. Zelinskij, „Russk. kritiö. liter. o prois-
vedenijach L. N Tolstogo". Chronologiöeskij sbornik krit.*bibliogr. statej. Moskva
191 2. — „Tolstovskij Muzej'^ Perepiska s gr. A. A. Tobtoj, s N. N. Strachovym.
Peterbg. 191 1. — „Tolstovskij ezegodnik'*, Peterbg. 191 3 ff. — „ Posmet tnyja chn-
dozestvennyja proizvedenija^', Berlin (Ladyscknikov). — Karl NÖtzel, „Tolstojs
Meisterjahre''. München, Leipzig 191 8. — KarlNötzel, „Das heutige Rufiland".
Eine Einführung in das heutige Rufiland an der Hand von Tolstojs Leben und Werken.
München, Leipzig 1914. — H. Halm, „Wechselbeziehungen zwischen L. N. Tolstoj
u. der deutschen Literatur'* im Archiv für slav. Phil. 19 14. — Fast alle Schriften
sind ins Deutsche übersetzt. „ Sämtliche Werke *' hg. von Raphael Löwenfeld, Leipzig
(Diederichs). — Eine Tolstoj-Enzyklopädie (russ.) in ungefähr 20 Bänden wurde be-
absichtigt.
Zum einundzwanzigsten Kapitel
107) Klimentov, „Romantism i dekadenstvo ". Odessa 1914.
108) Tasteven, „Faturism", Moskva 1914. — SemSnrin, „Fnturism v
Stichach V. Brjusova". Moskva 191 3.
10*
148 Anhang
Zum Studium:
„ Die ostearopäischen Literaturen u. die slaviscfaen Sprachen ", hg. Ton A. Bes-
zenberger, A. Brückner, Y. ▼. Jagiö usw. Berlin, Leipzig 1908 (in „Knltar der
Gegenwart*', Teil I, Abteiig. IX).
Vondrak, „AUkirchenslaTische Grammatik*'. Berlin 1912. — Leskten,
„Handbuch der altbnlgarischen (altkirchenslaTischen) Sprache". Grammatik. Texte.
Weimar 1905.
Friedrichs „Kurzgefaßte systematische Grammatik der russischen Sprache für
den Schulunterricht n. zum Selbststudium*'. Berlin 1914. — Dazu „Übungsbuch zum
Obersetzen ins Russische". Berlin 19 19. — Zur Konversation: Friedrichs, „Rus-
sischer Sprachliihrer. Kurzer Lehrgang der Umgangs- u. Geschäftssprache". Leipzig
1920.
Brückner, „Geschichte der russischen Literatur". Leipzig ^909. — Oysja-
niko-KulikoTskij, ^,Istorija russk. liter. XDC y." Moskwa I9«9ff. (5 Bände).
Lenström,,, Russisch-deutsches n. deutsch-russ. Wörterbuch **, Sondershausen. —
Pawlowskij, „Russisch-deutsdies n. deutsch-russ. Wörterbuch". Leipzig 191 8. —
Langenscheidts Taschenwörterbücher: „Russisch" von Karl Blattner. Berlin 19 10. —
„TolkoTyj sloTaf zivogo Telikorusskago jazyka VI. Dalja. Trete izd. pod red. J. A.
Boduena-de-Kurtene. Peterbg. i Moskva 1903 — 1904 (4 Bände). — „Slovaf russk.
jazyka" sostav. Vtorym OtdgL Imp. Akad. Nauk. Peterbg. i89ifif.
Konversationslexikon: Brockhans-Efron, 191 2 ff.
Verzeiclmis der literarischen Persönlichkeiten
AblessimoT 51
Ackermann 35
Adrian 18
Alsman 136
Alcssäkov(s) sr. 80—81
Albov 119
Alfieri 95
^ndr^jev 129. 130
AonjeQkoT 99
Apüchtin 124
Archenholz 47
Ariost 61
(Arsamlss 60. 62. 70. 144)
Anjbischew 134. 135
Awdj^jer 102
Awjirkijer 106
Ayrer 22, 23
BacmeUter 33
Bakdoin 78. 79
Bilmont 126. 132
Balzac 55. 100. 109
Baranz^ witsch 119
Baratj^nskij 70. 72
Basedow 33. 34
Bitjoschkov 70
Bayer 26. 31. 33
Bcccaria 34
Besser 42
Bjel1nskij57.73.76.77— 78.
89. 91. 94. 99. 109
Bjelyj 133
Bje8Hishev(MarliDskij) 57. 58
Blanc, Louis 126
Bobor^fkin 125
Bodenstedt 70. 84
Bodmer 46
Bogdanöwitsch 38
Boileaa 3t. 32
Brann 26
Breitiager 3$
BijüssoY 132. 133
Bohle 71
Balgärin 77. 78
Btfnin 136
Bürger 56. 57
Bnrj^nin 125. 134
Byron 54. 55. 57. 58. 60.
62. 63. 64. 66. 67. 68.
70. 73. 91. 95. 108
Canitz 42
Carlyle 100
Chamisso 73
Chemnizer 36. 38 — 40
Ch^nier 55. 63
Chjerässkov 37. 38. 49
ChiDJelnfzkij 71
ChomjakÖT 80
Chwoschtschlnskaja 100. 103
Coleridge 55
Corneille, P. 25. 46. 52. 109
Corneille, Th. 33
Crailsheim 23
Danil^wskij 105
Dante 107
Däschkowa 36. 37. 39. 40.
41. 103
Daudet 84
Daw^do¥ 73. 77
D61wig 70. 72
Dickens 74. 92
Diderot 32. 33
Djershäwin 35. 36. 40 — 44.
51. 60
Dmftrijev 39. 51
Dmitrijewa 135
Dobroljübov 89. 90
(Domoströj 15. 102)
Dostojewski] 74. 78. 85.
87. 91. 109-111. 126.
130
Dmshinin 85. 09—100. 102
Dncis 52
D^moT 135
Em£n 43. 49. 50
Ertel 123
Eschenbnrg 33
Euler 26. 33. 36
F^nelon 41. 49
Fet 107. 108
Fichte 77. 78. 79
Flanbert 84
FöfanOT 131
Fonwfsin 9^ 45
Friebe 33
Friedrich der Grode 34. 39.
41
Fmg 124
Fürst 24
Gadebnsch 33
Garcia-Viardot 83
Gärin 136
Gärschin 118
Geliert 25. 38. 39. 40. 4«.
43 44. 45. 49. 53
Gerbel 108
Gerhard 33
Gessner 42. 46. 49
Glinka 73
GnjddiUch 51. 52. 71
Goethe 40. 43. 44.46. 47.
49.50. 51. 54.55.56.58.
63. 64. 66. 67. 68. 70.
71. 72. 73. 74. 80. 104.
107. 108. 109. 126
G6gol 74—70. 78. 81. 83.
85. 87. 89. 96. 99. 126
Goldsmith 57
Golenischtscbev-KnttisoT 125
Golizyn 120
Golowin 102
ISO
Verzeichnis der literaritchen Persönlichkeiten
(aoncourt 84
GontscharöT 78. 81. 8S— S6.
89 los. 116
Görldj 64. 74.92. 127—128.
129. 132
Gottsched 24. 25. 27. 28.
«9. 30. 45
Gregori 22. 23
Gretsch 77. 79
Grey 56
Griboj^ov 70. 71
Grigörfer loo
Grigoröwiuch 91. 116
Grimm 32. 33
Grotios 20
Grjphiiis 23
Gttnther 28. 29
Güssjev 121
Gutzkow 108
Hsgedom 40. 41. 42. 43
HaUer 40. 41. 42. 46. 49
Hauptmann 125
Hebbel 95
Hegel 77. 78. 79. 126
Heine 95. 107. 108. 109
Heinse 47
Herder 39. 41. 43. 46. 49.
55. 56. 74
Herwegh 95
Herzen 77.78—79. 95. 102.
HO.
Heyse 84
Hilferding 2$
Hippins 135
Hoflfmann, E. T. A. 54. 55.
74. 109
Holberg 25
Hnch 55
Hogo 54. 55, 58. 71. 109.
III
Haygens 20
lassfoskij 119
las^koT 70. 7s. 80
lawörskij 21
Ibsen 85
lelpatj^wskij 121
Iffland 47
(Igor 6)
(Isbörniki 9)
Iskänder s. Herzen
Jang-Stüling 36
Itfschkjewitsch 136
Iwibi IV. 15. 31
Kant 46. 60. 79
Kantjem(r 31—32. 39. 43
Kapofst 37
Karamsin 28. 31. 35. 37.
40, 41. 44-50. 51. 52.
. 53. 57. 65. 80
Kar^tygin 96
Katjenfü 71
Katharinall. 32. 33. 41. 103
KatkÖT 81. 99
Katschenöwskij 143
Kemer 56. 58
Kiröjewskij 81
Kleist 40. 41. 46
Klinger 60
Klopstock 39. 40. 41. 42.
44. 46
Kljiischnikoy 100
Kltfschin $0
Knjashnin 37. 51. 52
Kokoschkin 71
Kolzöv 73. 95
KomarÖT 49
König 42
Konstantin Konstantinowitsch
136
Korol^nko 117. 122
KoslöT 73
KoslöT, P. A. 125
Kostomärov 194—105. 107
Koüar^wskij 145
Kotoschichin 140
KoUebne 36.47. 51. 52. 71
Kraschenninikov 137
Krestöwskij 100. loi. 135
Krestöwskij, Ws. s. Chwo-
schtschinskaja
Krishanitsch 143
KrylÖT 39 51. 53
Krylör, V. 99
KOkolnik 59. 98
Kanst 23. 24
Ktfprin 135.
Kürbskij 15
Kasmfn 135
Kntüsov 35. 40
Labmy^re 31
Libsin 35
Lafontaine 32. 38. 43. 51. 53
Laroche 49
Lash6tschnikOT 59
Lavater 46. 48
Leibniz 19. 20. 26. 39
L^jkin loi
Lenaa 95. 109
Lenz 45. 49
L^rmonto? 54. 58. 60. 81 —
70. 79. 8ar. 86. 95. 117.
126
I^sage 49
Lessing 25. 26. 46. 47. 54.
66.67. 68.69. 71. 89. 99
Lesköv loi
LewitOY 93
Lfgarid 17
Lipsius 20
Locke 34. 39
Lohenstein 23
Lomonösov 27—30. 31. 33.
37—45. 51. 52
Longfellow 109. 136
Lopachin 35
Lwov 36. 43 50.
Maeterlinck 131
MäjkoT, V. I. 39
MdjkoT, A. N. 107
Mämin (Ssibirjäk) 123
Mann 98
Mann, Joh. Hinrich 24
Märkov 102
Marko witsch 103. X04
Mart^nov 96
Massäbkij 59
Matschtjet 120
Matthisson 70
Manpassant 84
Maxim Grek 14. 16
Meiners 60
Mej 106
Mendelssohn 39
Menzel 84
MichäiloT, A. 92
Michäilov, M. P. 109
Michailöwskij 126
Milton 37. 46
Mlnskij 131
MjelnikÖT lOi. 102
Mjereshköwskij 131.132135
Moli^re 22. 23. 25. 42. 96
Montesquiea 31. 34
Moore 55. 58